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KOMPONIST des Monats, X. Teil

*******sima Frau
2.540 Beiträge
Manuskriptauszug Scherer (7)
Inzwischen ist Satie vom "Chat Noir" in die "Auberge du Clou" gewechselt. Dort ist er jetzt zweiter Klavierspieler.

Vorgestellt hat er sich hier als: „Erik Satie. Gymnopédist.“ Darauf der Besitzer: „Was für ein schöner Beruf!“ Die langen Haare hat er sich abgeschnitten. Er trägt jetzt einen Anzug aus grauem Kordsamt, mit dazu passendem Hut und Überzieher; ein Dutzend solcher Anzüge,alle gleich, hängen in seinem Schrank. Er hat sie von dem Geld gekauft, das ihm nach dem Tod seines Vaters zufiel. "Monsieur Le Pauvre" hat sich verwandelt. Jetzt ist er: "The Velvet Gentleman".



Mady Mesplé war das, begleitet von Aldo Ciccolini, mit “La Diva de L ́Empire“.

Erik Satie hat dieses Chanson für Paulette Darty geschrieben, damals die „Königin des gesungenen Walzers.“ Sie war der Star des "Scala", des elegantesten Varietétheaters, sie sang und tanzte durch ihre Revue, sie war die „Diva de L ́Empire“. Überhaupt: Paulette Darty. Normalerweise empfing die Diva morgens ihre Komponisten, die ihr neue Chansons vorbeibrachten. Erik Satie kam unangemeldet, wie sie sich erinnert: „Meine Sekretärin empfing ihn. Und plötzlich hörte ich den großartigen Walzer "Je te veux". Satie hatte sich ohne große Umstände ans Klavier gesetzt. Und das hatte einen so eigenen Reiz, das war so hübsch, dass ich rasch meinen Morgenmantel überstreifte und hinüberging, um Monsieur Satie meine Begeisterung auszudrücken... und ich sang "Je te veux" zum aller ersten Mal...“



Eine sehr schöne Aufnahme von "Je te veux" mit Juliette und Alexandre Tharaud.

„Bis zu seinem Tod“, so erzählt Paulette Darty, „ blieb Satie ein großartiger Freund. Er hat mich nie im Stich gelassen. Ein feiner, ein unvergesslicher Kerl. Ein echtes Phänomen!“

Tja, Satie und die Frauen. Auch keine ganz so erfreuliche, dafür aber um so Satie-typischere Geschichte. Die Liebesbeziehung zu Suzanne Valadon war nämlich die einzige, die Satie je offen bekundet hat. Sie war Trapezkünstlerin gewesen, ein Jahr älter als Satie, und hatte sich vom Malermodell zur Malerin emanzipiert. Ihren Liebhaber hat sie gleich zwei mal porträtiert. Auf einer kleinen Papptafel, die er mit einer Haarlocke von ihr dekorierte, notierte Satie: „Am 14. des Monats Januar, im Jahr des Herrn 1893, welcher ein Samstag war, begann mein Liebesverhältnis mit Suzanne Valadon, das am Dienstag, dem 20. des Monats Juni im gleichen Jahr zu Ende ging.“ Nach Saties Tod fand sein Bruder ein Päckchen mit Briefen an Suzanne, die ihr Schreiber allerdings nie abgeschickt hatte.



Susan Bickley und Robin Bowman waren das mit „Élégie“, einem der ganz frühen Lieder von Erik Satie, das er Jahre vor seiner Zeit als zweiter Klavierspieler in der "Auberge de Clou" komponiert und im Verlag seines Vaters publiziert hat.
*******ack4 Mann
2.578 Beiträge
Der Mann mit den 14 identischen, schwarzen Regenschirmen!
Heute fiel auf SWR 2 der Hinweis auf eine nicht so ganz typische Biographie Erik Saties:

Seelenanalyse: Stéphanie Kalfon schreibt kein hübsch ausgeschmücktes Künstlerepos, sondern skizziert den Menschen Satie mit seinem zerbrechlichen und gebrochenen Charakter. Nach diesem Roman hört man die Musik von Erik Satie mit anderen Ohren.
SWR2 Autorin Eva Hofem

Erik Satie gilt als einer der fortschrittlichsten Komponisten der Jahrhundertwende und wird als Urvater der sogenannten Minimal Music gefeiert. Vielleicht gerade wegen seines Fortschritts ist Erik Satie nicht so ganz mit seinen Mitmenschen und seiner Zeit klargekommen. Im Debütroman der französischen Schriftstellerin Stéphanie Kalfon wird das ganz deutlich.

