Manuskriptauszug R. Ermen (13)
In seinen späten Jahren träumt Ferruccio Busoni von einer Musik, die wieder zu sich selbst kommt, die nur Musik ist; weiter nichts. Eine gewisse Zeitlosigkeit spielt hier mit, es geht um eine Summe, das Stichwort, bzw. die Frage dazu lautet: „Junge Klassizität“?
Zwischen 1910 und 1920 schreibt Busoni sechs Klavierstücke, die er mit listigem Understatement als „Sonatinen“ bezeichnet. Er denkt häufig in solchen Reihen, die gelegentlich wie Versuchsanleitungen erscheinen. Die Sonate, die große instrumentale Form ist vielleicht gemeint, doch er unterwandert sie durch eine unprätentiöse Verniedlichung, besser: Durch eine Art Konzentrat.
Dahinter steckt auch so etwas wie ein Neuanfang, er versetzt sich, metaphorisch gesprochen, in die Rolle eines Schülers, der sich die Musik erst mit solchen kleinen Sonaten erobert. Herausgekommen sind kurze Grundsatzerklärungen, die keinesfalls einfach daherkommen.
Man denke nur an die zweite, die Sonatina Seconda, in der er fast die Tonalität aufgibt. Selbst seine Bewunderer waren über dieses Stück erschreckt. Es gibt in den Sonatinen auch eine über Bach, die „brevis“, die kurze „In Signo Johannis Sebastiani Magni“, das ist die Nummer fünf von 1919. Auch die sechste trägt einen lateinischen Titel wie alle Stücke aus dem Zyklus: Sonatina super ‚Carmen„“.
Busoni, der 1920 eigentlich solche Opernparaphrasen längst hinter sich gelassen hat, stürzt sich noch einmal in das Geschehen. - Es spielt Geoffrey Douglas Madge:
Da rekapituliert, da erinnert sich einer und das tut er mit musikantischer Leichtigkeit, in der jede Geste sitzt. Fernab von aller Eitelkeit, realisiert Busoni einen Operntraum am Klavier, mit dem selbstredend auch jeder Virtuose zufrieden sein kann. Selbst wenn man es nicht unbedingt erwartet, die „Kammerphantasie" über „Carmen“ ist bereits ein Beispiel für das späte Schlagwort von der „Jungen Klassizität“.
Dabei geschieht hier im Grunde genommen das Gleiche wie schon zu Zeiten von Franz Liszt: Ein Erfolgsstück der Opernbühne gelangt über das Klavier in den Salon und den Konzertsaal. Diese Tradition ist sicherlich in die Idee mit eingegangen, aber Busoni geht es auch darum, die Musik zu befreien, etwa von den Ansprüchen des Ausdrucks und von der romantischen Indienstnahme des Erzählens.
Die Opernparaphrase erscheint jetzt in einem neuen Licht, denn „unter einer 'jungen Klassizität' verstehe ich die Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente“, schreibt Busoni 1920 an den Kritiker Paul Bekker. Es geht darum, die eben genannten Errungenschaften, „in feste und schöne Formen“ hineinzutragen. „Diese Kunst“, so lautet das entsprechende Glaubensbekenntnis, „wird alt und neu zugleich sein.“ Die Stichworte „Sichtung und Ausbeutung“ klingen in diesem Zusammenhang etwas nüchtern, ja in gewisser Weise kaufmännisch, aber es geht Busoni um eine Summe. Und darin steckt etwas Grundsätzliches. Es geht nicht um einen Neoklassizismus, wie ihn etwa Igor Strawinsky zu gleichen Zeit kultiviert!
“Pulcinella” nach Pergolesi, 1920 von Igor Strawinsky neu erdacht als Ballett mit Gesang. Das Colibrì Ensemble Orchestra da Camera di Pescara spielte die einleitende “Sinfonia”.
Nein, so eine neu-alte Niedlichkeit ist bei Busoni nicht gemeint. Hinter der von ihm anvisierten „Klassizität“ steckt ein weiterer Kerngedanke, der von der „Einheit der Musik“. Das ist sein Begriff für das, was man auch "absolute Musik" nennt.
Busoni meint eine befreite Kunst, die nicht mehr in Fächern gedacht wird, sondern wie eine Art "Ding an Sich". Das Klavier hilft gelegentlich mit, wenn es zum Beispiel darum geht, aus „Carmen“ wieder ein Stück Musik zu machen, das die Bühne vergisst. Das Klavier kann in diesem Sinne auch ein Vergrößerungsglas sein. Man kann die Musik vielleicht sogar von den Instrumenten befreien.
„Die Kunst der Fuge“, deren Schlussfindung Busoni selbst in seiner Fantasia Contrappuntistica betreibt und mit einem meisterlichen Klaviersatz realisiert, ist zum Beispiel eine Musik, die von Anfang an nicht an nicht an ein Instrument gefesselt ist. Auf vier Systemen notiert, wäre das eine Idee, die sich unabhängig von den akustischen Realitäten ausdrückt. Jeder, der das realisieren will, tritt mit seinen Klangvorstellungen an diese Musik heran und erweckt sie für Augenblicke zum Leben.
Cédric Pescia spielte den Contrapounctus 1 aus Bachs Kunst der Fuge. So ein idealisiertes Denken von einem Kern, von einer Musik an sich schließt die konventionelle Arbeit an den Gattungen nicht aus. Doch Busoni tut das in seinen späten Kompositionen mit einem anderen Bewusstsein. Die Formen zum Beispiel funktionieren als eigenständige Einheiten und können gleichzeitig Teil eines übergeordneten Ganzen sein. Als Beispiel in diesem Sinne kann „Doktor Faust“ dienen.
