Fürst Igor
"Fürst Igor" ist die einzige Oper von Borodin, und sie war bei seinem Tod unvollendet.
Die Ursprünge von Borodins Oper liegen in einem Szenario, das der Komponist 1869 vom Kritiker und Historiker Wladimir Stassow erhielt und dem ein episches Gedicht aus dem 12. Jahrhundert - Das Lied des Igor - frei zugrunde lag. Als Antwort äußerte sich Borodin überzeugt, alles darin entspräche seinem Talent und seinem künstlerischen Naturell: «breite, epische Themen, nationale Elemente, eine große Vielfalt bei den handelnden Personen, Leidenschaft, Dramatik und die ganze Farbenpracht des Orients». Er machte sich sofort daran, ein Libretto zu entwerfen, verlor jedoch bald den Schwung und ließ die Arbeit innerhalb von einem Jahr zum Stillstand kommen. Das Problem bestand darin, dass - seinen früheren Ansichten zum Trotz - die Handlung als Bühnengeschehen an Dramatik deutlich zu wünschen übrig ließ. Erst 1874 nahm er die Arbeit wieder auf. In der Zwischenzeit hatte er Orchestermusik geschaffen: die Zweite Symphonie sowie die Ballettmusik Mlada, eine Gemeinschaftsarbeit mit Borodin, Rimski-Korsakow, Mussorgski und Cui (ironischerweise sollte ein Großteil von Borodins Beitrag zu Mlada schließlich in die Oper Fürst Igor einfließen).
Nachdem Borodin endlich zu Fürst Igor zurückkehrte, ging die Arbeit zunächst nur langsam vonstatten. Der Hauptgrund dafür bestand darin, dass der Komponist vorwiegend ein hochangesehener Chemieprofessor und Arzt war und das Komponieren als zweitrangige Beschäftigung betrachtete. Da er sich dem Komponieren am ehesten während seiner Krankenzeiten widmen konnte - so Borodin -, begrüßten ihn seine Freunde lieber mit den Worten «Hoffentlich sind Sie unwohl!» als «Hoffentlich geht es Ihnen gut!»
Seine Freunde aber - vor allem Rimski-Korsakow - ließen nicht locker und ermutigten den Komponisten, indem sie Teile der neuen Oper in verschiedenen Konzertprogrammen unterbrachten, zum Teil noch bevor Borodin die entsprechenden Sätze komponiert hatte! Als Reaktion vollendete der Komponist unter anderem die Polowetzer Tänze, die heute den Schluss des zweiten Akts bilden. Allem Anschein nach hatte er die Orchestrierung noch nicht fertiggestellt, denn Rimski-Korsakow konnte sich später an einen Abend erinnern, an dem er, Borodin und Anton Liadow den Orchestersatz fieberhaft zu Ende führte. Insbesondere - so Rimski-Korsakow - arbeitete die Dreiergruppe mit Bleistift, während Borodin die fertigen Notenblätter mit Gelatine bestrich und wie Kleidungsstücke auf einer Wäscheleine zum Trocknen aufhängte. Vielleicht sind jedoch die Erinnerungen Rimski-Korsakows nicht ganz zuverlässig, denn in der gedruckten Partitur werden die Polowetzer Tänze den Teilen zugeordnet, die Borodin selber orchestrierte.
In den folgenden Jahren diente Rimski-Korsakow dem Komponisten gewissermaßen als Adlatus (einmal bezeichnete er sich sogar als dessen «musikalischen Sekretär»), um Borodin an der weiteren Ausführung der Oper behilflich zu sein. Borodin war jedoch oft mit seinen chemischen Forschungsarbeiten oder mit musikalischen Projekten wie der Dritten Symphonie zu stark beschäftigt, um darauf einzugehen. Als unvermeidliches Ergebnis blieb ein Großteil der Oper ohne Orchestrierung, und einige Teile (vor allem im dritten Akt) wurden überhaupt nicht in ausgearbeiteter Form niedergeschrieben.
Wie konnte sich Borodin zwanzig Jahre lang einer Oper widmen, die er nie vollendete? Zum Teil liegt der Grund im vorhin erwähnten grundsätzlichen Mangel an Dramatik bezüglich der Handlung, die stattdessen durch eine Reihe von großen Tableaus ersetzt wird. Borodin war sich dieses Mangels offensichtlich allzu bewusst, denn er verbrachte viel (vielleicht sogar zuviel) Zeit damit, ein eigenes Libretto zu verfassen, was ihn als Teilzeitkomponisten sehr beanspruchte. Darüber hinaus fasste er den Plan, russische Volkslieder in die Oper mit einzubeziehen, und verbrachte einen Teil seiner Ferien damit, ländliche Ortschaften aufzusuchen, wo er von den bäuerlichen Landarbeitern Lieder sammeln konnte (aus einem solchen Volkslied - Die Spatzenhügel - erwuchs eine Reihe von Themen). In den 1870er Jahren war dies noch eine ungewöhnliche Vorgehensweise; erst dreißig bis vierzig Jahre später haben Bartók, Grainger, Vaughan Williams und andere Ähnliches, allerdings in größerem Ausmaß unternommen. Diese Arbeiten nahmen jedoch Borodins Zeit ziemlich in Anspruch, zumal seine noch verbleibende Lebenszeit knapp bemessen war: Nachdem er einige Wochen lang unter Brustschmerzen litt, brach er am 15. Februar 1887 während eines vornehmen Tanzabends im Alter von nur 53 Jahren tödlich zusammen - das Opfer eines massiven Herzinfarkts.
