Manuskriptauszug Scherer (8)
1898 verlässt Satie den Montmartre. Er beschließt, sich wegen „verstärkter Neigung zur Misanthropie und zunehmender Hypochondrie“ – wie er sagt - „aus dem Pariser Getümmel zurückzuziehen“. In der Rue Cauchy Nr. 22 in Arceuil, einem Arbeitervorort im Süden von Paris findet er ein einfaches Mansardenzimmer in dem sogenannten „Haus mit den vier Schornsteinen“. Dort wird er bis zu seinem Tod wohnen.
Keiner seiner Freunde, die ihn jetzt "Le Bon Maitre d ́Arceuil" nennen, den Guten Meister von Arceuil, – keiner von ihnen wird je Zutritt zu Saties Zimmer bekommen. Zur selben Zeit als der "Velvet Gentleman" vom Montmartre verschwindet, taucht in Arceuil ein distinguierter Herr auf: er trägt Melone, einen grauen Anzug, Stehkragen und Schirm.
So macht sich Satie Nacht für Nacht auf, um vom „Haus mit den vier Schornsteinen“ aus in stundenlangem Fußmarsch den Montmartre und seinen Arbeitsplatz in der "Auberge de Clou" zu erreichen. Stets bewaffnet mit einem kleinen Hämmerchen, das er in seiner Tasche trug, um sich notfalls wehren zu können, wenn ihn jemand um den kargen Ertrag des Abends bringen wollte.
Es war auch in der "Auberge de Clou", wo sich Erik Satie und Claude Debussy zum ersten Mal begegneten. „Seit ich ihn zum ersten Male sah, fühlte ich mich zu ihm hingezogen und wünschte, stets in seiner Nähe zu leben“, bekannte Satie. Auch Debussy fühlte sich sofort in Bann gezogen von dem – wie er in einer Widmung schrieb - „sanften Komponisten aus dem Mittelalter, der sich in dieses Jahrhundert verirrt hatte.“ Die beiden „Gymnopédies“ von Satie – Nr. 1 und Nr. 3 -, deren Titel übrigens auf ein Tanz-und Chorfest des antiken Sparta anspielt - sie sind die einzigen Werke anderer Komponisten, die Claude Debussy je orchestriert hat.
Das waren „Gymnopédie Nr. 1 und Nr. 3“ von Erik Satie in der Orchesterfassung von Claude Debussy. Es spielte das hr-Symphonieorchester unter der Leitung von Alain Altinoglu.
Der Eindruck, den Saties Musikästhetik während der 20 Jahre ihrer Freundschaft stets auf Debussy gemacht hat, ist nicht zu unterschätzen. Er soll es gewesen sein, der Debussy davon überzeugte, dass es für die Entwicklung der französischen Musik unbedingt notwendig sei, sich vom Einfluss Wagners zu lösen... Jedenfalls hat Claude Debussy eine „Sarabande“ für Klavier komponiert, die ganz im Stil Saties gehalten ist. Maurice Ravel hat sie orchestriert:
Eine Hommage an Erik Satie: eine «Sarabande» von Claude Debussy war das, orchestriert von Maurice Ravel.
Nebenbei gesagt: den mochte Satie übrigens überhaupt nicht. Als siebzehnjährigen jungen Mann hatte er ihn kennen gelernt und später störte ihn vor allem die Beharrlichkeit, mit der sich Ravel im Kriegsjahr 1914 freiwillig zum Militärdienst meldete – obwohl er doch ausgemustert war. Debussys Sarabande bezieht sich jedenfalls unmittelbar auf die zweite Sarabande, die Erik Satie schon 1887 – also im Jahr vor seinen berühmten Gymnopedies – komponiert hat.
Jean-Pierre Armengaud spielte die zweite Sarabande von Erik Satie.
Debussy und Satie, meine Damen und Herren: Ist denn – bei aller Freundschaft der beiden – ein größerer Gegensatz denkbar? Hier der stets korrekt gekleidete Provokateur des Musikestablishments, dort der weltweit hochangesehene Komponist? Hier das armselige Mansardenzimmer des Hungerleiders in Arceuil, dort der vornehme Salon in einer großzügigen Stadtwohnung?
Tatsache ist: Satie war häufig zu Gast in Debussys grünem Salon, mit seinen hellgrünen Tapeten, flaschengrünen Teppichen und blaugrünen Möbeln, mit seinen wertvollen japanischen Zeichnungen, mit seinen exotischen Katzen in einem Meer von Blumen... Meistens kam er samstags. Und: er kam zum Essen. „Diese freundschaftlichen Zusammenkünfte“, schreibt er später, „gingen stets zu Lasten von Eiern und Hammelkoteletts. Aber was für Eier und was für Koteletts... Ich lecke mir immer noch die Backen – inwendig, wie Sie wohl erraten haben.“
Dolly Bardac, die Stieftochter Debussys, erzählt: „Ich wartete immer ganz ungeduldig auf seinen Besuch, so unerwartet komisch war dessen Art, sich auszudrücken und in Gesprächen zu antworten. Die Haltung, die er gegenüber Debussy einnahm, war merkwürdig bescheiden und ohne Spontanität, trotz seines schrecklich boshaften Blicks hinter dem Kneifer.“
Dass er besonders die Makronen von Madame Emma Debussy mochte, mit der er beste Beziehungen unterhielt, ist brieflich verbürgt. Er hat ihr sogar ein Klavierstück gewidmet. Das mittlere der drei „Chapitres tournés en tous sens“, der „in alle Richtungen gewendeten Kapitel“. Ihre Titel: Die zuviel redet; der Träger großer Steine; und: Klage der Gefangenen. Es spielt noch einmal: Jean-Pierre Armengaud.
Dass sich in späteren Jahren die Wege von Debussy und Satie trennen und der Schatten der Rivalität auf ihre Freundschaft fällt, das hatte viele Gründe. Auch Maurice Ravel, dem Satie ja nie so richtig über den Weg traute, hat seinen Teil dazu beigetragen. Lautstark rief er Satie zum Wegbereiter einer neuen Musik aus und brachte ihn in Stellung gegen Debussy, mit dem er selbst einen heimlichen Machtkampf führte.
Als Debussy bemerkt, dass sich die junge Generation zusehends für Satie interessiert und ihn nur noch als Vorläufer betrachtet, wendet er sich ab. Die Freundschaft zerbricht. Ein Jahr vor Debussys Tod. Satie litt sehr unter dem Verhalten seines einstigen Freundes. Es war ihm unverständlich, warum Debussy ihm nicht „ein winzig kleines Fleckchen in seinem Schatten“ einräumen mochte. Er schrieb ihm einen bitteren Brief. Der Brief erreichte den Todkranken auf dem Sterbebett. Und ließ ihn in Tränen ausbrechen. Über die Leere nach dem Fortgang seines Freundes und das traurige Ende ihrer langen Freundschaft kam Satie nie hinweg. Hier ist seine „Élégie pour Claude Debussy“, gespielt von Tony Hymas: