Anekdotisches
Auch ein anderer Musikjournalist, Konrad Beikircher, hat im Mai 2015, anlässlich Paganinis 175. Todestag, folgenden unterhaltsamen Rundfunk-Feuilleton-Text über ihn verfasst:
Heute, liebe Freunde der schönen Musik und der kleinen Anekdoten, haben wir einen schönen Jubiläumstag. Sie wissen ja, ich schaue gerne im Jubelkalender nach, wer denn mal wieder dran ist, und heute ist einer dran, der mein Leben schon von ganz früh an begleitet hat: Niccolò Paganini. Er ist am 27. Mai 1840, das war ein Mittwoch, gestorben, vor 175 Jahren. Ich möchte Ihnen heute aus diesem Anlass ein bisschen was über ihn erzählen. Er gehörte in seiner Zeit zu den überschätzten Komponisten, was uns für ihn freut. Da ist der Bogen schon ziemlich überspannt worden, z.B. Giacomo Meyerbeer, selber auch einer der zu Lebzeiten etwas überschätzten Opernkomponisten - naja, heute wird er peu à peu wiederentdeckt, weil er so gut zu den großformatigen Leinwänden passt - Meyerbeer hat über Niccolò gesagt: "Wo unser Denken aufhört, da fängt Paganini an!" Da kann man auf gut rheinisch nur sagen: "Also ich weiß es nicht!" Wenn man sich - auch mit Fachleuten - über Niccolò Paganini unterhält, ist es immer noch so, als schrieben wir 1840. Gerüchte, Legenden, Lügen, Klitterungen ohne Ende. Das geht schon mit seiner Geburt los: Er kam am 27. 10. 1782 in Genova zur Welt und nicht am 18. 2. 1784. Das Datum, das ihn jünger machen sollte und das die meisten Biographen übernommen haben, geht allerdings auf ihn selber zurück - er wollte (wieder einmal) heiraten und dabei eine gute Figur machen. Also schrieb er am 22. Juni 1822 an seinen Freund und Rechtsanwalt Luigi Germi nach Genova:"Was die Taufurkunde betrifft, so möchte ich nicht, dass daraus hervorgeht, dass ich schon in das vierzigste Lebensjahr eingetreten bin. Wenn Du Dich mit dem Pfarrer von S. Salvatore verständigen könntest, ob es möglich ist, mich unterhalb der Vierzig zu platzieren, würde mir das große Freude machen." Naja, lieber Niccolò, wenn's nicht mehr ist...!
Mandoline hat er mit fünf Jahren gelernt und später die Geige, genaues Alter weiß man nicht, außer, dass er sich mal darüber beklagte, dass sein Vater Antonio ihn gezwungen habe, von morgens bis abends Geige zu üben und dass seine Mutter darum gebetet habe, dass aus ihm ein großer Geiger werde. Zu welcher/m Heiligen sie aber gebetet hat, ist unklar: zur Hl. Cäcilia, der Musikpatronin, zum Hl. Arnold von Arnoldsweiher, ein Profi auf der Zither, zum Hl. Arnulf, der gerne mit Viola abgebildet wird (dass Bratschisten einen eigenen Heiligen brauchen, ist allerdings jedem Musiker einsichtig) oder zum Hl. Dunstan von Canterbury, der auch was für Musiker - wenn auch nur englische - übrig gehabt haben soll? Egal - das Gebet hat den richtigen Fürsprecher erreicht - vielleicht war es auch der Hl. Stradivarius oder - eher - der Hl. Guarnerius (spielte Paganini doch auf einer Guarnieri del Gesù). Soviel also zur genetischen 'Belastung' und zum Draht nach oben.
Jedenfalls: Er erhielt Unterricht im Geigenspiel - allerdings weniger von der 'Bundesliga', mehr von soliden Genueser Musikern wie z.B. Giacomo Costa, die ihm auch entsprechend wenig beibringen konnten, denn er war ein Naturtalent. Seine Intonationssicherheit z.B. muss phänomenal gewesen sein - auch in den extremsten Lagen soll er auf Anhieb immer den richtigen Ton erwischt haben und ab seinem 12. Lebensjahr gab er Konzerte: zuerst in Genova, dann in Parma. Er lernt unermüdlich weiter, 1800 sehen wir ihn in Modena wieder, wo er ein großes Konzert gibt - eines seiner ersten als Violinvirtuose, wo er einen beispiellosen Erfolg hatte. Im Grunde ändert sich - wenn man an den Erfolg seiner Konzerte denkt - ab jetzt bis in die vierziger Jahre nicht viel - Wissens ist er nie ausgepfiffen worden und ein gewisses Nachlassen des Interesses an seinen Konzerten in Frankreich 1831 hatte eher mit der Häufigkeit seiner Konzerte als mit der Wirkung seines Spiels zu tun. Wie jeder Bühnenmensch weiß, ist es gefährlich, zu oft zu spielen - man läuft Gefahr erreichbar und damit gewöhnlich zu werden. Von jetzt (1800) an bis 1828 tourt er unermüdlich in Italien. Wobei er nicht etwa ausschließlich eigene Kompositionen spielte - das ist auch eine der Legenden, die sich hartnäckig halten - sondern Rode, Viotti und Kreutzer aufführte, was ihm öfters die Kritik eintrug, er spiele sie nicht notengetreu, er könne das vielleicht gar nicht. Bezeichnend ist aber, dass sein Erfolg wuchs, als er es aufgab, 'Fremdliteratur' zu spielen.