Dieses frühzeitige Ende hatte Borodins Freund und Schüler A. P. Dianin bereits vorausgesehen, der in weiser Voraussicht schon vorher versprach, Rimski-Korsakow über die kompositorischen Fortschritte an Fürst Igor zu informieren, damit die Freunde des Komponisten vom außergewöhnlichen Gedächtnis des jungen Alexander Glasunows Gebrauch machen konnten, während Borodin die neukomponierten Teile am Klavier vortrug. Wenigstens auf diese Weise blieben die Ouvertüre und Teile des dritten Akts - zusammen mit den ersten beiden Sätzen der Dritten Symphonie - der Nachwelt erhalten.
Was das Gedächtnis Glasunows anbelangt: Dianin erinnerte sich später, wie Glasunow einmal Borodin bat, die Ouvertüre zu Fürst Igor vorzuspielen. Der Komponist lehnte ab mit der Begründung, er sei ihrer überdrüssig geworden, woraufhin Glasunow erwiderte: «Dann werden Sie es vielleicht mir erlauben, sie vorzuspielen», und eine Aufführung darbot, die Borodin anschließend als «bis auf das letzte Detail genau» bezeichnete.
Die Vervollständigung der Oper
Die Oper Fürst Igor ist in fünf verschiedenen Stadien der Vollständigkeit überliefert worden:
– Zehn Teile wurden in Orchesterpartitur vollendet. Vorwiegend handelt es sich hierbei um diejenigen Abschnitte, die Borodin zur Aufführung bei verschiedenen Konzertanlässen notgedrungen fertigstellen musste. (Es wundert also nicht, dass diese Teile zu den beliebtesten Nummern der Oper gehören.)
– Ein Großteil des ersten, zweiten und vierten Akts wurde im Klavierauszug vollständig ausgearbeitet, wobei vieles davon unter der Leitung des Komponisten bereits von Rimski-Korsakow niedergeschrieben wurde.
– Einige Abschnitte (vor allem die Ouvertüre und ein Großteil des dritten Akts) wurden zwar vom Komponisten fertig komponiert, wurden jedoch bis auf einige Skizzen nie aufgeschrieben. Allerdings hatte Borodin die Musik seinen Freunden bei zahlreichen Anlässen vorgespielt.
– Einige Abschnitte blieben gänzlich unvertont.
– Die endgültige Reihenfolge der Szenen wurde noch nicht festgelegt.
Kurz nach dem Tod des Komponisten machten sich Rimski-Korsakow und der junge Alexander Glasunow daran, eine Aufführungsversion der Oper zu erstellen. Insbesondere erklärte sich Glasunow bereit, die Ouvertüre und den dritten Akt aus den Skizzen Borodins sowie aus den eigenen Erinnerungen an die Klaviervorträge des Komponisten wiederherzustellen. Die Ouvertüre wurde von Glasunow offenbar fast ganz aus dem Gedächtnis rekonstruiert (siehe oben!).
Die vollständige Oper erschien 1888 in Druck. Die Erlöse der frühen Aufführungen wurden dazu verwendet, ein «Borodin-Stipendium» am Petersburger Konservatorium zu stiften.
Es folgt eine Aufstellung der jeweiligen Beiträge dieser drei Komponisten, wobei die Ziffern in der linken Spalte sich auf die einzelnen Nummern im Inhaltsverzeichnis, die in der rechten Spalte hingegen auf die Seitenzahlen der Partitur beziehen. Im großen und ganzen hat Rimski-Korsakow den Klavierauszug Borodins fürs Orchester umgearbeitet, ohne viel Eigenes hinzuzufügen, während Glasunow die von ihm rekonstruierten und orchestrierten Abschnitte teilweise neukomponierte. Insgesamt haben Rimski-Korsakow und Glasunow schätzungsweise ein Sechstel der endgültigen Fassung der Oper selber komponiert.
Die Partiturteile und ihre Schöpfer:
_Ouvertüre_
Glasunow 1
1. Akt
Nr. 1 Borodin 51
1 (moderato) Rimski 74
1 (moderato) Borodin 105
2a Rimski 119
2b Borodin 130
2c Rimski 144
2d Rimski 148
2e Rimski 158
2f Rimski 162
2g Rimski 177
2. Akt
3 Rimski 190
4 Borodin 203
5 Rimski 217
6 Rimski 233
7 Rimski 1
8 Rimski 11
9 Borodin 30
10 Rimski 39
11 Borodin 52
12 Rimski 59
13 Rimski 84
14 Rimski 104
15 Borodin 115
16 Rimski 135
17 Borodin 142
3. Akt
18 Rimski 215
19 Glasunow 250
20a Glasunow 263
20b Glasunow 270
20c Glasunow 276
21 Glasunow 288
22 Glasunow 315
23 Glasunow 318
24 Glasunow 334
4. Akt
25 Borodin 366
26 Borodin 379
27 Rimski 381
28 Rimski 410
29 Rimski 446
Fast zwei Jahre dauert die Vollendung der Oper nach Borodins Tod. Glasunow nimmt den Fürsten mit in die Sommerfrische auf die Krim und wieder mit nach Hause, immer wieder sitzt er an den noch fehlenden Teilen, bringt eigenes Gedankengut ein und erinnert sich an Borodins Ideen. Glasunow schreibt in einem Brief: "Es zeigte sich, dass unsere Zusammenarbeit nicht nur ein simples Arrangement der Musik von Borodin sein konnte, sondern eine Arbeit, die abgesehen von unseren technischen Anmerkungen eine große schöpferische Anstrengung erforderte."
Anders als Mussorgskis "Boris Godunow" gibt es von "Fürst Igor" keine Urfassung des Komponisten, sondern lediglich das Manuskript der Oper in Rimskis und Glasunowas Handschrift mit der Bemerkung Rimskis: "Die Oper wurde vollendet am 12. März 1888". Anderthalb Jahre später erscheint diese einzigartige Gemeinschaftsproduktion im Belajeff-Verlag. 1890 findet dann die lang erwartete Uraufführung in St. Petersburg statt.
Der Komponist Nikolaj Tscherepnin bemerkt nach der Durchsicht der Partitur: "Es ist unmöglich festzustellen, ob diese Passage oder jene Partie von diesem oder jenem der drei Komponisten ist. Diese Oper ist wirklich eine gemeinsame Schöpfung von Borodin, Rimski-Korsakov und Glasunow". Bis heute gilt das dreistündige Mammutwerk "Fürst Igor" als ein Sittengemälde der russischen Vergangenheit. Losgelöst von der Opernbühne haben die berühmten, bereits hier im Thread vorgestellten, "Polowetzer Tänze" schnell ein Eigenleben geführt. Sie wurden schon zu Lebzeiten Borodins aufgeführt. Rimski hatte bei der Instrumentierung geholfen, der Choreograph Michail Fokin machte sie zu einem eigenständigen Ballett. Im Konzertsaal haben sie bis heute eine große Wirkung, ob, wie im Original, mit Chor oder ohne.
In den 1970er Jahren untersuchte der russische Musikwissenschaftler Pawel Lamm die Quellenlage erneut und entdeckte dabei, dass Rimski-Korsakow und Glasunow rund 1787 Takte der Borodinschen Vertonung entweder übersahen oder unterschlugen. Seitdem sind einige neue Aufführungsausgaben in Druck erschienen – vor allem 1978 in Ost-Berlin – , jedoch konnte sich bisher noch keine von ihnen durchsetzen. Eine wissenschaftlich-kritische Urtextausgabe von Fürst Igor steht noch aus.
Inhalt:
Handelnde Personen
Igor Swjatoslawitsch, Fürst von Sewersk – Bariton
Jaroslawna, seine Frau – Sopran
Wladimir Igorewitsch, sein Sohn – Tenor
Wladimir Jaroslawitsch, Fürst Galizki, Bruder Jaroslawnas – Baß
Kontschak und Gsak, Polowezer Khane – Baß
Kontschakowna, Tochter Kontschaks – Mezzo-Sopran
Owlur, ein Polowetzer – Tenor
Skula, Gudokspieler – Baß
Jeroschka, Gudokspieler – Tenor
Amme Jaroslawnas – Sopran
Polowetzer Mädchen – Sopran
Russische Fürsten und Fürstinnen, Bojaren, Bojarinnen, die Ältesten, russische Krieger, Mädchen, Volk, Polowetzer Khane, Freundinnen der Kontschakowna, Sklavinnen Kontschaks, russische Gefangene, Polowetzer Wachen.
Zeit des Geschehens: das Jahr 1185.
