Manuskriptauszug (5)
Ravel hatte, wie man heute sagen würde, einen Migrationshintergrund. Sein Vater Joseph Ravel war Schweizer und Ingenieur von Beruf; seine Mutter, die er geradezu abgöttisch liebte, kam aus dem Baskenland, das Ravel fast genauso sehr liebte wie seine Mutter, die folglich spanischer Nationalität war. Es genügt ein Blick ins Werkverzeichnis: Habanera, Rhapsodie Espagnole und die Oper L'Heure Espagnole: in etlichen von Ravels Werken schlägt sich diese Liebe zu Spanien auch musikalisch nieder.
Ravel war auch durchaus nicht der einzige französische Komponist mit einer ausgeprägten Liebe zum südlichen Nachbarn, bei Georges Bizet war das ganz genauso. Ihm gelang nicht nur das kleine Kunststück, mit „Carmen“ als Franzose die spanische Nationaloper zu schreiben, sondern in dieser Oper auch eine Habanera – nein, nicht eine, sondern die Habanera – unterzubringen. Dass die Habanera ursprünglich aus Kuba stammt und deshalb nach Kubas Hauptstadt Havanna benannt ist, war Bizet wahrscheinlich genauso gleichgültig wie Ravel 20 Jahre später...
Während Bizets Habanera zwar nicht von Anfang an, aber sehr bald nach der Uraufführung ein großer Erfolg war, hatte Ravel mit seiner Habanera nicht so viel Glück. Das mag an den Umständen ihrer Aufführung gelegen haben, die im März 1898 in einem Konzert der Société Nationale de Musique stattfand. In dieser Gesellschaft waren vor allem musikalisch konservative Menschen versammelt, die mit Ravels Musik herzlich wenig anfangen konnten. Es dauerte zwar noch eine Weile, aber schließlich zog Ravel die Konsequenzen. „Die Gesellschaften,“ schrieb er an seinen Komponisten-Kollegen Charles Koechlin, “entrinnen nicht den Gesetzen der Entwicklung. Nur hat man die Freiheit, sich aus ihnen zurück zu ziehen. Das mache ich nun, indem ich mit derselben Post meine Demission als Mitglied der Gesellschaft absende... Ich werde eine neue Gesellschaft gründen, eine unabhängigere, zum mindesten in ihren Anfängen.“
Genau das tat Ravel auch und rief die Société Musicale Indépendante ins Leben, die unabhängige musikalische Gesellschaft. Immerhin war bei der Uraufführung der Habanera anno 1898 mindestens ein Hörer von diesem Stück derart beeindruckt, dass er Ravel um das Manuskript bat.
Mag sein, dass Ihnen das Stück bekannt vorkommt, Ravel orchestrierte es später und machte es zum dritten Satz seiner Rhapsodie espagnole.
Dass er das Original für zwei Pianisten schrieb, hat sicher auch mit Ravels eigenen pianistischen Erfahrungen zu tun. Nachdem er sich mit Ricardo Viñes zu Beginn seines Studiums angefreundet hatte, müssen die beiden Berge von Vierhändig-Noten durchgeackert haben; Mozart spielte dabei eine herausragende Rolle. Einige Jahre später traf Ravel auf einer Abendgesellschaft mit dem musikliebenden und wohlhabenden Maler Jacques Emil Blanche zusammen, der gerade einen Partner zum Vierhändigspielen suchte. Ravel war grundsätzlich einverstanden, allerdings machte er eine Bedingung, an der das Vorhaben schließlich scheiterte: es dürfe kein Beethoven, kein Wagner, kein Schumann, überhaupt keine romantische Musik und nach Möglichkeit ausschließlich Mozart aufs Notenpult. Alles Reden war vergeblich, nichts konnte Ravel von seiner radikalen Position abbringen....
Der Hörer der Uraufführung von Ravels Habanera, der hinterher um die Noten bat, hieß übrigens Claude Debussy. Und der wollte die Noten aus recht eigennützigen Gründen haben. 1903, fünf Jahre nach der Uraufführung der Habanera, schrieb Debussy seine „Estampes“, deren zweiter Satz „La soirée dans Grenade“ einige auffällige Ähnlichkeiten mit der Habanera aufweist – angefangen vom rhythmischen Grundmodell „dam, da dam dam; dam, da dam dam“. Ravel und Debussy stritten sich daraufhin darüber, wer beim anderen abgekupfert habe – obwohl nach Lage der Dinge der Sachverhalt eindeutig ist....
