We Need to Talk About Kevin (2011)
Wir müssen über Kevin reden (2011)mit Spoiler
WHOW! Vorgestern Nacht im TV drüber gestolpert und immer noch ein Knoten im Magen (und Hirn):
We Need to Talk about Kevin (Wir müssen über Kevin reden): in Cannes 2011vorgestellt, mit einer unfaßbar (UNFUCKINGFASSBAR!) überragenden Tilda Swinton in der Hauptrolle.
Regie und Script von Lynne Ramsay, zunächst unter (später eingestellter) Mitarbeit von Lionel Shriver, dem Autor des gleichnamigen Buches.
Plot: Ehepaar Eva (Tilda Swinton) und Frank (John C. Reilly) leben in augenscheinlich wohlgeordneten Verhältnissen mit dem Erstgeborenen Kevin und der jüngeren Tochter Celia ein normales upper middle class Leben. Kurz vor seinem 16. Geburtstag richtet Kevin in seiner Schule ein von langer Hand geplantes Massaker an und tötet mit Pfeil und Bogen zig Menschen, darunter auch vorher im heimischen Garten seinen Vater und seine Schwester. Eva (über)lebt, geächtet, ausgegrenzt, soweit man das überhaupt noch Leben nennen mag.
Das alleine würde schon reichen, um daraus einen Psychothriller zu machen mit beeindruckendem suspense-Bogen oder ein mit fiktionalen Elementen angereichertes Doku-Drama auf der Suche nach der Antwort auf die Frage "wie wird ein Mensch zum "mordenden Monster"? Wie konnte das passieren und wer trägt die Schuld?
Nichts davon tut dieser Film. Stattdessen zeigt er in ruhigen, lange verweilenden Kameraeinstellungen, beharrlichen close-ups und umso mehr verstörenden Bildern die Entwicklung eines verzweifelt schreienden nicht zu beruhigenden Babies über ein verhaltensauffälliges entwicklungsverzögertes Kleinkind zum psychopatischen Pubertierenden.
Wir sehen eine von ihrem Schreibaby entnervte Mutter, die Momente köstlicher Ruhe empfindet, wenn sie mit dem Kinderwagen neben einer Strassenbaustelle steht, deren Lärm das Babygeschrei vorrübergehend übertönt und die andererseits ungläubig erlebt, wie ihr Mann die Problematik nicht erkennt, bzw. herunterspielt, wenn Baby Kevin in seinen Armen nicht schreit: "du mußt ihn halt nur richtig halten und wiegen".
Damit ist der Ton bereits gesetzt in den jeweiligen klassischen Elternrollen: Franklin arbeitet außer Haus und wenn er heimkommt, ist seine spärliche Interaktion mit seinem Sohn quasi normaler kumpeliger Vater-Sohn-Umgang, er bekommt wenig mit von Evas verzweifelten und endlosen Anstrengungen eine tragfähige Beziehung zu Kevin herzustellen, und wenn doch, dann stehen ihm Ratlosigkeit und Unglauben in Großbuchstaben im Gesicht geschrieben.
Eva sucht vergeblich Hilfe bei Ärzten, es ist herzzerreißend, an ihrer Körpersprache und Mimik abzulesen wie hilflos und alleine gelassen sie sich fühlt im Umgang mit ihrem Sohn. Er mag nicht sprechen oder zählen (kann es aber perfekt), er mag nicht spielen, verweigert jegliche Kooperation und torpediert alle Angebote zur Interaktion mit seiner Mutter.
Selbst im fortgeschrittenen Kleinkindalter muß er noch gewickelt werden und hat diabolische Freude daran, vor den Augen seiner Mutter absichtlich in die frisch angelegte Windel zu koten. Sie bis zur Weißglut zu provozieren, an ihre Grenzen zu treiben und darüberhinaus, bis sie im Affekt Kevin versehentlich den Arm bricht.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass Kevin der Dreh-und Angelpunkt in dieser Familie ist, er steuert alles, so auch den Zeitpunkt, ab wann er zB keine Windeln mehr trägt. Er täuscht und tarnt und manipuliert und treibt vor allem seine Mutter vor sich her, der man kaum zuschauen mag in ihrem Wechselbad der Gefühle zwischen Liebe und Zweifel, Abneigung und Hoffnung und Ungläubigkeit und doch nicht wahrhaben wollen. (sagte ich schon, wie absolut großartig Tilda Swinton ist?)