Zusammenfassung der Handlung
(aus: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, München 1986)
Prolog
Ein Platz in der Stadt Putiwl: Fürst Igor Swjatoslawitsch ruft zum Heereszug gegen die Nomaden. Im Streit gegen die Heiden versichert er sich des Beistands der Kirche. Der Himmel selbst gibt ein Zeichen: Die Sonne verfinstert sich. Das Volk und Igors Frau Jaroslawna deuten das als Warnung und bitten ihn, daheim zu bleiben. Er schlägt das Zeichen und die Warnungen aus. Doch zwei seiner Leute, die Bänkelsänger Skula und Jeroschka, entziehen sich dem Heeresdienst. Igor vertraut Jaroslawna die Herrschaft an, bittet den Schwager Galizki, der Frau beizustehen, und zieht mit dem Sohn Wladimir und einigen wenigen verbündeten Fürsten in den Krieg.
I. Akt
1. Bild, Hof bei Galizkis Haus: Jaroslawnas Bruder, Wladimir Galizki, wurde vom eigenen Vater verjagt, weil er nach dessen Thron strebte. Galizki will nun Igors Abwesenheit nutzen, um die Herrschaft in Putiwl an sich zu reißen. Er lädt den Pöbel zu Gast und gewinnt ihn für sich, darunter auch Skula und Jeroschka. Putiwler Mädchen sind dem Aufrührer als Beute willkommen. Er raubt sie auf offener Straße und gibt sie den Verwandten nicht wieder zurück.
2. Bild, Raum in Jaroslawnas Haus: Von Igor kommt keine Nachricht. Jaroslawna sorgt sich um den geliebten Mann und den fähigen Herrscher. Galizkis Untaten werden ihr bekannt. Als sie Rechenschaft von ihm fordert, verlangt er die Herrschaft über Putiwl. Jaroslawna droht, ihn dem Vater auszuliefern. Da erreicht sie die Kunde, dass Igor gefangen sei und das russische Heer vernichtet wurde. Er erhebt sich die Frage, wer nun die Stadt vor Feinden schütze. Galizki fordert den Thron. Die treuen Bojaren bekennen sich zu Jaroslawna. Bürgerkrieg droht. Sturmglocken künden den Einfall der Polowetzer.
II. Akt
Polowetzer Lager: Gesang und Tanz der Polowetzer Mädchen geben dem Lager der Krieger Glanz. Der Tag endet, alles begibt sich zur Ruhe. Des Khans Kontschak Tochter fühlt Zuneigung zu dem jungen Fürsten Wladimir. Er erwidert ihre Liebe. Auch der gefangene Igor findet keine Ruhe. Der getaufte Polowetzer Owlur ist von Jaroslawna geschickt und bietet ihm ein Pferd und damit die Möglichkeit zur Flucht. Doch Igor schlägt sie aus, weil er sein Wort gegeben hat, nicht zu fliehen. Kontschak trägt ihm an, das frühere Waffenbündnis zu erneuern. Igor lehnt ab. Um ihm die Freuden und Schönheiten des Polowetzer Lebens zu zeigen, befiehlt der Khan Tänze.
III. Akt
Ein anderer Teil des Lagers: Von einem Heereszug kehrt Khan Gsak mit seiner Horde zurück. Die Polowetzer feiern Heimkehr und Sieg. Igor erkennt, dass die Polowetzer seine Niederlage nutzen und dass er schuldig wurde am Schicksal seines Volks. Er nimmt Owlurs Hilfe nun an. Als ihm die mitgefangenen Fürsten zur Flucht raten, entschließt er sich und flieht. Wladimir zögert noch, Kontschakowna hält ihn auf. Die Flucht Igors wird entdeckt. Wladimir droht der Tod. Doch Kontschak verschont ihn, denkt er doch die eigene Macht zu festigen, wenn er den jungen russischen Fürsten mit seiner Tochter verheiratet. (Dem flüchtenden Igor zur Unterstützung flehen die russischen Gefangenen zum Don, der seine mächtigen Wasserfluten erhebt, dass Igor den Weg aus Polowetzer Landen zur russischen Heimat findet.)
IV. Akt
Das zerstörte Putiwl: Jaroslawna beklagt Igors Schicksal und das Leid in der Stadt. Da erreicht der Fürst die Heimat. Igor und Jaroslawna erkennen einander. Unkundig der Heimkehr des Fürsten, singen Skula und Jeroschka ein Spottlied auf Igor. Als sie sehen, dass dessen Zeichen Putiwl wieder schmückt, ergreift sie Angst. Sie läuten die Glocken und geben den Herbeigelaufenen Kunde von Igors Rückkehr. Nun steht die Sonne hell am Himmel: Fürst Igor ist wieder auf russischer Erde. (Epilog.)
(Quellen:
http://www.repertoire-explorer.musikmph.de und Ulla Zierau, SWR2 Musikstunde v. 12.08. 2015)