Die Regenschirme des Erik Satie
Autor
Stéphanie Kalfon
Verlag:
Oktaven - Verlag Freies Geistesleben
ISBN:
ISBN 9783772530043
Stéphanie Kalfon schreibt kein hübsch ausgeschmücktes Künstlerepos, sondern skizziert den Menschen Satie mit seinem zerbrechlichen und gebrochenen Charakter. Trauer und Melancholie schlängeln sich wie unaufhaltsame Regentropfen durch Saties Leben. Und daher kommt auch der Titel des Buches: „Die Regenschirme des Erik Satie“. Sie sind ein Symbol für die Regenseite seines Lebens, aber auch für einen gleichbleibenden, trommelnden Rhythmus.

Satie war verkannt. Ungreifbar. Unverstanden. Von einem geheimen Leben heimgesucht, in das er vielleicht, ja, vielleicht das Beste von sich gesteckt hat. Die Gesellschaft aber braucht Kohärenz. Erik Satie war ein umherirrender Gefährte. Ein Rätsel. Ein Mann, der zwei Klaviere besaß und bei ihnen lebte und das konnte man angesichts der Größe des Zimmers sagen. Und dann vor allem jenes Rätsel: Er war der Mann mit den vierzehn identischen, schwarzen Regenschirmen.

Ein Buch mit vielen Original-Zitaten
Stephanie Kalfon verwendet ein Stilmittel, das dem Leser die Interpretation Saties Charakter selbst überlässt: Originale Zitate aus Briefen, Tagebucheinträgen und Artikeln werden mit der Stimme der Autorin verwoben, die ihren Schreibstil deutlich den oft verwirrten Aussagen des Komponisten anpasst. Das kann über die Länge eines ganzen Buches schon mal etwas anstrengend werden, trifft aber die Zerrissenheit und den durch hohen Absinth-Genuss vernebelten Zeitgeist ziemlich gut.

„Er hat den Tag mit Alkohol und Einsamkeit verbracht, im verschlossenen Wandschrank, mit verschlossenem Mund, doch, ach, da ist diese Stimme, diese Stimme... Ich will nicht, dass man mit mir spricht. Ich habe eine solche Migräne. Eines aber doch: alles Gute zum Geburtstag! Nun ist es raus, von mir zu mir. Ich könnte mir eine Postkarte schicken... Klopf, klopf! Der Briefträger. Wer da? ... Ja?... Ich mache auf. Oh, eine Postkarte!"
Sehr geehrter Satie, wir, also Sie und ich, wünschen Ihnen alles Gute zum Geburtstag. Unterzeichnet: ich selbst. Postskriptum: hier wohnt Erik Satie. In dieser schönen Wohnung, die nicht viel größer ist als ein Sack.“

Ein selbstverschuldetes Schicksal
Erfrischend nüchtern wirken im Gegensatz zu den nebulösen Gedankenschwallen dann die Erzählungen der biographischen Lebensereignisse. Oft sind es einfach nur Szenen, die schlaglichtartig aneinander gereiht von Saties selbstverschuldetem Schicksal und unglücklichen Zufällen erzählen. Ein andauerndes Hauptthema in seinem Leben ist neben tragischen Todesfällen beispielsweise die Freundschaft zum Kollegen Claude Debussy, nach dessen Anerkennung Satie lebenslang gierte.

Um seinen Freund in der Nacht eine Stunde länger bei sich zu behalten, sagt Erik Satie ihm alles über sich: Man musste Wagner unter einer Hintergrundmusik, einer Musique d’ameublement, begraben. Er sprach auch über seine Absicht, ein Libretto von Maeterlinck zu vertonen. Er sprach voller Demut darüber und verheimlichte, dass es sich um ein geheimes, atemberaubendes Projekt handelte, an dem er mehr hing als an jedem anderen. Er redete und redete, ohne zu bedenken, dass er einem bekannten Mann gegenübersaß, einem Mann, dem man noch nie gesagt hatte, dass es unmögliche Dinge gab. Denn im Unterschied zu Erik hatte noch nie jemand zu Debussy gesagt, dass er passabel war. Niemand hatte seine Kindheitsfantasien beleidigt, noch seine Fähigkeit, ein schönes Leben zu führen, beeinträchtigt. Zwei Monate später erhielt Claude Debussy die Rechte an Maeterlincks Libretto für „Pelleas et Melisande“ und machte sich ans Werk.

