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KOMPONIST des Monats, X. Teil

*******uck Mann
138 Beiträge
Das erste Werk von Maurice Ravel, das ich im Orchester spielen durfte, war La valse.
Heute würde ich sagen, ich war privilegiert, viele große Werke das erste Mal direkt im Orchester erfahren zu haben. Diese Musik so direkt zu erleben, ist eine bleibende Erinnerung.
Nebenher kaum zu ertragen und wie Sex, nicht für Beiläufigkeit geeignet.
Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was da auf mich zu kam. Aber die Intensität dieser Musik hat mich richtig umgehauen. Der Anfang, Nebel, Herzschlag, Unheil kündigt sich an, dann Ignoranz, feiern, tanzen, was soll's. Und es klopft immer wieder das Unheil an die Tür, wird intensiver und der Tanz lässt sich nicht stoppen, wird zum Totentanz der Schlachtfelder des ersten Weltkrieges.
Das ist keine Musikwissenschaftliche Inhaltsangabe. So habe ich es als junger Musiker beim ersten Mal empfunden und der Eindruck ist geblieben.
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, war das Werk ein Auftrag für ein Ballett für Djagilew 1919, der es aber ablehnte, weil es kein Ballett, sondern das Porträt eines Balletts sei (Wikipedia).
Für mich fehlt bei dem Eintrag der Kontext mit dem Tod der Mutter und der anschließenden Schaffenskrise. Ravel verwendete Material, das er seit 1906 erstellt hatte. Rave hat hier also tatsächlich Musik verwendet, aus einer heilen Zeit, aus der Vorzeit des 1. Weltkrieges und letztlich den Wahnsinn dieses Krieges und die persönliche Krise verarbeitet. Aber wie gesagt, das ist meine persönliche Auffassung, die ich hier teilen möchte. Jeder darf das Werk auf seine eigene Art und Weise hören und erleben.
Ich verlinke hier die Aufnahme mit dem hr-Sinfonieorchester. Sehr schön ist auch die Aufnahme mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France unter Myung- Whun Chung.

*******uck Mann
138 Beiträge
Und gleich noch ein Beitrag.
Deux melodies hebraiques (1914)
mit Jessye Norman und Dalton Baldwin am Piano.


*******uck Mann
138 Beiträge
Sitze in der YouTubeFalle.
Hier noch eine andere Aufnahme des Kaddish. Diesmal mit Azi Schwartz, Kantor.
Ich finde es vor allem beieindruckend, wie hier eine Tiefe jenseits von 'Interpretation' erreicht wird und zeigt, wie sehr Maurice Ravel Musik durchdrungen hat.


*******sima Frau
2.542 Beiträge
Danke, @*******uck, dass Du deine ganz persönlichen Ravel-Erfahrungen hier mit uns teilst. Das macht die Beiträge und den Thread insgesamt so viel lebendiger! *blumenwiese*
*******sima Frau
2.542 Beiträge
Manuskriptauszug (1)
Dann beginne ich jetzt mal mit einem Auszug aus Hoffmanns Manuskript. In der ersten von insgesamt fünf einstündigen Sendungen ging es um die ungewöhnlich schwierigen Startbedingungen von Maurice Ravels kompositorischer Laufbahn.

"Es war durchaus attraktiv für junge französische Komponisten, den Prix de Rome zu gewinnen, den wichtigsten Kompositionspreis des Landes, der zwischen 1803 und 1968 jährlich vergeben wurde: Der Preisträger konnte sorgenfrei mehr als drei Jahre lang, nur sich selbst und seiner Arbeit verpflichtet, in der römischen Villa Medici leben, der französischen Entsprechung zur deutschen Villa Massimo. Der Weg bis zum Titelgewinn war allerdings steinig: In den Jahren um 1900 waren eine Fuge, eine Chorkomposition und eine Kantate abzuliefern –für einen Komponisten wie Maurice Ravel, der bei seiner ersten Bewerbung um den Rompreis 25 Jahre alt war, im Grunde eine Zumutung.

Kein ernsthafter Komponist schrieb damals im wirklichen Leben eine Kantate oder eine Fuge. Aber es half alles nichts, Ravel musste sich an die Regeln halten, mochten sie auch noch so konservativ und rückwärtsgewandt sein. 1901, bei Ravels zweiter Bewerbung um den Rompreis, war eine antike Schauergeschichte aus dem 7. Jahrhundert vor Christus in Kantatenform zu vertonen: Sardanapal, der König von Ninive, ist militärisch dem Untergang geweiht, seine treue Sklavin Myrrha besteigt mit ihm zusammen den Scheiterhaufen, während sie folgende Zeilen singend von sich geben: „Auf euren goldenen Schwingen, himmlische Flammen, kommt, uns zu den Sitzen der Götter zu entführen.“ Das war nicht eben die Form von Dichtung, mit der sich Ravel sonst kompositorisch beschäftigte.

Hier sein 1901 eingereichtes Bewerbungsstück "Myrrha":


Immerhin erhielt Ravel für diese Kantate eine lobende Erwähnung, im Urteil der Jury war von „melodischem Reiz“ und „Reinheit der melodischen Empfindung“ die Rede, was immer die Juroren auch darunter verstanden haben mögen.

1901 trat Ravel bereits zum zweiten Mal an, nachdem er im Jahr zuvor bereits in der Vorrunde ausgeschieden war. Die Geschichte von Maurice Ravel und dem Rompreis ist ebenso lang wie für den ersteren enttäuschend. Fünfmal hat Ravel sich beworben, gewonnen hat er den Preis nie.

Überhaupt wurde er in seiner Studienzeit am Pariser Conservatoire nicht gerade mit Erfolgserlebnissen überhäuft. Ravel besuchte das Conservatoire zweimal: zuerst zwischen 1889 und 1895; damals wollte er Pianist werden, was unter anderem an seinen körperlichen Voraussetzungen scheiterte; mit 1,57 m Körpergröße und 54 Kilo Gewicht war er einfach zu klein und zu zart für die komplizierte Klavierliteratur des 19. Jahrhunderts. So gibt es in seinem gesamten Klavierwerk keine Oktaven-Läufe, die hätte er einfach nicht spielen können. Jedenfalls endete diese erste Studienzeit damit, dass Ravel 1895 zuerst aus dem Harmoniekurs flog, und im gleichen Jahr auch noch aus dem Klavierkurs –er hat, wie berichtet wird, häufig einfach nicht genug geübt.

Er verließ das Konservatorium, um zweieinhalb Jahre später wieder einzutreten, diesmal in die Kompositionsklasse von Gabriel Fauré. Orchestrieren lernte er bei André Gédalge, der eine imponierende Persönlichkeit gewesen sein muss. Ravel jedenfalls war begeistert: „Ich bin glücklich zu sagen, dass ich die kostbarsten Elemente meines Metiers André Gédalge verdanke,“ schrieb er in seiner autobiographischen Skizze. Gédalge pflegte neue Mitglieder seiner Klasse mit dem Satz zu empfangen „Wollen Sie einen Preis im Kontrapunkt haben oder wollen Sie Ihr Handwerk erlernen?“ und er empfahl ihnen insbesondere Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ oder Mozarts Adagio und Fuge KV 546 als Studienobjekt, ganz sicher eines der harmonisch erstaunlichsten Werke, die wir von Mozart haben.


*******sima Frau
2.542 Beiträge
Manuskriptauszug (2)
Auch wenn Ravel zunächst vorhatte, Pianist zu werden – komponiert hat er auch in dieser Zeit schon. Kindliche Kompositionsversuche wird es auch bei ihm wahrscheinlich gegeben haben – niemand beginnt, ohne sich vorher ausprobiert zu haben, direkt auf dem Niveau der „Sérénade grotesque“; sie stammt aus den Jahren 1892/93 und ist das früheste Stück, das wir von Ravel haben. Ravel hat die Serenade seinem lebenslangen Freund und Kommilitonen, dem pianistisch offenbar hochbegabten Ricardo Viñes, gewidmet, der die Serenade 1901 auch uraufführte. Für lange Zeit blieb die Uraufführung auch die einzige, erst 1975, zu Ravels 100. Geburtstag, wurde sie wieder aufs Programm gesetzt und dann auch veröffentlicht. Ravel selber fand, dass in dieser Serenade der Einfluss Emmanuel Chabriers spürbar sei, bei dem Ravel zwar nie Unterricht hatte, der aber trotzdem eine wichtige Bezugsgröße für ihn war.