Debussy und Ravel kamen sich noch mindestens ein weiteres Mal in die Quere, und dieser Fall hat parapsychologische Qualitäten: Beide entschlossen sich nämlich im Jahre 1913, jeweils drei Gedichte von Stéphane Mallarmé zu vertonen, obwohl beide wussten, dass Mallarmé solche Vertonungen nicht schätzte. Beide Zyklen wurden nahezu gleichzeitig, noch dazu im selben Verlag, veröffentlicht. Die Titel der kleinen Dreier-Zyklen sind auch identisch: Trois Poèmes de Stéphane Mallarmé. Dass auch von den drei Gedichten, die sich Debussy und Ravel aussuchten, zwei identisch sind, grenzt ans übersinnliche.
Das fand auch Debussy, der dieses eigenartige Zusammentreffen als „ein Phänomen von Autosuggestion, mitteilenswert der Medizinischen Akademie“ ansah. Ravel war mit seinen Liedern als erster fertig, und da Mallarmé schon 15 Jahre tot war, fragte er dessen Schwiegersohn Edmond Bonniot nach einer Erlaubnis für die Veröffentlichung der Lieder. Die erhielt er problemlos. Als Bonniot wenig später eine ganz ähnliche Anfrage noch einmal erhielt, verweigerte er die Genehmigung für die beiden doppelt komponierten Lieder – die Rechte seien schon an Ravel vergeben. Es ist Ravels Großzügigkeit zu verdanken, dass die Sache gütlich geregelt wurde; er bat Bonniot, auch Debussy die Genehmigung zu erteilen.
Hier die beiden Vertonungen des Mallarmé-Gedichts „Soupir“, zunächst die von Debussy, der ein Stimmungsbild einer „herbstlichen Träumerei“ zeichnet, wie Mallamé dieses Gedicht charakterisiert hat.
Hier im direkten Vergleich Ravels Vertonung desselben Gedichts, die deutlich zweigeteilt ist: Die erste Strophe ist von flirrenden Klavier-Arabesken umrankt, die zweite von schwergewichtigen Akkorden.
Mallarmé war nicht der einzige Dichter und Schriftsteller, der Vertonungen seiner Werke reserviert gegenüber stand, um es sehr vorsichtig auszudrücken. Aber der war ja schon tot und seine Rechtsnachfolger, in diesem Fall sein Schwiegersohn, hatten ein entspannteres Verhältnis zum Thema Musikalisierung.
Beim Autor Jules Renard, dessen Tierdarstellungen Ravel unter dem Titel „Histoires Naturelles“ vertonen wollte, stieß Ravel auf vollkommenes Desinteresse. Ein guter Bekannter Ravels, Thadée Natanson, versuchte, Jules Renard von der Sinnhaftigkeit einer Vertonung zu überzeugen. Renard, der seine absolute Inkompetenz in musikalischen Fragen offen zugab, hielt diese Unterhaltung fest: „Thadée Natanson sagte mir: Ein Herr möchte einige Ihrer Histoires naturelles vertonen. Er gehört zur Avantgarde, auf die man zählen kann und für die Debussy bereits ein alter Hut ist. Was sagen Sie dazu? - Gar nichts. - Also berührt es Sie doch! - Überhaupt nicht. - Was soll ich ihm von Ihrer Seite ausrichten? - Was Sie wollen. Sagen Sie ihm Dankeschön. - Würden Sie sich nicht gerne seine Musik von ihm vorspielen lassen? - Oh nein, nein!“
Auch eine Intervention Ravels bei Jules Renard erbrachte kein positives Ergebnis, und die Uraufführung des Zyklus endete in einem Fiasko. Ein Kritiker bemerkte: „Ich bin der Meinung, dass es ihm [Ravel] gelungen ist, eine Musik zu finden, die sehr wohl zu den Texten seiner Wahl passt: sie ist ebenso preziös, ebenso mühselig, ebenso dürr, ebenso wenig musikalisch.“ Ein anderer Berichterstatter meinte, man müsse „erbarmungslos kämpfen“, um ähnliche Versuche einer „musikalischen Dekomposition“ zu verhindern. Hier also ein frühes Beispiel für musikalische Dekomposition: