Manuskriptauszug (2)
Im Sommer 1838, mit 21 Jahren, hat Niels Wilhelm Gade das Bedürfnis, sich von seinem Lehrer Berggreen in Kopenhagen zu emanzipieren, das Schülerdasein endgültig zu beenden. Gade kündigt seinen Geigerposten in der königlichen Kapelle und wagt ein mutiges Experiment. Er, der Orchestergeiger, möchte testen, inwieweit sein instrumentales Talent für eine Solokarriere reicht. Und so plant der junge Mann eine Virtuosen-Tournee durch ganz Skandinavien. Ein ehrgeiziges Projekt, schließlich ist Gade als Virtuose außerhalb von Kopenhagen noch nie in Erscheinung getreten, und nun will er allein über unsichere Konzerteinnahmen die Reisekosten bestreiten. Die Reise wird in persönlicher Hinsicht wohl ein Erfolg, tatsächlich fühlt Gade, endlich aus dem Schatten seines Lehrers getreten zu sein. In anderer Hinsicht ist die Tournee eine Katastrophe. Gade bekommt nur wenige Konzerte organisiert, die Einnahmen reichen weder für Kost noch Logis unterwegs...
Der Fehlschlag führt dazu, dass Gade am Ende seiner finanziellen Ressourcen einen Brief an seine Eltern verfasst, in dem er sie bittet, ihm Geld für die Rückreise zu schicken. Er sei pleite. Zurück in Kopenhagen fürchtet Gade eine ärgerliche Reaktion seiner Eltern, aber die sind nur froh: der verlorene Geigenvirtuose ist sicher zurück. ...
Während die Tournee durch Schweden und Norwegen im Sande verläuft, definiert sich Gade als Künstler neu. Komponieren wird jetzt sein oberstes Ziel. Und Gade dokumentiert diese neue Entwicklung ausführlich in einem Kompositionstagebuch, das er von 1839 bis 1841 führt. So gut wie alle Werke aus dieser frühen Phase der Künstlerwerdung sind dabei außermusikalisch inspiriert. Mal sind es Volksballaden, die Gade seinen frühen Werken zugrundelegt, mal Märchen und Heldenlegenden, mal eigene Gedichte.
Sein erstes mehrsätziges Streichquartett konzipiert Gade auf Textzeilen aus Goethes Gedicht „Willkommen und Abschied“:Es schlug mein Herz geschwind zu Pferde! Es war getan, fast eh gedacht... Die Nacht schuf tausend Ungeheuer; doch frisch und fröhlich war mein Mut...
Eigentlich hatte Gade Zeilen aus Goethes Gedicht „Willkommen und Abschied“ auch den Schlusstakten seines frühen F Dur Quartetts zugrundelegen wollen, aber im Laufe des Stücks scheint Gade sein Programm geändert zu haben. Das Gedicht wird zugunsten anderer Einfälle beiseite gelegt. Oft in dieser frühen Schaffensphase von Gade kann man anhand der Aufzeichnungen nachvollziehen, dass er Poesie nur als Zündfunken braucht, und sich während des Komponierens vom ursprünglichen Konzept löst.
Kurz nach Gades kammermusikalischen Gehversuchen kommt dann der orchestrale Durchbruch mit Gades ebenfalls dichterisch inspirierter Ossian Ouvertüre. Die Kopenhagener Musikgesellschaft lobt 1840 einen hoch dotierten Preis aus: Die beste neu komponierte Orchesterouvertüre soll mit 20 bis 25 Dukaten belohnt werden.Die Ausschreibung klingt fast wie eine Drohung: bestenfalls annehmbare Werke sollten nicht belohnt werden. Mittelmaß finde keine Gnade.
Zunächst ist Gade wohl auch deshalb zögerlich, er reicht bis zum ersten Fristablauf nichts ein. Erst als er auf der Straße von einem Kommissionsmitglied angesprochen wird, dass man sicher von ihm eine Arbeit erwarte und wohl auch seinetwegen den Einsendeschluss verschieben könne, macht sich Gade an die Arbeit. Gades Ouvertüre „Nachklänge von Ossian“ ist die letzte aller Einsendungen, eingereicht am 16. Januar 1841, anderthalb Monate nach der Begegnung auf der Strasse. Zwei Monate später steht fest: Niels Wilhelm Gade ist der Stern der jungen dänischen Komponistengeneration, bekommt den Preis, und seine Ossian Ouvertüre bleibt bis heute ein Repertoireschlager.
Die Melodie, die am Ende von Niels Wilhelm Gades Ossian Ouvertüre ganz in der Ferne langsam verhallt, kommt 1841 möglicherweise manchem Jury Mitglied des Kopenhagener Kompositionswettbewerbs seltsam bekannt vor. Und sicher ist diese unendlich breit vorgetragene Melodie mit ihrem versteckten Wiedererkennungswert das Erfolgsgeheimnis der Ouvertüre. „Moment mal, das kenn ich doch“ – dieser Aha Effekt ist ja das Rezept so manchen Ohrwurms. Das lyrische Hauptthema der Ouvertüre ist die etwa zehnfach verlangsamte Melodie eines jahrhundertealten dänischen Volkslieds, mit dem Niels Wilhelm Gade wohl während seiner Studienzeit an der königlichen Kapelle bekannt geworden war. „Ramund wäre ein besserer Mann gewesen, wenn er bessere Kleider gehabt hätte“, heißt es im mittelalterlichen Original, das die Keimzelle der Ossian Ouvertüre bildet.
Mit der Verwendung eines mittelalterlichen Zitats horcht Gade in der Ossian Ouvertüre am romantischen Puls der neuen Zeit. Dass die der Ouvertüre zugrundeliegenden Gedichte eines keltischen Barden Ossian aus grauer Vorzeit sich später als raffinierte Fälschungen eines englischen Hauslehrers erweisen, schadet der Rezeption ebenfalls wenig. Dem gefälschten Ossian Mythos sind letztlich unzählige Erzeugnisse der europäischen Kulturgeschichte zu verdanken. Und obwohl der falsche Ossian Mythos ins keltische Schottland weist, gilt Gade auch durch die Wahl des Stoffes bald als typisch nordischer Komponist Skandinaviens. Mit dem dänischen Volkslied und der vermeintlich noch irgendwie nordischen Mythologie im Gepäck wird Gade zum ersten skandinavischen Nationalkomponisten und zum Exportartikel.