Der Pianist Ricardo Viñes, der sowohl die „Sérénade grotesque“ als auch das "Menuet antique" uraufführte, war nicht nur in den Studienjahren einer von Ravels besten und zuverlässigsten Freunden. Die beiden gingen natürlich auch zusammen in Konzerte, auch in solche, in denen Wagner gespielt wurde, der ohnehin damals in Frankreich hochaktuell war. „Wir sind in die Concerts Lamoureux gegangen,“ schrieb Ricardo Viñes 1897 in sein Tagebuch, „wo wir das Vorspiel zu Tristan gehört haben... Ravel berührte meine Hand und sagte: 'Es ist immer so, jedesmal, wenn ich das Vorspiel gehört habe'. Und tatsächlich – er, der so kalt und zynisch schien, er, Ravel, der exzentrische 'décadent', zitterte heftig und weinte wie ein kleines Kind.“

Die „Sérénade grotesque“ ist die nach heutigem Kenntnisstand früheste Komposition Maurice Ravels, geschrieben mit 17 oder 18 Jahren. Bei Ravels frühen Kompositionen gibt es etliche eher ungewöhnliche Titel. Die „Sérénade grotesque“ ist ein Beispiel, ein anderes wäre das "Menuet antique", die erste veröffentlichte Komposition Ravels. Der Titel "Menuet antique" ist eigentlich ein Anachronismus, in der Antike gab es noch keine Menuette, und Ravel wusste das natürlich. Genaues über diesen Titel wissen wir nicht, immerhin gibt es zwei Hinweise: Auf dem Jugendstil-Titelblatt der Originalausgabe sieht man einen griechischen Hirten mit einem Aulos, einem Blasinstrument, das es tatsächlich bereits in der Antike gab. Außerdem ist das Tempo viel langsamer – majestätisch lautet die Vortragsbezeichnung –als im barocken oder klassischen Menuett.


*******sima Frau
2.542 Beiträge
Manuskriptauszug (3)
Im Jahr 1901 musste Ravel nicht nur mit der Enttäuschung fertig werden, den Rompreis wieder nicht gewonnen zu haben, im selben Jahr komponierte er ein Werk, das die konservativen Jury-Mitglieder vollends davon überzeugte, dass Ravel an die
Kakophonie verloren sei, und dass man ihm schon deshalb auch künftig nie und nimmer den Rompreis zuerkennen könne. Tatsächlich ist der dritte Preis, den Ravel 1901 erhielt, die beste Platzierung, die er bei seinen insgesamt fünf Bewerbungen erhielt. Das Werk, das er 1901 nach der missglückten Bewerbung schrieb, war ein Meilenstein der Klavierliteratur: Ravels Jeux d'eau, die Wasserspiele, in denen erstmals und radikaler als in irgendeinem anderen Klavierwerk dieser Zeit, die in die Jahre gekommene romantische Klangsprache verlassen wird und über die Ravel selbst sagte: „Die Jeux d'eau, 1901 erschienen, stehen am Ursprung aller pianistischen Neuerungen, die man in meinem Werk hat bemerken wollen. Dieses Stück, inspiriert vom Geräusch des Wassers und der musikalischen Laute von Springbrunnen, Kaskaden und Bächen, ist nach Art eines ersten Sonatensatzes auf zwei Themen gebaut, ohne sich jedoch dem klassischen tonalen Schema zu unterwerfen.“ Kein Wunder, dass die Uraufführung durch den treuen Ricardo Viñes irritierte Reaktionen hervor rief; meist wurden die „Jeux d'eau“ mit dem Begriff kakophon belegt –so zum Beispiel das vernichtende Urteil von Camille Saint-Saëns.

https://www.google.com/searc … q=ravel+jeux+d%27eau+youtube

Zurück zum Rompreis: Viermal hatte Ravel teilgenommen, in jedem Jahr zwischen 1900 und 1903. Das Ergebnis war immer das gleiche, über den dritten Platz des Jahres 1901 kam er nie hinaus. 1904 bewarb er sich nicht, er kannte inzwischen schließlich die Jury und deren Auswahlkriterien zur Genüge und wusste, dass er keine Chance haben würde. 1905 war das Jahr seines 30. Geburtstags, damit erreichte Ravel die Altersgrenze für den Rompreis. Warum er 1905 wieder teilnahm, wissen wir nicht,vielleicht wollte er es einfach noch einmal wissen.

Das Ergebnis hätte nicht blamabler ausfallen können – blamabel nicht für Ravel, sondern für die Jury. Er verfüge nicht über genug technisches Können, um zur Finalrunde zugelassen zu werden, lautete das Urteil. Diese Einschätzung war nun eine schlichte Unverschämtheit, Ravel hatte nicht nur seine „Jeux d'eau“ komponiert, sondern auch sein einziges Streichquartett und die Ouvertüre „Shéhérazade“, der einzige überlebende Teil eines Opernprojektes. Kurz: Ravel war ein zwar nicht unumstrittener, aber schon damals gestandener Komponist.

In der Folge des Urteils der Rompreis-Jury, das zu Recht als Skandal empfunden wurde, kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen mit weit reichenden Konsequenzen. Théodor Dubois, der Direktor des Conservatoire, trat ebenso zurück wie einige seiner Fakultätsmitglieder. Eine auffallend sachliche Stellungnahme gab der Schriftsteller und Musikkritiker Romain Rolland ab: „Ich vertrete in dieser Affäre absolut keine Interessen,“ schrieb er. „Ich bin kein Freund Ravels. Ich kann sogar behaupten, dass ich persönlich seiner subtilen und raffinierten Kunst keine Sympathie entgegenbringe. Aber der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass Ravel nicht nur ein vielversprechender Schüler ist, er ist heute schon einer der meistbeachteten jungen Meister unserer Schule, die nicht viele davon aufzuweisen hat... Ravel bewirbt sich um den Rompreis nicht als Schüler, sondern als ein Komponist, der sein Können bereits unter Beweis gestellt hat. Ich bewundere die Komponisten, die es gewagt haben, über ihn zu urteilen. Wer wird nun über sie urteilen?“

Eines der Werke, die 1905 längst existierten und die mit zur Grundlage von Ravels Ruhm wurden, ist sein Streichquartett F-Dur.


*******ltra Mann
1.393 Beiträge
aaaaaah, dieses herrliche Quartett wollte ich eigentlich vorstellen . . . *smile*
Von dieser Musik geht ein enormer Zauber aus, eine geradezu betörende Süße.

Und das ist hier mit viel Gefühl gespielt!
*******ltra Mann
1.393 Beiträge
Ravels zweite kammermusikalische Großtat war sein Klaviertrio in a-Moll.
Er schrieb es im Sommer 1914, während der 1. Weltkrieg ausbrach. Das Entsetzen lauerte im Hintergrund, aber die Klänge sind heiter und gelöst, im ersten Satz sogar beseelt – wie um das Grauen dieser Katastrophe in die Schranken zu weisen.

Für mich persönlich war dieses Trio die erste wirklich schöne Musik nach drei Wochen Rekrutenausbildung bei der NVA. Ich hatte mich nachts heimlich in den Klubraum der Kompanie geschlichen, um Radio zu hören.


*******ltra Mann
1.393 Beiträge
Ich empfinde die musikalische Sprache Ravels oft als sehr bildhaft, so auch in seinem frühen „Jeux d`eau”.
Mit welchen Bildern eines französischen Impressionisten könnte man diese Musik in Beziehung setzen?