Mischung aus Biographie und Seelenanalyse
Ein leichter Künstlerroman ist „Die Regenschirme des Erik Satie“ eindeutig nicht. Und das ist auch gut so, denn leicht und luftig war Saties Leben, vor allem aber sein Gemüt, nun wirklich nicht. Stéphanie Kalfon schafft hier eine Mischung aus Biographie und Seelenanalyse, die erstaunlich wenig auf das eingeht, was man von Satie eigentlich kennt: seine Musik. Aber das ist überhaupt nicht schlimm. Denn es wird darüber hinaus das Bild eines sterbenden Jahrhunderts gezeichnet, in dem einem großen Künstler die Chance auf musikalische Neuerung verwehrt wurde. In jedem Fall hört man nach diesem Roman die Musik von Erik Satie mit anderen Ohren. Ob mit schwermütigen oder euphorischen, das ist jedem selbst überlassen.
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Manuskriptauszug Scherer (8)
1898 verlässt Satie den Montmartre. Er beschließt, sich wegen „verstärkter Neigung zur Misanthropie und zunehmender Hypochondrie“ – wie er sagt - „aus dem Pariser Getümmel zurückzuziehen“. In der Rue Cauchy Nr. 22 in Arceuil, einem Arbeitervorort im Süden von Paris findet er ein einfaches Mansardenzimmer in dem sogenannten „Haus mit den vier Schornsteinen“. Dort wird er bis zu seinem Tod wohnen.

Keiner seiner Freunde, die ihn jetzt "Le Bon Maitre d ́Arceuil" nennen, den Guten Meister von Arceuil, – keiner von ihnen wird je Zutritt zu Saties Zimmer bekommen. Zur selben Zeit als der "Velvet Gentleman" vom Montmartre verschwindet, taucht in Arceuil ein distinguierter Herr auf: er trägt Melone, einen grauen Anzug, Stehkragen und Schirm.

So macht sich Satie Nacht für Nacht auf, um vom „Haus mit den vier Schornsteinen“ aus in stundenlangem Fußmarsch den Montmartre und seinen Arbeitsplatz in der "Auberge de Clou" zu erreichen. Stets bewaffnet mit einem kleinen Hämmerchen, das er in seiner Tasche trug, um sich notfalls wehren zu können, wenn ihn jemand um den kargen Ertrag des Abends bringen wollte.

Es war auch in der "Auberge de Clou", wo sich Erik Satie und Claude Debussy zum ersten Mal begegneten. „Seit ich ihn zum ersten Male sah, fühlte ich mich zu ihm hingezogen und wünschte, stets in seiner Nähe zu leben“, bekannte Satie. Auch Debussy fühlte sich sofort in Bann gezogen von dem – wie er in einer Widmung schrieb - „sanften Komponisten aus dem Mittelalter, der sich in dieses Jahrhundert verirrt hatte.“ Die beiden „Gymnopédies“ von Satie – Nr. 1 und Nr. 3 -, deren Titel übrigens auf ein Tanz-und Chorfest des antiken Sparta anspielt - sie sind die einzigen Werke anderer Komponisten, die Claude Debussy je orchestriert hat.



Das waren „Gymnopédie Nr. 1 und Nr. 3“ von Erik Satie in der Orchesterfassung von Claude Debussy. Es spielte das hr-Symphonieorchester unter der Leitung von Alain Altinoglu.

Der Eindruck, den Saties Musikästhetik während der 20 Jahre ihrer Freundschaft stets auf Debussy gemacht hat, ist nicht zu unterschätzen. Er soll es gewesen sein, der Debussy davon überzeugte, dass es für die Entwicklung der französischen Musik unbedingt notwendig sei, sich vom Einfluss Wagners zu lösen... Jedenfalls hat Claude Debussy eine „Sarabande“ für Klavier komponiert, die ganz im Stil Saties gehalten ist. Maurice Ravel hat sie orchestriert:



Eine Hommage an Erik Satie: eine «Sarabande» von Claude Debussy war das, orchestriert von Maurice Ravel.