Auch die Geburt der Tochter Celia - optisch und charakterlich der genaue Gegenentwurf zum Bruder - ändert nichts an Kevins Feindseligkeit und verbessert die Familiendynamik nicht. Er macht auch vor Celia nicht halt, er ist schuld, daß sie ein Auge verliert, und er tötet ihr geliebtes Meerschweinchen, dessen Überreste von Eva gefunden werden.
Und nein, nicht der ganze Tagesablauf in dieser Familie besteht aus Krankenhausaufenthalten, zermatschtem Essen auf Couchtischen, Kevins offener und von hämischem Grinsen begleiteter Masturbation vor Eva, und massakrierten Haustieren, das sind quasi die Tretminen, die den Eltern unvermittelt ins Gesicht fliegen auf der Suche nach Erklärungen/Gründen, die ihre schlimmsten geheimen Befürchtungen entkräften und ihre Fassungslosigkeit angesichts des eigentlich Unglaublichen in eine realistische Handlungsoption kanalisieren könnten.
Selbst vermeintlich harmlose Fahrrad-Bügelschlösser, die Kevin bestellt hat, um sie "zu einem wesentlich höheren Preis in der Schule" verkaufen zu können, stellen sich als Falle heraus, in die seine Eltern gutgläubig tappen, und sie werden eine tödliche Falle für seine Mitschüler, denen er mögliche Fluchtwege mittels ebendieser Bügelschlösser versperrt, bevor er mit Pfeil und Bogen und hochkonzentriert sein Werk vollendet.
Die Fragen nach Gründen und Verantwortlichkeiten bleiben unbeantwortet im Raum:
wird Kevin "böse" geboren oder dazu gemacht?
An welcher Stelle wäre ein exit gleichwelcher Art möglich und angebracht gewesen: erst beim geschlachteten Meerschweinchen oder schon beim provozierenden Einkoten? Oder war es gar der Vater, der dem Sohn Pfeil und Bogen schenkte, ein gemeinsames Hobby der beiden? Wo geht vorübergehende altersgemäße Verhaltensabnormität in klinische Psychopathie über, und wer der Beteiligten hätte das wann erkennen und gegensteuern müssen?
Back to square one und meinem Knoten in Magen und Hirn:
diesen Film konnte ich nicht "abstrahiert" oder nur rein technisch (Kameraeinstellungen, Symbolik, Schnitt, Licht etc pp) anschauen, sondern der hat sich direkt mitten in mein Mutterherz gebohrt, wie ein Pfeil.
Er spricht die ureigensten tiefsten und unausgesprochenen Ängste an, die jeder Vater und jede Mutter hat: was passiert da mit meinem Kind? Ist das noch normal? Wieso sieht das keiner? Ist das meine Schuld/mein Versagen? Wo kriege ich Hilfe?
Wer selber Kinder hat und das aushalten kann, dem kann ich den Film uneingeschränkt empfehlen. Den anderen auch, dann vor allem aber für die unglaubliche Leistung von Tilda Swinton. Es ist mir ein Rätsel, wie sie diese Rolle in der Art s o ausfüllen konnte ohne jeden Tag schreiend vom Set in ihre Garderobe zu rennen. (aber vll. hat sie das ja getan....)
In der ARD-Mediathek bis 1.4.24: ---> https://www.ardmediathek.de/video/filme/we-need-to-talk-about-kevin/one/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLXNvcGhvcmEtMTZkM2I4YmUtMTMzZi00ZGI3LTk4N2EtNzg0MDRhMWQ3MDll