*******uck Mann
138 Beiträge
Danke für all die wunderbaren Beiträge.
Ich merke da, wie sehr durch den beruflichen Alltag (Proben und Aufführungen) mein eigener Musikgenuss eingeschränkt wurde. War ich wärend des Studiums so oft wie möglich in allen zugänglichen Konzerten, hat sich das doch sehr eingeschränkt. Fünf, sechs Abende im Theater jede Woche mit Proben und Vorstellungen, engt dann doch ein. Und ab und zu braucht man was anderes als Musik.
Ich merke, dass ich mich in dieser Hinsicht auf die Zeit danach wieder freuen kann. Bisher war mein Denken eher darauf fokusiert, dass ich nicht mehr Spielen darf.
Schöne neue Aussichten.
Hier eine Aufnahme des Klavierkonzertes mit Michelangeli, Celibedache und dem LSO.
Ich habe diese Version vor allem wegen des Momentes bei 24.10 ausgewählt. Ein echter Moment, den meist nur die Musiker erleben, *zwinker*


*****der Mann
6.987 Beiträge
*rotfl* das kenne ich nur zu gut....herrlich. Ja sowas sehen nur wir ausführende Musiker
*******sima Frau
2.542 Beiträge
Manuskriptauszug (4)
Man nennt sie häufig in einem Atemzug, weil sie erstens beide Franzosen waren, weil sie zweitens fast gleich alt waren und weil sie drittens beide Repräsentanten des musikalischen Impressionismus sind: Claude Debussy und Maurice Ravel... Doch trotz gegenseitiger Wertschätzung: Es lief nicht immer alles glatt zwischen den beiden.

„Achtung, die Apachen“. Warum ein Zeitungsverkäufer diesen Satz durch die Pariser Nacht schrie, ist nicht ganz klar. Ein Angriff des gleichnamigen Indianerstammes war zu Anfang des 20. Jahrhunderts in der französischen Metropole kaum zu befürchten. Doch der Satz hatte Wirkung: Einer Gruppe junger Männer, die zufällig des Weges kam, gefiel der Schrei des Zeitungsverkäufers so gut, dass sie sich von Stund' an „Apachen“ nannten. Die jungen Männer waren allesamt in der Kunstszene unterwegs, Maler waren dabei wie Paul Sordes, Dichter wie Tristan Klingsor, der eigentlich Léon Leclère hieß, vor allem aber Musiker wie Maurice Ravel, der schon bald das künstlerische Zentrum der Apachen bildete. Thematische Begrenzungen gab es keine. Léon-Paul Fargue, einer der Apachen, beschrieb die Atmosphäre so: „Ravel teilte unsere Vorlieben, unsere Schwächen, unsere Manie für chinesische Kunst, für Mallarmé, Verlaine, Rimbaud und Corbière, Cézanne und van Gogh, Rameau und Chopin, Whistler und Valéry, für die Russen und Debussy.“

Es muss hoch her gegangen sein bei den wöchentlichen Zusammenkünften, die in der Regel Samstag Abends stattfanden und die sich bis spät in die Nacht hinein zogen. Es ging so hoch her und so laut zu, dass die Anwohner protestierten und die Apachen ihre Treffen schließlich nach Auteuil verlegten, einem akustisch weniger gefährdeten Stadtteil – was im übrigen auch Rückschlüsse zulässt auf die offenbar entspannte Mietsituation im Paris jener Jahre. Versuchen Sie heute mal, eine Bleibe zu finden für etwa zehn bis zwölf Musik machende junge Männer. Weibliche Mitglieder hatten die Apachen nicht. Und wie es sich für eine solche Gruppe gehört, hatte sie nicht nur einen Namen, sondern auch ein Erkennungszeichen. Weil bei den Apachen die russischen Komponisten der damaligen Gegenwart besonders hoch im Kurs standen, war ihr Erkennungszeichen der Beginn von Alexander Borodins zweiter Sinfonie. (zur Erinnerung für diejenigen, die diese Eingangstakte kurz anspielen wollen: KLASSIK: KOMPONIST des Monats, IX. Teil).

Die Verbindung zwischen Ravel und zumindest einigen der Apachen muss ziemlich eng gewesen sein. Die fünfteilige Sammlung von Klavierstücken mit dem fast schon psychoanalytisch zu deutenden Titel „Miroirs“ -Spiegel – ist fünf Mitgliedern der Apachen gewidmet, darunter war auch der Pianist Ricardo Viñes, der 1906 die Klavierfassung der Miroirs wie so viele andere Klavierwerke Ravels uraufführte. „Die Miroirs 1905 bilden eine Sammlung von Klavierstücken, die in der Entwicklung meiner Harmonik eine recht beträchtliche Wandlung markieren, sodass selbst diejenigen Musiker aus der Fassung gebracht wurden, die bis dahin am meisten mit meiner Kompositionsweise vertraut waren“, schrieb Ravel selbst über die Miroirs. Das vierte der fünf Stücke heißt „Alborada del Gracioso“ - Morgenständchen des Narren – und wurde in der Orchesterfassung, die Ravel bald anfertigte, populärer als im klavieristischen Original.

Ich stelle hier beide Versionen ein, zum Vergleich:





Die Apachen waren es auch, die zum ersten Mal Ravels zwischen 1903 und 1905 komponierte Sonatine für Klavier zu hören bekamen, natürlich in der Wiedergabe durch Ravel selbst. Das genaue Aufführungsdatum kennen wir zwar nicht, aber sehr wahrscheinlich lag es noch vor der öffentlichen Uraufführung, die fand erst im März 1906 statt.

Hier eine Welte-Mingnon-Aufnahme der ersten beiden Sätze, die Ravel selbst eingespielt hat:

*********vibus Mann
1.020 Beiträge
Zitat von *******uck:

Hier eine Aufnahme des Klavierkonzertes mit Michelangeli, Celibedache und dem LSO.
Ich habe diese Version vor allem wegen des Momentes bei 24.10 ausgewählt. Ein echter Moment, den meist nur die Musiker erleben, *zwinker*

Celi und Michelangeli, zwei "schräge Vögel", aber geniale Künstler. Trotz der aufnahmetechnischen Defizite ein Genuss!
*********vibus Mann
1.020 Beiträge
Zitat von *******sima:
Das vierte der fünf Stücke heißt „Alborada del Gracioso“ - Morgenständchen des Narren – und wurde in der Orchesterfassung, die Ravel bald anfertigte, populärer als im klavieristischen Original. Ich stelle hier beide Versionen ein, zum Vergleich:
Danke Tantrissima für diese interessante Gegenüberstellung. Ich kannte bisher nur die Orchesterfassung. Das Klavieroriginal hat seinen eigenen Reiz, besonders wenn es so bravourös dargeboten wird wie von Sjatoslav Richter. Sehr virtuos! Fast könnte man meinen, es seien zwei verschiedene Stücke. Das liegt nach meinem Empfinden an Ravels Meisterschaft im Orchestrieren. (Der Boléro lebt nur davon. Die endlosen Wiederholungen wären ansonsten unerträglich.) Die Klangfarben, die er hervorzaubert, lassen die Melodien in einer Weise hervortreten, wie es das Klavier nicht schaffen kann.
*******sima Frau
2.542 Beiträge
Manuskriptauszug (5)
Ravel hatte, wie man heute sagen würde, einen Migrationshintergrund. Sein Vater Joseph Ravel war Schweizer und Ingenieur von Beruf; seine Mutter, die er geradezu abgöttisch liebte, kam aus dem Baskenland, das Ravel fast genauso sehr liebte wie seine Mutter, die folglich spanischer Nationalität war. Es genügt ein Blick ins Werkverzeichnis: Habanera, Rhapsodie Espagnole und die Oper L'Heure Espagnole: in etlichen von Ravels Werken schlägt sich diese Liebe zu Spanien auch musikalisch nieder.

Ravel war auch durchaus nicht der einzige französische Komponist mit einer ausgeprägten Liebe zum südlichen Nachbarn, bei Georges Bizet war das ganz genauso. Ihm gelang nicht nur das kleine Kunststück, mit „Carmen“ als Franzose die spanische Nationaloper zu schreiben, sondern in dieser Oper auch eine Habanera – nein, nicht eine, sondern die Habanera – unterzubringen. Dass die Habanera ursprünglich aus Kuba stammt und deshalb nach Kubas Hauptstadt Havanna benannt ist, war Bizet wahrscheinlich genauso gleichgültig wie Ravel 20 Jahre später...