Nebenbei gesagt: den mochte Satie übrigens überhaupt nicht. Als siebzehnjährigen jungen Mann hatte er ihn kennen gelernt und später störte ihn vor allem die Beharrlichkeit, mit der sich Ravel im Kriegsjahr 1914 freiwillig zum Militärdienst meldete – obwohl er doch ausgemustert war. Debussys Sarabande bezieht sich jedenfalls unmittelbar auf die zweite Sarabande, die Erik Satie schon 1887 – also im Jahr vor seinen berühmten Gymnopedies – komponiert hat.



Jean-Pierre Armengaud spielte die zweite Sarabande von Erik Satie.

Debussy und Satie, meine Damen und Herren: Ist denn – bei aller Freundschaft der beiden – ein größerer Gegensatz denkbar? Hier der stets korrekt gekleidete Provokateur des Musikestablishments, dort der weltweit hochangesehene Komponist? Hier das armselige Mansardenzimmer des Hungerleiders in Arceuil, dort der vornehme Salon in einer großzügigen Stadtwohnung?

Tatsache ist: Satie war häufig zu Gast in Debussys grünem Salon, mit seinen hellgrünen Tapeten, flaschengrünen Teppichen und blaugrünen Möbeln, mit seinen wertvollen japanischen Zeichnungen, mit seinen exotischen Katzen in einem Meer von Blumen... Meistens kam er samstags. Und: er kam zum Essen. „Diese freundschaftlichen Zusammenkünfte“, schreibt er später, „gingen stets zu Lasten von Eiern und Hammelkoteletts. Aber was für Eier und was für Koteletts... Ich lecke mir immer noch die Backen – inwendig, wie Sie wohl erraten haben.“

Dolly Bardac, die Stieftochter Debussys, erzählt: „Ich wartete immer ganz ungeduldig auf seinen Besuch, so unerwartet komisch war dessen Art, sich auszudrücken und in Gesprächen zu antworten. Die Haltung, die er gegenüber Debussy einnahm, war merkwürdig bescheiden und ohne Spontanität, trotz seines schrecklich boshaften Blicks hinter dem Kneifer.“

Dass er besonders die Makronen von Madame Emma Debussy mochte, mit der er beste Beziehungen unterhielt, ist brieflich verbürgt. Er hat ihr sogar ein Klavierstück gewidmet. Das mittlere der drei „Chapitres tournés en tous sens“, der „in alle Richtungen gewendeten Kapitel“. Ihre Titel: Die zuviel redet; der Träger großer Steine; und: Klage der Gefangenen. Es spielt noch einmal: Jean-Pierre Armengaud.



Dass sich in späteren Jahren die Wege von Debussy und Satie trennen und der Schatten der Rivalität auf ihre Freundschaft fällt, das hatte viele Gründe. Auch Maurice Ravel, dem Satie ja nie so richtig über den Weg traute, hat seinen Teil dazu beigetragen. Lautstark rief er Satie zum Wegbereiter einer neuen Musik aus und brachte ihn in Stellung gegen Debussy, mit dem er selbst einen heimlichen Machtkampf führte.

Als Debussy bemerkt, dass sich die junge Generation zusehends für Satie interessiert und ihn nur noch als Vorläufer betrachtet, wendet er sich ab. Die Freundschaft zerbricht. Ein Jahr vor Debussys Tod. Satie litt sehr unter dem Verhalten seines einstigen Freundes. Es war ihm unverständlich, warum Debussy ihm nicht „ein winzig kleines Fleckchen in seinem Schatten“ einräumen mochte. Er schrieb ihm einen bitteren Brief. Der Brief erreichte den Todkranken auf dem Sterbebett. Und ließ ihn in Tränen ausbrechen. Über die Leere nach dem Fortgang seines Freundes und das traurige Ende ihrer langen Freundschaft kam Satie nie hinweg. Hier ist seine „Élégie pour Claude Debussy“, gespielt von Tony Hymas:


*******sima Frau
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Manuskriptauszug Scherer (9)
Eine dunkelgraue Melone, Kneifer, Spitzbart, Stehkragen, Schlips, Regenschirm – so begegnet uns Erik Satie, meine Damen und Herren, seit er vom Montmartre nach Arceuil umgezogen ist, in das legendäre „Haus mit den vier Schornsteinen“.

