Manuskriptauszug Scherer (1)
Ich habe erneut ein Manuskript der SWR2 Musikstunde gefunden: "Eric Satie oder die musikalische Erfindung der Moderne", von Wolfgang Scherer. Es wurde gesendet an fünf aufeinanderfolgenden Tagen vom 21. - 25. Januar 2013.
Der erste Teil trägt den Titel: "„Ich heiße Eric Satie... wie jedermann. Erinnerungen eines Gedächtnislosen“.
Willkommen, meine Damen und Herren, zur Musikstunde, die sich in den kommenden fünf Tagen mit Erik Satie beschäftigen wird.
Dass die Große Musikgeschichte Satie lange Jahre nur als eine eher skurrile Figur am Rand wahrhaben wollte, als kompositorischen Dilettanten oder musikalischen Witzbold ohne weitreichendere Bedeutung, das hat sich inzwischen grundsätzlich geändert. Seine Musik, die so leichtfüßig und lässig, so melancholisch, so tödlich ironisch klingen kann...: sie war den Meisterdenkern der Opusmusik von Schönberg über Boulez bis zu Stockhausen zutiefst verdächtig. Die selbsternannte Avantgarde der Neuen Musik begegnete ihr bis in die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit tiefstem Misstrauen. Übertroffen wurde diese Geringschätzung allenfalls von der Ablehnung, die John Cage einmal zwischen Darmstadt und Donaueschingen entgegengeschlagen war: von Scharlatanerie –ganz wie bei Satie -war damals die Kritiker-Rede. So reagieren selbstgewisse Musik-Diskurse, wenn sie dem Unerhörten begegnen. Und: noch Adorno, ganz Philosoph der Neuen Musik, konnte sich nur zu einem ziemlich galligen Lob durchringen und meinte immerhin in schönstem Jargon: „In den schnöden und albernen Klavierstücken Saties blitzen Erfahrungen auf, von denen die Schönbergschule nichts sich träumen lässt.“ Auch um diese Erfahrungen geht es in dieser Musikstundenwoche.
Steffen Schleiermacher spielte „Petite ouverture à danser“ von Erik Satie.
Natürlich war es alles andere als ein Zufall, dass die Komponisten, die sich für die Musik ihres Kollegen Satie interessierten, vor allem von jenseits des Atlantiks kamen. Sie standen gewissermaßen im Abseits der europäischen Musiktradition. Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms, Schönberg – so buchstabierte man damals in Wien die Musikgeschichte.
Für Virgil Thomson, der Satie während eines Studienaufenthalts im Paris der 20er Jahre kennen gelernt hatte, war Satie denn auch der einzige Komponist, dessen Werke außerhalb aller Kenntnis der Musikgeschichte gewürdigt werden können. Und: seine Ästhetik sei in der europäischen Musik die einzige Ästhetik des 20. Jahrhunderts.
Das ist nun kein Wunder. Denn Satie – soviel ist heute klar – bewegte sich in Paris im Brennpunkt der ästhetischen Auseinandersetzung um die Kunst seiner Zeit. Impressionismus, Symbolismus, Futurismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus, Neoklassizismus – soviel zu den diversen stilistischen Strömungen... Debussy, Ravel, Strawinsky, Picasso, Brancusi, Picabia, Man Ray, Cocteau – soviel zu ihren künstlerischen Protagonisten, mit denen Satie zu tun hatte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem Darius Milhaud, John Cage und Morton Feldman, die Saties Musik als zentralen Bezugspunkt, als Chiffre der Moderne entdeckten.
Auch diesen Entdeckungen geht die Musikstunde dieser Woche in fünf Versuchen nach. „Wir müssen nicht erst herausfinden, ob Satie ein ernstzunehmender Musiker ist“, schrieb einmal John Cage, „Er ist unentbehrlich".