Während Bizets Habanera zwar nicht von Anfang an, aber sehr bald nach der Uraufführung ein großer Erfolg war, hatte Ravel mit seiner Habanera nicht so viel Glück. Das mag an den Umständen ihrer Aufführung gelegen haben, die im März 1898 in einem Konzert der Société Nationale de Musique stattfand. In dieser Gesellschaft waren vor allem musikalisch konservative Menschen versammelt, die mit Ravels Musik herzlich wenig anfangen konnten. Es dauerte zwar noch eine Weile, aber schließlich zog Ravel die Konsequenzen. „Die Gesellschaften,“ schrieb er an seinen Komponisten-Kollegen Charles Koechlin, “entrinnen nicht den Gesetzen der Entwicklung. Nur hat man die Freiheit, sich aus ihnen zurück zu ziehen. Das mache ich nun, indem ich mit derselben Post meine Demission als Mitglied der Gesellschaft absende... Ich werde eine neue Gesellschaft gründen, eine unabhängigere, zum mindesten in ihren Anfängen.“

Genau das tat Ravel auch und rief die Société Musicale Indépendante ins Leben, die unabhängige musikalische Gesellschaft. Immerhin war bei der Uraufführung der Habanera anno 1898 mindestens ein Hörer von diesem Stück derart beeindruckt, dass er Ravel um das Manuskript bat.



Mag sein, dass Ihnen das Stück bekannt vorkommt, Ravel orchestrierte es später und machte es zum dritten Satz seiner Rhapsodie espagnole.



Dass er das Original für zwei Pianisten schrieb, hat sicher auch mit Ravels eigenen pianistischen Erfahrungen zu tun. Nachdem er sich mit Ricardo Viñes zu Beginn seines Studiums angefreundet hatte, müssen die beiden Berge von Vierhändig-Noten durchgeackert haben; Mozart spielte dabei eine herausragende Rolle. Einige Jahre später traf Ravel auf einer Abendgesellschaft mit dem musikliebenden und wohlhabenden Maler Jacques Emil Blanche zusammen, der gerade einen Partner zum Vierhändigspielen suchte. Ravel war grundsätzlich einverstanden, allerdings machte er eine Bedingung, an der das Vorhaben schließlich scheiterte: es dürfe kein Beethoven, kein Wagner, kein Schumann, überhaupt keine romantische Musik und nach Möglichkeit ausschließlich Mozart aufs Notenpult. Alles Reden war vergeblich, nichts konnte Ravel von seiner radikalen Position abbringen....

Der Hörer der Uraufführung von Ravels Habanera, der hinterher um die Noten bat, hieß übrigens Claude Debussy. Und der wollte die Noten aus recht eigennützigen Gründen haben. 1903, fünf Jahre nach der Uraufführung der Habanera, schrieb Debussy seine „Estampes“, deren zweiter Satz „La soirée dans Grenade“ einige auffällige Ähnlichkeiten mit der Habanera aufweist – angefangen vom rhythmischen Grundmodell „dam, da dam dam; dam, da dam dam“. Ravel und Debussy stritten sich daraufhin darüber, wer beim anderen abgekupfert habe – obwohl nach Lage der Dinge der Sachverhalt eindeutig ist....



Debussy und Ravel kamen sich noch mindestens ein weiteres Mal in die Quere, und dieser Fall hat parapsychologische Qualitäten: Beide entschlossen sich nämlich im Jahre 1913, jeweils drei Gedichte von Stéphane Mallarmé zu vertonen, obwohl beide wussten, dass Mallarmé solche Vertonungen nicht schätzte. Beide Zyklen wurden nahezu gleichzeitig, noch dazu im selben Verlag, veröffentlicht. Die Titel der kleinen Dreier-Zyklen sind auch identisch: Trois Poèmes de Stéphane Mallarmé. Dass auch von den drei Gedichten, die sich Debussy und Ravel aussuchten, zwei identisch sind, grenzt ans übersinnliche.

Das fand auch Debussy, der dieses eigenartige Zusammentreffen als „ein Phänomen von Autosuggestion, mitteilenswert der Medizinischen Akademie“ ansah. Ravel war mit seinen Liedern als erster fertig, und da Mallarmé schon 15 Jahre tot war, fragte er dessen Schwiegersohn Edmond Bonniot nach einer Erlaubnis für die Veröffentlichung der Lieder. Die erhielt er problemlos. Als Bonniot wenig später eine ganz ähnliche Anfrage noch einmal erhielt, verweigerte er die Genehmigung für die beiden doppelt komponierten Lieder – die Rechte seien schon an Ravel vergeben. Es ist Ravels Großzügigkeit zu verdanken, dass die Sache gütlich geregelt wurde; er bat Bonniot, auch Debussy die Genehmigung zu erteilen.

Hier die beiden Vertonungen des Mallarmé-Gedichts „Soupir“, zunächst die von Debussy, der ein Stimmungsbild einer „herbstlichen Träumerei“ zeichnet, wie Mallamé dieses Gedicht charakterisiert hat.



Hier im direkten Vergleich Ravels Vertonung desselben Gedichts, die deutlich zweigeteilt ist: Die erste Strophe ist von flirrenden Klavier-Arabesken umrankt, die zweite von schwergewichtigen Akkorden.



Mallarmé war nicht der einzige Dichter und Schriftsteller, der Vertonungen seiner Werke reserviert gegenüber stand, um es sehr vorsichtig auszudrücken. Aber der war ja schon tot und seine Rechtsnachfolger, in diesem Fall sein Schwiegersohn, hatten ein entspannteres Verhältnis zum Thema Musikalisierung.

Beim Autor Jules Renard, dessen Tierdarstellungen Ravel unter dem Titel „Histoires Naturelles“ vertonen wollte, stieß Ravel auf vollkommenes Desinteresse. Ein guter Bekannter Ravels, Thadée Natanson, versuchte, Jules Renard von der Sinnhaftigkeit einer Vertonung zu überzeugen. Renard, der seine absolute Inkompetenz in musikalischen Fragen offen zugab, hielt diese Unterhaltung fest: „Thadée Natanson sagte mir: Ein Herr möchte einige Ihrer Histoires naturelles vertonen. Er gehört zur Avantgarde, auf die man zählen kann und für die Debussy bereits ein alter Hut ist. Was sagen Sie dazu? - Gar nichts. - Also berührt es Sie doch! - Überhaupt nicht. - Was soll ich ihm von Ihrer Seite ausrichten? - Was Sie wollen. Sagen Sie ihm Dankeschön. - Würden Sie sich nicht gerne seine Musik von ihm vorspielen lassen? - Oh nein, nein!“

Auch eine Intervention Ravels bei Jules Renard erbrachte kein positives Ergebnis, und die Uraufführung des Zyklus endete in einem Fiasko. Ein Kritiker bemerkte: „Ich bin der Meinung, dass es ihm [Ravel] gelungen ist, eine Musik zu finden, die sehr wohl zu den Texten seiner Wahl passt: sie ist ebenso preziös, ebenso mühselig, ebenso dürr, ebenso wenig musikalisch.“ Ein anderer Berichterstatter meinte, man müsse „erbarmungslos kämpfen“, um ähnliche Versuche einer „musikalischen Dekomposition“ zu verhindern. Hier also ein frühes Beispiel für musikalische Dekomposition:

*******ltra Mann
1.393 Beiträge
Auf der letzten Asientournee der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle 2017 gab es das Konzert in Hongkong mit dem Ravel-Klavierkonzert und dem Pianisten Seong-Jin Cho.
Mir gefällt an dieser Aufnahme natürlich die Klarheit und Transparenz des Orchesters, aber auch ein Pianist, der sich auf dem Weg macht zu den Großen seiner Zunft.


*******sima Frau
2.542 Beiträge
Großartig - dankeschön! *bravo*
*******sima Frau
2.542 Beiträge
Manuskriptauszug (6)
Ravel und der erste Weltkrieg

Krieg und Freundlichkeit gegenüber Mitgliedern feindlicher Nationen passen nicht wirklich zusammen. Man wird also ein gewisses Verständnis haben müssen für jene Musiker und Schriftsteller, die 1916 – der erste Weltkrieg tobte bereits seit zwei Jahren – die „Liga zur Verteidigung der französischen Musik“ gründeten, deren Ziel es war, Aufführungen deutscher und österreichischer Komponisten zu verbieten bzw. zu verhindern.