Inzwischen hat er seine geistlichen Praktiken beendet. Das Komponieren von – wie er das nennt – „Musik auf den Knien“ hat er aufgegeben. In Arceuil beteiligt er sich aktiv am sozialen Leben der Vorstadtgemeinde, unterzeichnet Wahlaufrufe und wirkt sogar bei der Gründung eines konfessionslosen Jugendvereins mit.

Zum ersten Mal hält er Vorträge vor einem Publikum. Sein schönster und witzigster: „Die Musik und die Tiere.“ Dort heißt es: „Ich liebe die Tiere. Sie danken es mir. Die Tiere kennen mich und erkennen mich an – die Hunde vor allem. Ja, ich liebe die Tiere. Ich liebe das Hähnchen, das Schaf, die Ente, den frischen Lachs, das Rind, die Pute, mit Kastanien gefüllt... Jawohl, ich liebe die Tiere, denn ich bin gut zu ihnen, zu gut sogar.“ Und so fort...

Den Kindern in Arceuil erteilt er kostenlosen Musikunterricht und donnerstags unternimmt er mit ganzen Schulklassen Ausflüge in die Umgebung. Den Kindern erklärt er: „Denkt euch nur: ein Lehrer! Der stellt Fragen, die er weiß, er...und die ihr nicht wisst. Das nutzt er aus, selbstverständlich. Und ihr habt nicht das Recht, irgend etwas zu erwidern... Das ist auch besser so. Rächt euch dafür nicht an eurem Instrument.“

Aus dem Esoterik-Satie ist Erik Satirik geworden, der sich in der Uniform des kleinen Beamten verbirgt. Eines der witzigsten Klavierstücke jener Zeit ist die „Sonatine Bureaucratique“, die bürokratische Sonatine, die mit Motiven aus der C-Dur-Sonatine von Clementi spielt.



Jean-Yves Thibaudet war das, mit der „Sonatine bureaucratique“ von Erik Satie, einer wahrhaft bürokratischen Sonatine.

Sie gehört zu den Klavierstücken, die Satie – etwa seit 1912 – mit ganzen Geschichten versieht. Sie stehen – ganz wie die eher kurzen Spielanweisungen seiner mystischen Stücke – in der ausgesuchten Kalligraphie seiner Handschrift direkt in den Noten. Sie begleiten die Musik oder die Musik begleitet sie. Die kurzen Geschichten sind jedenfalls aufs Engste mit der Musik oder besser gesagt: mit dem Klavierspiel verbunden.

Die Story der „Sonatine bureaucratique“ handelt – wie könnte das anders sein – vom Alltag eines Büroangestellten. Hier heißt es im letzten Teil: "Ein Klavier in der Nachbarschaft spielt Clementi! Wie traurig das ist! Er erlaubt sich ein kleines Walzerchen! Er, nicht das Klavier. All das ist recht traurig. Das Klavier nimmt seine Arbeit wieder auf. Unser Freund geht mit sich zu Rate. Das Klavier spielt weiter. Leider muss er sein Büro nun verlassen, sein schönes Büro. 'Nur Mut: Gehen wir', sagt er. Dann ist der Klavierspieler am Ende des Stückes angekommen."

Saties Klavier-Stories sind ausschließlich für den Klavierspieler bestimmt. Ausdrücklich hat er es verboten, seine Geschichten in den Noten laut während des Stücks vorzutragen oder auf andere Weise einem Publikum zugänglich zu machen. Ihr einziger Leser soll der Klavierspieler sein. Kein Grammophon, kein mechanisches Klavier, nicht einmal ein Konzert – und auch ich nicht hier im Radio - kann vermitteln, was nur der Interpret in seiner Doppelrolle als Leser und Klavierspieler erfährt.

In dem Zyklus „Sports et Divertissements“ (Sportarten und Zerstreuungen) war Satie sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Die 20 Klavierstücke werden von Texten und von Zeichnungen des Illustrators Charles Martin begleitet. Sie spielen in der modernen Freizeit-Mode-und-Reklame-Welt aus Sport und Unterhaltung und tragen Titel wie „Die Schaukel“, „Golf“, „Tennis“, „Wasserfall“, „Picknick“ oder „Le Flirt.“ Und dies alles beginnt mit: einem „unappetitlichen Choral“. Hören Sie Marielle Labèque:

https://app.idagio.com/recordings/23537524?utm_source=pcl
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Manuskriptauszug Scherer (10)
Im April des Kriegsjahres 1916 beschließen zwei Künstler ein gemeinsames Projekt, die unterschiedlicher kaum sein könnten:

Der eine war siebenundzwanzig Jahre jung, verkehrte in den exklusivsten Salons und scharte die Berühmtheiten der Pariser Rive Droite um sich: Jean Cocteau.