Es war im Dezember 1877, meine Damen und Herren. Erik Satie war damals 11 Jahre jung und lebte, nach dem frühen Tod seiner aus Schottland stammenden Mutter, zusammen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Conrad bei den Großeltern väterlicherseits im Hafenstädtchen Honfleur an der Mündung der Seine, nicht weit von Le Havre..., seit kurzem nahm er Musikstunde beim Organisten von Saint Léonard, bei Monsieur Vinot... es war also in diesem Dezember 1877, dass auf der anderen Seite des Atlantiks, im fernen Amerika, genauer: in einer Werkstatt in Menlo Park, New Jersey, ein gewisser Thomas Alva Edison buchstäblich auf den Trichter kam: Er erfand den Phonographen. Das aller erste Gerät zur Aufzeichnung, Speicherung und Wiedergabe von Schallereignissen in Echtzeit. Eine rein mechanische Maschine zunächst, auch Sprechmaschine genannt: ein technisches Wunderwerk, das die Musikkultur von Grund auf revolutionieren und das Musikleben der Alten und der Neuen Welt regelrecht auf den Kopf stellen sollte.
Plötzlich war Musik in einer Art und Weise verfügbar, wie man sich das noch wenige Jahre zuvor kaum vorstellen konnte. Eine ganze Musikindustrie entstand, für uns heute eine Selbstverständlichkeit. Grammophon, Schallplattenspieler, Tonband, CD-Player – nichts davon wäre heute denkbar ohne den Phonographen des damals schon schwerhörigen Thomas Edison. Das gilt auch für jenen Apparat der Marke Odeon, den Hermann Leopoldi besingt.
Die „größte Sensation“ - : So feiert noch in den Goldenen 20er Jahren der Schlager das technische Medium, dem er seinen weltweiten Erfolg verdankt. Ein Medium feiert sich selbst.
Längst war die Musik tatsächlich auf den Hund gekommen. Und zwar mit dem Label: „His Master ́s Voice“. Jetzt begann das Konzert der Moderne. Nicht im Wien Schönbergs – allenfalls im Wien Leopoldis -, aber auch nicht im Paris Debussys.
Dort tönte das ganze Pathos des musikalischen Fortschritts, das große Blech der Expression; hier feierten orchestrale Nebelwerfer und harmonische Weichzeichner den Triumph der Impression.
Das wirkliche Konzert der Moderne begann ganz woanders. Es begann in einem Paris, das fasziniert war von den Moden und Maschen der amerikanischen Alltagskultur, von cake-walk, rag-time und dixie; in einer Metropole, die euphorisiert war von Rhythmen, Synkopen und wilden Tänzen. Es begann im Paris der Cabarets und Varietés, der Music-Halls und der Cafés, zwischen Kino und Grammophon, zwischen transatlantischem Jazz, Revue und Chanson. Es waren die ersten Grammophon-Platten, die den Jazz nach Paris brachten: Hier eine Aufnahme mit dem Titel SENSATION JAZZ , gespielt vom All Star Trio, aufgenommen 1919 und veröffentlicht auf einer Edison Diamond Disc Schallplatte 50541-L. Sie wird abgespielt auf einem Edison A100 Phonographen. Und so klang das:
"Der Jazz“, notierte Erik Satie einmal, „der Jazz erzählt uns seinen Schmerz – und man schert sich nicht drum. Aus diesem Grund ist er... schön... und wahr...“.
Das gilt – natürlich! – ziemlich genau auch für seine eigene Musik. Aber: Erik Satie war alles andere als ein Jazz-Komponist.
Unter seinen zeitgenössischen Kollegen war er vielmehr einer der ersten, die sich den modernen Spielarten der Alltagsmusik und ihren neuen Medien nicht verweigerten. Ganz im Gegenteil. „Wir dürfen nicht vergessen“, schrieb er dazu, „was wir der Music-Hall, dem Zirkus verdanken. Von dort kommen die neuesten Erfindungen, Tendenzen und Kuriositäten des Metiers. Die Music-Hall und der Zirkus haben einen innovativen Geist.“
Zeitlebens ein Deserteur der großen Opusmusik, hat Erik Satie mit seinem Werk zu diesem urbanen Spektakel der Medien, der Moden und der Künste, mit dem sich in Paris der Vorhang des 20. Jahrhunderts öffnete, die Hintergrundmusik komponiert. Diskret, charmant, leicht. Eine Musik, die keine Grimassen schneidet. Musik ohne Sauce, ohne den Bürokratismus der Sonatensatzform, ohne die Wiener Demokratur der Zwölftonreihe. Eine Musik also, die man – wie Blaise Cendrars meinte -, „die man sich endlich anhören kann. Ohne den Kopf in die Hände zu nehmen.“