Etwa 80 französische Musiker hatten bereits unterschrieben, darunter auch Camille Saint-Saëns, und die Initiatoren wollten natürlich auch Ravels Unterschrift. Aber da kamen sie an den richtigen: „Es wäre gefährlich für die zeitgenössischen französischen Komponisten, die Produkte ihrer ausländischen Kollegen systematisch zu ignorieren und so eine Art nationale Cliquenwirtschaft zu praktizieren: unsere gegenwärtig so überaus reiche musikalische Kunst würde alsbald verkümmern, sich in akademischen Formen abkapseln. Mir macht es wenig aus, dass beispielsweise Schönberg österreichischer Staatsbürger ist. Er ist dennoch ein Musiker von hohem Wert... Ferner bin ich froh, dass Bartók und Kodály Ungarn sind und dies in ihren Werken mit solcher Überzeugung zum Ausdruck bringen... Sie sehen, meine Herren, dass unsere Auffassungen über diese Punkte so voneinander abweichen, dass ich die Ehre, mich Ihnen anzuschließen, ablehnen muss.“

Schon zwei Jahre zuvor, direkt nach Ausbruch des Krieges, wird in Ravels Briefen eine große Betroffenheit über die Kampfhandlungen deutlich. Am 3. August 1914 schreibt er an einen Freund: „Seit vorgestern dieses Sturmläuten, diese weinenden Frauen und vor allem die schreckliche Begeisterung der jungen Leute und aller Freunde, die abreisen mussten und von denen ich keine Nachricht habe. Ich kann nicht mehr... Sie meinen, dass ich nicht mehr arbeite? Ich habe niemals so gearbeitet, mit einer verrückteren heldenhafteren Sucht. Ja, mein Alter, Sie können nicht ahnen, wie sehr ich diesen Heroismus brauche, um gegen den anderen zu kämpfen, der vielleicht der natürlichere ist. Bedenken Sie, mein Alter, das Grauen dieses Kampfes, der nicht eine Sekunde aussetzt. Was wird er einbringen?“

Das Werk, an dessen Fertigstellung Ravel im August 1914 so fieberhaft arbeitete, war sein Klaviertrio:



Der Kriegsgegner Ravel, der in den Zitaten vorhin zum Ausdruck kam, ist aber nur die eine Seite. Gleichzeitig versuchte Ravel nahezu um jeden Preis, selber Soldat zu werden.

Kaum war das Klaviertrio Ende August fertig, fuhr Ravel in die nächste Garnisonstadt, nach Bayonne. Doch Ravel, der von schmächtiger Statur war, wog zwei Kilo zu wenig, um Mitglied der kämpfenden Truppe werden zu können. Also meldete er sich zu freiwilligen Pflegerdiensten in einem Krankenhaus und schrieb über die dortigen Zustände, jetzt wieder mit der von ihm gewohnten ironischen Distanz: „Übrigens hat man in Bayonne allerlei Mühe, die vielen Damen vom Roten Kreuz loszuwerden, die Geld gegeben haben, um in den Lazaretten stören zu dürfen, und die sich ärgern, weil sie den Verwundeten die Füße waschen sollen, die sich hinter ihrer Unkenntnis verstecken, um keine Wunden verbinden zu müssen, und murren, weil man ihnen keinen Teesalon eingerichtet hat.“

Im Verlauf des ersten Weltkrieges gelang es Ravel aber doch noch, zur kämpfenden Truppe eingezogen zu werden - als Kraftfahrer erlebte er das entsetzliche Gemetzel der Schlacht bei Verdun und sah, wie er schreibt, „das unbeschreiblichste Chaos, hörte den betäubendsten Lärm.“

Trotzdem denkt er in all diesem unvorstellbaren Grauen an seine Musik, zum Beispiel an „eine französische Suite – nein, nicht so, wie Sie sich das vorstellen, die Marseillaise wird nicht vorkommen, aber eine Forlane, eine Gigue, jedoch kein Tango.“ Er schreibt diese Klavier-Suite tatsächlich und nennt sie „Le Tombeau de Couperin“ - Das Grabmal Couperins. Mit Couperin hat das Werk insofern zu tun, als Ravel sich Couperins Suiten zum Vorbild nahm; viel mehr noch aber hat Ravels Suite zu tun mit seiner Gegenwart: jeder der sechs Sätze ist einem gefallenen Freund gewidmet.

Ich stelle erneut zwei Versionen davon ein, zuerst die ursprüngliche, für Piano solo, danach die (später entstandene) Orchesterversion.




*******sima Frau
2.542 Beiträge
Manuskriptauszug (7)
1918 war kein künstlerisch besonders ergiebiges Jahr für Maurice Ravel. Das lag weniger an den kriegsbedingten Turbulenzen – für Ravel war der Kriegseinsatz schon seit 1917 beendet – als am Tod seiner Mutter, die er „seinen einzigen Lebensgrund“ nannte; ihr Tod warf Ravel völlig aus der Bahn und noch drei Jahre später schrieb er:, „dass meine Verzweiflung von Tag zu Tag wächst“.

Schreibblockade wäre für Ravels Zustand im Jahr 1918 noch eine schmeichelhafte Umschreibung. Immerhin schrieb er eines der eigenartigsten und rätselhaftesten Stücke der gesamten Klavierliteratur: „Frontispice“ für Klavier zu fünf Händen – mutmaßlich das einzige Stück für diese abenteuerliche Besetzung und die Frage, warum es ausgerechnet fünf Hände sind, kann auch nicht befriedigend beantwortet werden. Frontispice bedeutet Titelblatt oder Frontpartie, was auch nicht wirklich weiter hilft. Sicher ist nur, dass dieses Stück mit nicht einmal zwei Minuten Dauer eines der kürzesten ist, die Ravel jemals schrieb; und dass es sich um ein Stück von geradezu verstörender Modernität handelt. Es ist wohl die radikalste Musik, die wir von Ravel haben.



Und weil wir gerade bei ungewöhnlichen Aufführungen sind: die gab es bei Ravel auch schon vor dem ersten Weltkrieg. Im Mai 1911 veranstaltete die von Ravel gegründete Société Musicale Independante ein Konzert, bei dem zwar die Stücktitel bekannt gegeben wurden, nicht aber deren Komponisten; die sollte das Publikum erraten. Der vierte Programmpunkt lautete „Valses nobles et sentimentales“, ein Schubert abgelauschter Titel,... Wie der Courrier Musical berichtet, hielten viele Hörer dieses Werk für ein „musikalisches Täuschungsmanöver“ aus Dissonanzen und falschen Noten. Zur Ehrenrettung des Publikums darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass auch einige Hörer richtig lagen und auf Ravel als Urheber tippten....

Valses nobles et sentimentales (franz.: Edle und gefühlvolle Walzer) ist ein Klavierwerk . Die Suite, bestehend aus acht Walzern, wurde 1911 für Klavier veröffentlicht, eine Version für Orchester folgte 1912. Das Werk ist dem französischen Pianisten und Komponisten Louis Aubert gewidmet, der es am 9. Mai 1911 in Paris uraufführte....

Wie schon bei Ravels frühem Werk Jeux d’eau erfolgte die Veröffentlichung mit einem Zitat des Poeten Henri de Régnier: „ […] le plaisir délicieux et toujours nouveau d'une occupation inutile“ (übersetzt etwa: Das köstliche und immer neue Vergnügen einer nutzlosen Tätigkeit).

Hier wieder zuerst die Version für Piano Solo, von Ravel selbst gespielt als Welte-Mignon-Aufnahme, danach die orchestrierte Form:




*******sima Frau
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Manuskriptauszug (8)
Sie kennen vielleicht einen der mehrfach unternommenen Versuche, den Stil anderer Komponisten nachzuahmen. Der Komponist Siegfried Ochs hat zum Beispiel das Kinderlied „S'kommt ein Vogel geflogen“ im Stil sämtlicher bedeutender Komponisten zwischen Barock und Romantik durchdekliniert, wenn auch auf eher bescheidenem kompositorischen Niveau und sicher vor allem als Spaß gemeint. Etwas ganz ähnliches hat auch Maurice Ravel unternommen, wenn auch nur mit zwei Komponisten, dafür aber handwerklich auf einem deutlich ambitionierteren Level.

„In der Manier von Chabrier und Borodin“ nannte Ravel 1913 sein neuestes Opus. Nun ist uns deutsch-österreichisch sozialisierten Musikkonsumenten der Individualstil dieser beiden Komponisten zwar nicht in jedem Fall geläufig, bei Borodin wird man trotzdem keine Mühe haben, einen Walzer im russischen Klanggewand zu erkennen.