Der andere war fünfzig Jahre alt, wohnte in einer schäbigen Bleibe in einem Vorort und war Stammgast in den Kneipen von Montparnasse: Erik Satie.

Ihre Zusammenarbeit – ergänzt durch Pablo Picasso, Bühnenbild und Kostüme, und Léonide Massine, Choreographie, führt zu einem veritablen Theaterskandal mit gerichtlichem Nachspiel. Das Ballet réaliste «Parade» auf ein Sujet von Jean Cocteau spielt in der Welt von Zirkus und Varieté.

Satie lässt alles andere liegen und arbeitet über ein Jahr an der Partitur. Er schreibt eine Musik aus verschieden Klangblöcken und Fragmenten der Alltagsmusik. Sie soll nicht die Führung übernehmen, sondern sich dem Bühnengeschehen unterordnen. Sie dient – so schrieb er später – „als musikalischer Hintergrund für das im Vordergrund stehende Schlagwerk und die szenischen Geräusche. So ordnet sie sich, ganz bescheiden, der Realität unter, die den Gesang der Nachtigall unter dem Rattern der Straßenbahn erstickt.“

Cocteau möchte auch, dass auf der Bühne gesprochen wird. Aber Satie und Picasso reden ihm das aus. Dafür verlangt er, dass Geräusche von Schreibmaschinen, Fabrik-Sirenen, Lotterietrommeln, von Dynamos und Dampfmaschinen eingebaut werden und: elektrische Klingeln und Revolverschüsse zu hören sind.

Die Handlung ist rasch erzählt: „Parade“ beginnt mit einem Choral, dann hebt sich der Vorhang und es folgen drei Szenen: ein chinesischer Zauberer tritt auf, ein amerikanisches Mädchen tanzt sich im Ragtime durch einen ganzen Film, imitiert Charlie Chaplin, verjagt einen Dieb, träumt vom Meer, schließlich springen zwei Akrobaten auf die Bühne und vollführen allerlei tolle Kunststücke über die Bühne. Dazwischen treten jeweils drei, von Picasso in monströse Gestelle aus Pappe und Holz verpackte amerikanische Manager auf, die lautstark, aber offenbar erfolglos, ihre Künstler anpreisen. Auf der Bühne entsteht ein wildes Spektakel, an dessen Ende alle Figuren vor Erschöpfung zusammenbrechen.

So nimmt der Schluss von „Parade“, meine Damen und Herren, schon den Tumult vorweg, der seiner Uraufführung am 18. Mai 1917 folgte, und mit dem jene denkwürdige Nachmittagsvorstellung der Ballets Russes im "Théatre du Chatelet" zu Ende ging.




Mit dem Bühnenbild und den Kostümen von Pablo Picasso war der Kubismus auf die Bühne gekommen. Jetzt bezeichnete man plötzlich auch Saties Musik – die ja eigentlich eher eine Tanzsuite ist - als „kubistisch“.

Der Skandal war vorprogrammiert. Und die Empörung, die „Parade“ damals gerade im Kriegsjahr 1917 auslöste, so kurz nach Verdun - war enorm. Im bis auf den letzten Klappsitz besetzten "Théatre du Chatelet" brach ein unbeschreiblicher Tumult aus. „Ab nach Berlin“ schrien die Leute und die chauvinistische Musikkritik ereiferte sich: „Der unharmonische Clown Erik Satie hat seine Musik aus Schreibmaschinen und Rasseln komponiert. Sein Komplize, der Stümper Picasso, spekuliert auf die nie endende Dummheit der Menschen... Alle Stammgäste der Pariser Premieren, alle Lumpen und Trunkenbolde vom Montparnasse wurden Zeugen des extravagantesten und sinnlosesten aller verhängnisvollen Produkte des Kubismus.“