Dabei nutzte er in diesen ersten Jahren oft das Podium zu kleinen, sarkastisch-humoristischen Protesten gegen die Bourgeoisie: saßen zu viele Pfeffersäcke im Publikum, verzichtete der Jakobiner Paganini auf die Kadenz und imitierte stattdessen Eselsgeschrei - zum Jubel der einfachen Leute und zum Naserümpfen der Bürger. Bezeichnend für diesen Humor möchte ich hier stellvertretend für alle anderen Konzerte (diesbezüglich) eine 'Kritik' zitieren, die Abt Chelini über das erste - legendäre - Konzert Paganinis in der Kathedrale von Lucca am 14. 9.1801, geschrieben hat: "Auf dem Platz San Martino war das ganze Bataillon von Lucca aufgestellt, das ziemlich klein war, da eine größere Anzahl von Soldaten desertiert war. Am Morgen des Festes begab sich die Regierung mit dem Festzug zur Singmesse. Die Musik dauerte sehr lange, denn man hatte die Indiskretheit und Unhöflichkeit gegenüber dem Prälaten, dort ein Konzert abhalten zu lassen (was bis dahin unerhört war), das von einem gewissen Paganini, einem Genueser Jakobiner, gegeben wurde, der sofort nach dem Kyrie Eleison anfing zu spielen und das ganze 28 Minuten lang.
Dieser 'Herr' zeigte zwar Geschicklichkeit, aber weder Ernst noch musikalisches Urteilsvermögen. Er ahmte mit der Geige den Gesang der Vögel nach, Flöten, Trompeten und Hörner, dergestalt, dass sein Konzert als Opera Buffa endete, die alle zum Lachen brachte, während sie gleichzeitig seine Geschicklichkeit und Sicherheit bewunderten. Dies zeugte aber weder von Vernunft noch von Ernst, denn die Nachahmung von Vögeln und anderer Instrumente mit einer Violine ist sicher ein Beweis für die Geschicklichkeit eines Spielers, aber da sie vom eigentlichen Sinn des Spiels weit entfernt ist, ist es nichts anderes als eine Jugendtorheit, die man vielleicht in einer Musikschule machen kann, und auch da nur in Maßen, keinesfalls aber an einem geheiligten Ort. Das Konzert jedoch hatte einen sehr großen Erfolg und ebenfalls die ganze Musik, waren doch die Jakobiner die ersten, die es hochhielten indem sie sagten, noch nie habe es in S. Croce derartige Musik gegeben; und wenn einer schlecht darüber sprach, lief er Gefahr, ins Gefängnis geworfen zu werden."
Im Leben Paganinis begegnen wir immer wieder den Frauen, woran man sieht: man muß eine Geige noch nicht mal richtig halten können (Paganini hielt die Geige zwischen Schlüsselbein und Kinn nach unten und vorne, was ihm möglicherweise mehr Griffmöglichkeiten bot als die klassische Sevcik-Haltung: Kinn und Augen links, Geige in Verlängerung der Schulter eingeklemmt und dann gucken, wie man mit dem Bogen die G-Saite erreicht, ein am Anfang chaplineskes Schauspiel!), um die Frauen erobern zu können. Zugegeben: spielen konnte er schon besser als alle anderen, aber langt das denn schon? Ja, es langt. Auch wenn einer "eine Stimme wie ein rostiger Wasserhahn" hat, wie sie Paganini gehabt haben soll, laut Jacques Boucher de Perthes, Zollbeamter in Abbeville, der an der Somme Feuersteinwerkzeuge fand und damit die Erforschung der Altsteinzeit einleitete, also einer, der sich mit rostigen Wasserhähnen ausgekannt haben muss. Er hatte Verhältnisse ohne Ende, wahrscheinlich auch in Lucca mit der Schwester Napoleons, er hat sich aber auch immer nach einer Frau fürs Leben gesehnt, na gut, wer von uns Männern tut das nicht.