Es ist schon irritierend: Ausgerechnet Maurice Ravel, dem von keinem Biographen und keinem Freund irgend eine erotische Beziehung attestiert wird, egal ob zu Männern oder zu Frauen; ausgerechnet Maurice Ravel, der immer wieder den Satz zu Protokoll gab: „Meine einzige Geliebte ist die Musik“; ausgerechnet Maurice Ravel, über den so wenige pikante Details bekannt wurden, dass man schließlich zur freien Erfindung Zuflucht nahm und von wilden Orgien in Ravels Haus mit bis zu 50 nackten Gästen phantasierte – ausgerechnet dieser jeder sexuellen Eskapade völlig unverdächtige Mann schrieb eine Oper, deren zentrales Handlungselement außereheliche Liebhaber sind und in der es von ziemlich handfesten sexuellen Anspielungen nur so wimmelt.

Ravel selbst verstand den Einakter „Die spanische Stunde“ als Wiederbelebung der Opera buffa mit neuen Mitteln. Die Geschichte spielt im Geschäft eines Uhrmachers, der viel außer Haus zu tun hat und dessen Frau – sie trägt den schönen Namen Concepcion, Empfängnis – vor allem damit beschäftigt ist, diverse Liebhaber voreinander zu verstecken, vorzugsweise in Standuhren. Diese mit Menschen gefüllten Uhren werden öfter auch mal transportiert, wobei Concepcion mehrdeutig befürchtet, der „Mechanismus des Pendels“ könne Schaden nehmen. Schließlich verschwindet der bärenstarke Ramiro mit Concepcion im Schlafzimmer und empfiehlt sich allein durch seine überzeugenden körperlichen Kräfte als neuer etatmäßiger Liebhaber, bevor das ganze Opernpersonal allmählich aus den verschiedenen Uhrenkästen klettert und sich zum Schlussensemble trifft. Auch der Hausherr ist plötzlich dazu gekommen, hält die anwesenden Herren in völliger Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten für wartende Kundschaft und entschuldigt sich für seine lange Abwesenheit....

Ravels musikalischer Ideenreichtum zeigt sich sowohl in der Verarbeitung von Uhrgeräuschen zu Beginn des Werkes als auch in den spanischen Musikeinflüssen, die besonders in der finalen Habanera zu hören sind. Neben der parodistischen Art des Librettos erinnert auch die Zitattechnik und die versteckte Opernparodie, mit der sich der Komponist gegen die Drame-lyrique Debussys und Massenets richtet, an das Operettengenre. Der komisch-erotische Einakter, der seinerzeit von Musikkritikern wegen der anzüglichen Doppeldeutigkeiten von Partitur und Handlung als „musikalische Pornografie“ bezeichnet wurde, gehört heute zu den reizvollsten Kurzopern. ...



Uraufgeführt wurde die Oper im Mai 1911. Ravel muss in dieser Zeit ordentlich unter Druck gestanden haben, denn gleichzeitig hatte er Sergej Diaghilew, dem Chef der berühmten Ballets russes, die Komposition eines großen Balletts versprochen. Die Arbeit an „Daphnis und Chloé“ muss nervenaufreibend gewesen sein. „Fast jede Nacht Arbeit bis 3 Uhr morgens,“ schrieb Ravel an eine Freundin. „Was die Dinge kompliziert, ist die Tatsache, dass Fokin (der Choreograph und Autor des Librettos) kein Wort französisch kann. Ich aber kann russisch nur fluchen.“

Es wurde die üppigste Partitur, die Ravel jemals schrieb, die Orchesterbesetzung ist ehrfurchtgebietend. Hier ein Auszug nur aus dem Schlagwerk: Pauken, große Trommel, Becken, Triangel, Trommel, Baskentrommel, kleine Trommel, Kastagnetten, Celesta und Glockenspiel. Für heutige Hörer entfesselt Ravel eine Orgie an Klangsinnlichkeit, für die Hörer des Uraufführungsjahres 1912 herrschte, wie einer von ihnen schrieb, „in Harmonik und Polyphonie“ die blanke Anarchie. Auch die russischen Ballett-Tänzer waren mit Ravels Komposition durchaus nicht einverstanden und erklärten das Stück schlichtweg für untanzbar – was in hohem Maße erstaunlich ist, denn dieselbe Truppe hatte ein Jahr darauf wenig Mühe mit Strawinskys „Le Sacre du Printemps“, das die Welt der Musik noch viel deutlicher umkrempelte als Ravel das jemals tat.

@*******uck hat eine Aufnahme davon bereits weiter oben eingestellt: KLASSIK: KOMPONIST des Monats, X. Teil. Die Cover-Abbildung zeigt das Bühnenbild der Uraufführung von 1912, geschaffen von Léon Bakst.
*******sima Frau
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Manuskriptauszug (9)
„Flüchtig lassen sich durch schwebende Nebelschleier hindurch walzertanzende Paare erkennen. Nach und nach lösen sich die Schleier auf: man erblickt einen riesigen Saal mit zahllosen im Kreise wirbelnden Menschen. Die Szene erhellt sich zunehmend; plötzlich erstrahlen die Kronleuchter in hellem Glanz. Eine kaiserliche Residenz um 1855.“

Diese Zeilen gab Maurice Ravel als eine Art Regieanweisung einem Orchesterwerk mit, das Sergej Diaghilew, der Chef der Ballets russes, der die Ballett-Szene in Paris in den 1910er Jahren nach Belieben beherrschte, in Auftrag gegeben hatte. Thema: „Wien und seine Walzer“. Und genau das war auch der ursprüngliche Titel des Werks: Wien!

Wiener Walzer, Kronleuchter, kaiserliche Residenz – das klingt nach harmlosem Tanzvergnügen der besseren Gesellschaft in der guten alten Zeit. Tatsächlich hatte Ravel die Jahreszahl 1855, die er seinem Werk mitgegeben hatte, nicht zufällig gewählt. Die 1850er Jahre waren ein besonders repressiver Abschnitt der österreichischen Geschichte, die Menschen lenkten sich, so gut es ging, durch Walzer tanzen ab. Was Ravel komponierte, war denn auch alles andere als ein harmloser Zeitvertreib; je länger „La Valse“ dauert, desto mehr mündet das Stück in Schlagzeug-Gewalt und Chaos. Es ist schon noch ein Tanz – aber einer auf dem Vulkan. Wie auch anders unmittelbar nach dem Ende der Weltkriegs-Katastrophe, die Ravel ja selber miterlebt hatte.

Vor der öffentlichen Uraufführung gab es eine private Voraufführung des Werks in einer Fassung für zwei Klaviere, damit Diaghilew, dessen Truppe das Werk schließlich tanzen sollte, einen Klangeindruck von „La Valse“ bekam. Diaghilews Urteil: „Ravel, das ist ein Meisterwerk, aber es ist kein Ballett. Es ist das Porträt eines Balletts, das Gemälde eines Balletts.“ Ravel nahm sein Manuskript an sich und ging, ohne noch etwas zu sagen. Der Bruch zwischen ihm und Diaghilew war irreparabel, „La Valse“ wurde zunächst ausschließlich konzertant aufgeführt...

@*******uck hat das Werk bereits eingestellt und über seine persönlichen Erlebnisse damit berichtet: KLASSIK: KOMPONIST des Monats, X. Teil
Ich selbst empfinde es als einen der verstörendsten Walzer, die je komponiert wurden.


... Mit „La Valse“ als tanztheatralischem Bühnenwerk wurde es also nichts. Doch die Bühne interessierte Ravel im Grunde sein ganzes Leben lang, und er scheint dabei ziemlich skrupulös vorgegangen zu sein. Zwei Bühnenwerke hatte er noch vor dem ersten Weltkrieg vollendet - die erotische Komödie „L'Heure espagnole“ und das Handlungs-Ballett „Daphnis und Chloé -, drei weitere Opernpläne kamen über Ansätze bzw. Fragmente nicht hinaus. Jetzt, 1917, scheint er den Stoff gefunden zu haben, den er – vielleicht unbewusst – schon lange suchte: „L'Enfant et les sortilèges“ auf ein Libretto der damals hochberühmten Schriftstellerin und Journalistin Colette. Es gibt verschiedene Übersetzungen dieses Titels, eine klingt so bemüht wie die andere. „Das Kind und der Zauberspuk“ schlägt eine Musiktheater-Enzyklopädie vor, das Wörterbuch bietet „Verzauberungen“ an, meist wird der Titel gar nicht übersetzt.