Ja, in gewisser Weise ist die Oper das ideale Sammelbecken für eine neue Formenvielfalt. Sie wird vom Sujet gleichzeitig aufgerufen, also „von den einfachen Lied-, Marsch-, und Tanzweisen bis zu dem kunstreichsten Kontrapunkt, vom Gesang zum Orchester, vom Weltlichen zum Geistlichen“, schreibt Busoni über dieses „musikalische Gesamtkunstwerk“ mit Namen Oper, die „jede Gattung und Art“ aufnehmen kann, die in der Lage ist, "jede Stimmung zu reflektieren."
In seinem musikdramatischen Hauptwerk feiert dieses Formenbewusstsein geradezu Triumphe. Bezeichnenderweise kommen in der Beschreibung klassische Opernnummern wie Lied, Arie oder Duett nicht vor. Auch die gibt es, doch zum Paradigma taugen sie nicht.
Die Beschwörung der Geister durch Faust etwa konzipiert er als Variationen Zyklus auf ein Frage- und Antwortthema, wobei die einzelnen Variationen jeweils aufsteigen und schneller werden. Das Gartenfest des ersten Bildes in Parma wird als Ballett-Suite angelegt. Im zweiten Bild, in der Schenke in Wittenberg, geraten die protestantischen und katholischen Studenten in einen Streit; es prallen aufeinander der Choral „Ein feste Burg“ und ein „Te Deum“.
Eine ausgesprochen sinnfällige Lösung findet er auch für das „Intermezzo“ zwischen den beiden Vorspielen und dem „Hauptspiel“. Zum einen handelt er hier ganz kurz die Gretchentragödie ab, deren Klischeehaftigkeit ihn nicht reizt. Er legt sie sozusagen im Nachhinein beiseite. „Des Mädchens Bruder“ schwört in einer Kapelle Rache an dem Verführer der Schwester. Mephistopheles sorgt dafür, dass der Soldat zu Tode kommt. Der Doktor Faust nimmt es auf sein Gewissen.
Angelegt ist diese Szene als Rondo, partiell auch als Orgelkonzert. Knapp 12 Minuten dauert dieses Intermezzo. Es zeigt zum einen, dass die „Einheit der Musik“ keinesfalls eine Kopfgeburt ist, und zum zweiten ist zu hören, wie die „Junge Klassizität“ als Summe der überlieferten Formen auch das Drama trägt, indem sie deren natürliches Sprachpotential aktiviert. Das archaische Gebaren wird gleichzeitig zur Lokalfarbe des Dramas.
In der Referenz-Aufnahme mit dem Orchester des BR unter Ferdinand Leitner von 1969 hören Sie Franz Grundheber als Soldat, William Cochran als Mephistopheles, Dietrich Fischer-Dieskau als Faust und Manfred Schmidt als Leutnant.
(Da ich diese Einspielung hier nicht zur Verfügung habe, ersetze ich sie durch eine andere. Es spielt das Orchestre et Choeur de l'Opéra National Lyon unter
Kent Nagano. Das Symphonische Intermezzo beginnt bei 6:50.)
Busonis Umgang mit den absoluten Formen in der Oper erinnert deutlich an Alban Berg, der seinen 1922 abgeschlossenen „Wozzeck“ in ein geradezu aristokratisches Gewand kleidet. So sind die fünf Szenen des ersten Aktes eine Folge von Charakterstücken, die Szenen des zweiten Aktes bilden eine fünfsätzige Sinfonie, die fünf Bilder des dritten Aktes sind jeweils als Inventionen ausgewiesen. Berg braucht diese eigenständigen Formen um die neue freitonale Musiksprache gleichsam von innen zu stützen, bzw. zu kanalisieren. Die Formen haben Aufgaben, vielleicht sogar in dem Sinne, dass sie den ungeheuerlichen Ton dieser wahrhaft neuen Musik zu zähmen helfen oder doch ein wenig kanalisieren.
Bei Busoni sieht das naturgemäß anders aus, die Formen sind zum Teil autonom, aber sie fügen sich sinngemäß in den vorgegebenen Zusammenhang. Busoni nimmt in gewisser Weise das vorweg, was in der Schönberg-Schule fast schon zur Manie wird, den bewussten Rückgriff auf das Formenrepertoire der Musikgeschichte. Mit der Forcierung einer Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen, wird sich das noch verstärken. Altmeisterliche Polyphonie reguliert das neue Material. Doch das ist eine andere Geschichte.
Ähnlich wie im „Doktor Faust“, so läuft das auch im „Wozzeck“. Die fünf Charakterstücke des ersten Aktes sind explizit als Suite, Rhapsodie, Militärmarsch & Wiegenlied, und als Pasacaglia ausgewiesen. Das fünfte Bild ist bezeichnet als „Quasi Rondo“, also ähnlich wie das eben gehörte Intermezzo aus „Faust“. Das Formgebaren ist weniger offensichtlich, es beaufsichtigt aber den Tonfall und fügt sich auch hier nahtlos in die dramatische Konzeption.
–„Wozzeck“, das fünfte Bild, der übersteigerte Dialog zwischen Marie und dem Tambourmajor, hier in einer Referenzaufnahme mit dem Orchester der Pariser Oper unter Pierre Boulez, bzw. mit Isabel Strauss und Fritz Uhl.
(keine entsprechende Einspielung gefunden)