Wir wissen, dass zu seiner hohen Zeit, bei den Konzerten die Frauen reihenweise in Ohnmacht fielen, na gut, er war nicht nur Geiger, er war wirklich ein Popstar. Von 1810 bis zum März 1828 reist er durch Italien und gibt ein Konzert nach dem anderen. Schnell ist sein Ruf, der beste Geiger aller Zeiten zu sein, gefestigt. Vor allem aber hat er in diesen 18 Jahren sich das restliche 'Handwerkszeug' zurecht gelegt, dessen man bedarf, wenn man auf den großen Bühnen der Welt reüssieren will. Das heißt, dass er in dieser Zeit auch lernte, die Wirkung von Effekten zu studieren, sie souverän handzuhaben, mit einem Wort: bühnensicher zu werden. Denn das war er - abgesehen von seiner geigerischen Einmaligkeit und abgesehen vom Charisma seiner Kompositionen - ohnegleichen, ohne dass er die Effekte unbedingt um ihrer selbst willen eingesetzt hätte. Man kann ohne Übertreibung sagen: Paganini dachte - auch auf dem Konzertpodium - in erster Linie musikalisch. Da spielt aber schon eine große Rolle, dass das Publikum auch wegen der unglaublichen Gerüchte, die sich um Paganini rankten und die er immer wieder zu entkräften versuchte, bereit war, in ihm einen Teufel oder zumindest einen genialischen Scharlatan zu sehen.
Es gibt nicht viele Zeitzeugen, die versuchen, ein etwas weniger dämonisches Bild von ihm zu malen. Schade. Dass er aber seine Bühnenpräsenz, das magische Auftreten, nutzte, ist natürlich auch klar. Da langte ja ein gebieterischer Blick ins Publikum und die Damen fielen in Ohnmacht (in Wien), weil sie schon den Teufel zu schauen glaubten. Kurz: wenn einer Popstar ist, warum soll er es nicht nutzen? Zumal, wenn er auch noch ein exzellenter Musiker ist! Unsere Tina Turners, Mick Jaggers oder Madonnas haben nicht einen Hauch von dem zu bieten, was Paganini verschenkte, aber gegen deren Auftreten war Niccolò ein schmächtiger Waisenknabe.
Und noch eine kleine Anekdote zu Paganini: 1818 trifft er in Bologna mit Rossini zusammen, der ihm auch in Paris ein Freund bleibt und der später sagen wird, er habe nur zweimal in seinem Leben geweint: einmal, als er Paganini das erste mal habe spielen hören, das zweite Mal, als ein Dummkopf eine getrüffelte Ente habe ins Wasser fallen lassen. 1819 übrigens gibt er in Rom im Palazzo des österreichischen Grafen Kaunitz ein Konzert, das auch Fürst Metternich hört, der davon so begeistert war, dass er Paganini nach Wien einlud. 9 Jahre später kam es dann dazu.
1821 kam es zu einer superben Scharade beim Karneval in Rom. Paganini, Rossini und Massimo d'Azeglio (Schriftsteller, Schwiegersohn von Alessandro Manzoni und hochgebildeter Politiker) taten sich zusammen um als Trio aufzutreten. Sie verfassten einen Text ("Siamo ciechi, siamo nati per campar di cortesia in giornata d'allegria non si nega carità -wir sind blind, wir sind geboren um von Almosen zu leben, an einem Tag der Freuden verweigert man keine Almosen"), Rossini vertont ihn, und dann wird sich ins Getümmel gestürzt. Massimo d'Azeglio erzählt das so: "Es wurde entschieden, dass die Unterbekleidung von höchster Eleganz sein sollte und darüber armselige geflickte Lumpen getragen werden sollten. Eine offensichtliche und doch saubere Armut also. Rossini und Paganini sollten das Orchester darstellen, indem sie auf zwei Gitarren herumklimperten; sie überlegten, sich als Frauen zu verkleiden. Rossini vergrößerte mit sehr viel Geschmack seine bereits ausladenden Formen mit mehreren Lagen Stoff und er sah unmenschlich aus! Paganini erst, dürr wie ein Stecken und mit diesem Gesicht, das wie der Hals einer Geige aussieht, wirkte als Frau doppelt so dürr und kreuzlahm. Ich sage es nicht nur so, wir machten wirklich Furore: zuerst in zwei oder drei Häusern, in denen wir sangen, dann auf dem Corso und später nachts auf dem Fest."
(Konrad Beikircher, Pasticchio musicale, SWR2 Manuskripte, 16.5.2015)