Es geht um ein Kind, das all das tut, was es nicht tun soll, und all das nicht tut, was eigentlich seine Pflicht ist. Es macht keine Hausaufgaben, rebelliert gegen seine Mutter und zerstört lieber die Wohnungseinrichtung oder quält die Tiere. Die ersten Worte der lyrischen Fantasie – so der Untertitel – singt das Kind: „Ich habe keine Lust, meine Aufgaben zu machen, ich habe keine Lust, nach draußen zu gehen. Ich habe Lust, alle Kuchen aufzuessen, ich habe Lust, den Kater am Schwanz zu ziehen..."

Das Verhalten des Kindes bleibt nicht ohne Konsequenzen: Die Möbel beginnen zu leben und jagen dem Kind eine Heidenangst ein, auch die Tiere sprechen und klagen das Kind an. Am Ende des ersten Teils der Oper steigt ein kleiner buckliger alter Mann aus einem Buch und erschreckt das Kind mit Rechenaufgaben, bevor ein Kater und eine Katze ein Duett miauen. Erst, als sich das Eichhörnchen im allgemeinen Chaos verletzt und vom Kind, das plötzlich Mitgefühl zeigt, verbunden wird, schließen die Tiere ihren Frieden mit dem Kind.

Ravels Arbeit an „L´Enfant et les sortilèges" erstreckte sich über einen Zeitraum von neun Jahren. Bereits 1916 erhielt er von dem Direktor der Pariser Opéra den Auftrag, Colettes Libretto mit dem Titel „Divertissement pour ma petite fille" zu vertonen. In den folgenden Jahren entwarf er zwar hin und wieder eine Idee, doch bis 1921 brachte er keine Note zu „L´Enfant et les sortilèges" zu Papier. Schlussendlich entwickelte Ravel zu Colettes phantasievollem Libretto eine farbenfrohe Musik, die sich durch ein Nebeneinander stilistisch unterschiedlicher Episoden auszeichnet, dabei stehen Belcanto-Elemente neben Operetten- und Music-Hall-Klängen und Modetänzen der 20er-Jahre, auch vor aus der Unterhaltungsmusik entlehnten Klängen schreckte Ravel nicht zurück. Am 21. März 1925 wurde die Fantaisie lyrique in Monte Carlo uraufgeführt und von Publikum und Kritik positiv aufgenommen.

Theodor W. Adorno, der eigentlich andere Komponisten und andere Texte bevorzugte, war restlos begeistert: „Bei Ravel muss man sich endlich nicht schämen, wenn man die Texte liest. Zumal das Buch der Colette. Nach den Noten zu urteilen und in Kenntnis von Ravels Wesen: 'L'Enfant et les sortilèges' muss sein Meisterstück sein. Kindlich verzaubert ist jeder Takt bei ihm.“


*******sima Frau
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Manuskriptauszug (10)
Für Stoffe, in denen Kinder, Tiere und gerne auch eine Kombination von beiden vorkamen, muss Ravel ein Faible gehabt haben. Von den musikalischen Tierporträts der „Histores naturelles“ war ... bereits die Rede, in „L'Enfant et les sortilèges“ dreht sich die ganze Handlung um ein Kind und Tiere, und es ist verbürgt, dass bei Einladungen Ravel gelegentlich verschwand und später im Kinderzimmer aufgefunden wurde, vertieft ins Spiel mit den Kindern.

Im Jahre 1920 kaufte Ravel im kleinen Städtchen Montfort-L'Amaury etwa 50 Kilometer von Paris entfernt ein Haus, wie der Ravel-Biograph Hans Heinz Stuckenschmidt schreibt, ein Haus wie aus einem grotesken Spielzeugkasten, das Ravel Stück für Stück ganz nach seinem Geschmack eingerichtet hat. Auch die Einrichtung dieses Hauses, wie auch dessen Architektur, dokumentieren Ravels Hang zu allem Kleinen und Kindlichen. Selbst im Garten wuchsen Miniatur-Bäumchen und Liliput-Sträucher. Für Ravel war dieses Haus, das er „Belvedere“ nannte, ein Rückzugsort, offenbar hat er die Atmosphäre dieses Hauses als besonders inspirierend empfunden.

„Da ist das Duo für Violine und Cello, das sich über anderthalb Jahre hingezogen hat und welches ich jetzt zu beenden beabsichtige,“ schrieb er an einen befreundeten Musikkritiker. „Bis dahin will ich Montfort nicht verlassen und auch auf keine Briefe antworten, die sich inzwischen zu einer majestätischen Pyramide auftürmen.“ Auch in einem anderen Brief aus dieser Zeit wird das neue Haus ausdrücklich erwähnt: „Die Sonate für Violine und Violoncello stammt aus der Zeit, als ich mich in Montfort-L'Amaury einrichtete. Ich glaube, dass diese Sonate einen Wendepunkt in meiner Laufbahn bezeichnet. Die Entkleidung ist da zum Äußersten getrieben. Verzicht auf harmonische Reize; mehr und mehr betonter Umschwung im Geiste der Melodie.“...

Konzertmeister Roland Greutter und Solo-Cellist Andreas Grünkorn vom NDR Elbphilharmonie Orchester haben Maurice Ravels Hommage an Claude Debussy aufgenommen. Das Werk mit der Widmung "À la mémoire de Claude Debussy" gilt vielen als das bedeutendste kammermusikalische Werk für Violine und Violoncello. Stieß es anfangs aufgrund seiner anspruchsvollen und neuartigen Kompositionsweise nur auf wenig Gegenliebe beim Publikum, avancierte es mit der Zeit zu einem Meilenstein in der Literatur für Streichduo.

MAURICE RAVEL
Sonate für Violine und Violoncello

I. Allegro 0:14​
II. Très vif 5:09​
III. Lent 8:40​
IV. Vif, avec entrain 14:15


*******sima Frau
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Manuskriptauszug (11)
Lange bevor er das Haus in Montfort-L'Amaury als kindlichen Sehnsuchts- und Rückzugsort kaufte, hatte Ravel Stücke über Kinderthemen geschrieben. So komponierte er für die offenbar pianistisch versierten Kinder von Freunden, sechs und zehn Jahre alt, fünf vierhändige Stücke mit dem Titel „Ma Mère l'Oye“ - meine Mutter, die Gans. „Die Absicht, in diesen Stücken die Kindheitspoesie zu erwecken,“ schrieb Ravel, „hat mich natürlich dazu gebracht, meinen Stil zu vereinfachen... Das Werk wurde in Valvins für meine jungen Freunde Mimi und Jean Godebski geschrieben.“



Etwas später orchestrierte Ravel die Kinderstücke. Das tat er gerne und öfter, nicht nur bei seinen eigenen Werken. “L'Enfant et les sortilèges“ mag, um mit Adorno zu reden, Ravels Meisterstück sein, sein populärstes Stück ist es eher nicht. Das ist – neben dem Bolero - eine Orchestrierung: die von Modest Mussorgskis „Bildern einer Ausstellung“, die vor allem durch und nach Ravels Bearbeitung ihren weltweiten Siegeszug antraten.

Anlass für die Orchesterfassung war ein Auftrag des Dirigenten Sergej Kussewitzky. Auch wenn keine andere Orchestrierung es mit der von Ravel an Popularität, womöglich auch an Qualität aufnehmen kann – Ravels Bearbeitung war nicht die erste und schon gar nicht die einzige. Es gibt Bearbeitungen der „Bilder einer Ausstellung“ für Klaviertrio, für Akkordeon, für Orgel, für Klavier und Orchester, für Harmonieorchester, für zwei Gitarren, für Jazz-Orchester, für russisches Folklore-Ensemble, für Salonorchester und für so ziemlich jede andere vorstellbare Besetzung. Und natürlich gibt es diverse Fassungen für großes Sinfonieorchester –zum Beispiel die von Ravel. Die Vielzahl von Bearbeitungen hat ganz sicher zu tun mit der Farbigkeit von Mussorgskys Original – die Ausstellung, die schon im Titel vorkommt, war den Bildern des Malers und Zeichners Viktor Hartmann gewidmet, mit dem Mussorgsky befreundet war und der im Jahr vor der Komposition gestorben war... Hier zunächst der letzte Satz: „Das große Tor von Kiew“ in Mussorgskys Klavier-Original:



Und hier zum Vergleich derselbe Satz in der Orchestrierung Ravels:


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Manuskriptauszug (12)
Ravel war das, was man einen Cineasten nennt: ein Liebhaber der damals noch recht jungen Filmkunst.

Aus einem Brief an eine kranke Freundin: „Wenn Sie wieder gesund sind, sehen Sie sich den „Dr. Caligari“ an. Ich war verzweifelt, dass ich ihn Freitag Abend in Marseille nicht sehen konnte... Gestern bin ich in Paris entschädigt worden, wo man den Film für mich allein hat laufen lassen. Ich bin eben ein Typ wie Ludwig von Bayern, nur bisher weniger verrückt. Und zum ersten Mal habe ich wahre Filmkunst gesehen.“ „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist ein Film des Regisseurs Robert Wiene aus dem Jahre 1920, der vor allem wegen seiner grotesk verzerrten Kulissen und seiner gruseligen Handlung mit einigen unerklärlichen Todesfällen als Prototyp expressionistischer Filmkunst und gleichzeitig als Meilenstein der Filmgeschichte gilt.

Gruselstoffe hatten Ravel auch früher schon fasziniert. Im Sommer 1908 komponierte er drei Stücke - „Trois poèmes pour piano d'après Aloysius Bertrand“ heißen sie im Untertitel. Bertrands Gedichte haben viel zu tun mit Traum und ausschweifender Phantasie, also mit der Sphäre des Nächtlichen. Von Bertrand übernahm Ravel den Titel der drei Stücke: „Gaspard de la Nuit“. Der Titel ist kaum übersetzbar, deshalb passiert das auch so gut wie nie; der komplette Titel führt schon eher weiter: „Phantasien in der Art Rembrandts und Callots“. Das verweist auf E. T. A. Hoffmann und auf dessen „Phantasiestücke in Callots Manier“. Jacques Callot war ein Zeichner und Radierer des frühen 17. Jahrhunderts, der in seinen Bildern die Schrecken des Krieges thematisierte. Vielleicht am bekanntesten ist sein Baum, der voller Hingerichteter hängt. Damit kommen wir der Bedeutung von Ravels Komposition ziemlich nahe – Gibet, Galgen, ist das zweite Stück überschrieben. Nicht weniger gespenstisch wirkt das dritte, das nach dem Dämon Scarbo benannt ist, dessen Daseinszweck darin besteht, den Menschen den Schlaf zu rauben.

Außerdem gehört es zu den schwierigsten Stücken, die das Klavier-Repertoire zu bieten hat. ...

Im online-Kammermusikführer "Villa Musica" wird das Stück folgendermaßen beschrieben:

Satzbezeichnungen:

1. Ondine (Undine)

2. Le gibet (Der Galgen)

3. Scarbo (Der Zwerg Scarbo)

Erläuterungen:

Maurice Ravel griff im „Gaspard de la Nuit“ auf ein prominentes Werk der Schauerromantik zurück: auf die gleichnamige Sammlung von Aloysius Bertrand aus dem Jahre 1830. Mit dem eigenwilligen Titel „Kaspar der Nacht“ ist eine Art Schatzmeister der nächtlichen Spukgestalten gemeint, der die Geheimnisse des Nächtlichen enthüllt: „Hexerei, unheimliche Seen, Schlösser, Glocken und sonderbare nächtliche Visionen“, wie Ravels Biograph Arbie Orenstein schrieb. Ravel suchte sich aus dem Horrorkabinett des französischen E.T.A.Hoffmann drei Gestalten aus: die Nixe Undine, einen Gehängten am Galgen und den Höllenzwerg Scarbo. Seinen Stücken gab er den Namen „Romantische Dichtungen für Klavier“ und fügte – ähnlich wie etwa Johannes Brahms in seinen Intermezzi – jedem von ihnen die vertonten Verse als Motto hinzu. Freilich ist der Bezug zwischen Tönen und Worten nicht der eines „Liedes ohne Worte“, sondern der einer „Méditation“ oder Klangmalerei im Sinne Franz Liszts.

Liszt ist auch insofern das entscheidende Stichwort, als Ravel hier die höchsten Anforderungen Lisztscher Klavierkunst erreicht, ja in Teilen übertroffen hat und dabei auch Liszts Idee einer „diabolischen“ Virtuosität aufgriff. Berühmt-berüchtigt sind die auf drei Systemen notierten Passagen des Werkes, in denen sich schwarze Noten teuflisch über das gesamte Papier ausbreiten. Durchaus diabolisch war dem Schöpfer dieser Noten zumute, als er die drei Stücke im Jahre 1908 sozusagen in einem Guss zu Papier brachte: „Beim Gaspard ist es mit dem Teufel zugegangen – kein Wunder, da er ja der Verfasser der Gedichte ist.“

Undine, die Wasserfee, deren Liebe zu einem Menschen zum Scheitern verurteilt ist, macht den Anfang. Diese Lieblingsgestalt der deutschen Romantiker (Hoffmanns Oper, Reineckes Flötensonate u.a.) wurde vom Franzosen Ravel aller Sehnsucht entkleidet und in ein pures Wesen der wogenden Wellen verwandelt. Die „Wassermusik“ aus Ravels früheren Stücken „Jeux d’eau“ und „Une Barque sur l’ocean“ wird hier in ihrem schillernden Gleißen noch gesteigert. Dabei mischt sich das grelle, verzerrte Lachen von Betrands Undine in den Klang des „spritzenden“ Wassers: „Und als ich ihr zur Antwort gab, dass ich eine Sterbliche liebe, weinte sie schmollend ein paar Tränen, stieß dann ein helles Lachen aus und verschwand in spritzenden Schaumwellen, die weiß an meinen blauen Fenstern vorüber rieselten.“

In „Le Gibet“ (Der Galgen) sah Arbie Orenstein den „Höhepunkt einer Entwicklung erreicht, die eine makabre, in Glockengeläut versinkende Landschaft heraufbeschwört. Auf kurzen vier Notenseiten lässt Ravel eine höchst poetische Tour de force ablaufen, mit einem bedrängenden Glocken-Orgelpunkt, der die Spannung und den Schrecken eines Poeschen Textes erahnen lässt. Die Partitur verlangt häufig drei Notensysteme, wobei der Orgelpunkt, den ein Gewebe komplizierter Akkorde überzieht, sowohl in der Melodie wie im Bass und in den Mittelstimmen vorkommt.“ In der Tat ist es die Glocke, die in Bertrands Gedicht das düstere Verhängnis des Gehängten besiegelt: „Die Glocke läutet an den Mauern einer fernen Stadt, während die Leiche eines Gehängten von der untergehenden Sonne blutrot gefärbt wird.“

27 verschiedene Anschlagsarten zählte der Ravel-Freund und Pianist Gil-Marchex im Finale des „Gaspard“. Sie sind notwendig, um die schillernde Gestalt des Zwerges Scarbo vor unseren Augen erstehen zu lassen. Bertrand nennt ihn den „grotesken Zwerg, der um Mitternacht, wenn der Mond am goldenen Sternenhimmel wie ein Silbertaler glänzt, von der Zimmerdecke herabpurzelt, herumwirbelt wie eine Hexenspindel, zur Riesengröße eines gotischen Kirchturms anwächst und schließlich gleich einer erlöschenden Wachskerze in sich zusammenfällt.“ Die nervöse Bewegung des Zwerges, sein gespannter Auftritt, das Wirbeln und Sich-Aufblasen zur riesenhaften Größe wird ebenso sicht- bzw. hörbar wie sein Zusammenfallen in ein Nichts. Dafür machte Ravel unter anderem von seinem überaus beweglichen Daumen Gebrauch, der bequem drei Noten anschlagen konnte. Seit der Uraufführung bis heute versetzt dieses Stück das Publikum in schwindelndes Staunen, hatte sich der Komponist doch ausdrücklich vorgenommen, hier die Schwierigkeiten der berüchtigten Orientalischen Fantasie „Islamej“ seines russischen Kollegen Balakirew noch zu überbieten. Es ist ihm gelungen.



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