Als ein gewisser Jean Poueigh Cocteau und Satie der „Dummheit, Banalität und Albernheit“ bezichtigt, reagiert Satie, der Poueigh persönlich kannte, umgehend. Und zwar mit einer ganzen Flut sorgfältigst kalligraphierter Briefkarten. Auf der noch harmlosesten stand: „Mein Herr und lieber Freund, Sie sind nur ein Arsch, aber ein Arsch ohne Musik. Gezeichnet: Erik Satie.“



Saties freche Briefkarten hatten ein Nachspiel. Der Kritiker Jean Poueigh sah sich diffamiert – weil ja jeder, angefangen vom Hausmeister, die offene Karte lesen könne. Also wurde Satie vor Gericht gezerrt und im Juli 1917 wegen öffentlicher Beleidigung zu acht Tagen Gefängnis ohne Bewährung und zu einer Geldstrafe von eintausend Francs verurteilt. Seine Freunde rieten ihm, dem tödlich gekränkten Kritiker einen entschuldigenden Brief zu schicken, doch Satie weigerte sich. Er ging in Berufung. Aber ohne Erfolg. Inzwischen sprach man nur noch vom „Fall Satie“. Erst die engagierten Interventionen einiger ziemlich hochgestellter Persönlichkeiten konnten erreichen, dass ihm Bewährung zugebilligt wurde. Unter einer Bedingung: er musste sich fünf Jahre lang „gut führen“.
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Manuskriptauszug Scherer (11)



„Der Kopf ist rund“, meine Damen und Herren, „damit das Denken die Richtung ändern kann.“ Das jedenfalls behauptet Francis Picabia, einer der schillerndsten Provokateure der Pariser Dada-Szene.

1924 legt er Satie ein Libretto für ein dadaistisch-instantaneistisches Ballet vor: für „Relache“ –was übersetzt soviel heißt wie: „Heute geschlossen!“ -: gerade hörten wir daraus den Anfang mit "Prélude du Rideau Rouge".

Seit dem Skandal um „Parade“ und den „Fall Satie“ liebten die Dadaisten Satie und hielten ihn für einen der ihren... Die Handlung von „Relache“ besteht – ganz instantaneistisch – aus lauter Augenblicken, verteilt auf 2 getanzte Ballett-Akte sowie einen filmischen Zwischenakt, in welchem hauptsächlich Satie und Picabia in verschiedenen, teils slapstickartigen, Szenen zu sehen sind.

Saties Musik dazu stellt „Menschen auf dem Jahrmarkt dar“. „Deshalb“, so sagt er, „habe ich alltägliche Melodien benutzt. Diese Melodien sind sehr anzüglich...Ja, sehr anzüglich...“

Die Premiere war für den 27. November 1924 angekündigt. Aber am "Théatre des Champs Elysées" hing das Plakat: „Relache. Keine Vorstellung!“

Natürlich hielt das Publikum, das vor verschlossenen Türen wartete, das Ganze für einen dadaistischen Streich. Dem war aber gar nicht so. Jean Borlin, Primoballerino des schwedischen Balletts von Rolf de Maré, war einfach krank geworden. Sagte man. Andererseits: war denn nicht der Zufall das Markenzeichen des Dadaismus?

Und so kam das letzte Werk Saties – wie um die erst späte Anerkennung seines Oeuvres vorwegzunehmen – mit einer Verspätung von genau acht Tagen zur Uraufführung. Aber: der von Picabia erhoffte Skandal blieb aus.

Hier ein Ballettausschnitt mit dem Ballet de Lorraine in einer Pariser Wiederaufnahme des Stücks von 2014.


*******ack4 Mann
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Erik Satie (1866-1925):
kam durch den Organisten der Kirche Saint-Léonard in seiner Heimatstadt Honfleur erstmals mit dem Gregorianischen Choral und der damaligen Art der Harmonisierung jeder Einzelnote in Berührung. Daran orientiert sich sein einziges, ca. 1895 komponiertes Orgelwerk, die "Messe des pauvres".

[aus: Handbuch Orgelmusik]:
Die 'Messe der Armen' - man nimmt an, dass sich dieser Titel, der gleichzeitig die Ökonomie der satztechnischen Mittel in ironisierender Weise auffängt, auf die Seeleute von Honfleur bezieht - beginnt mit einem Kyrie, in dem sich Chororgel und Hauptorgel gegenüberstehen. Dabei begleitet die Chororgel den Wechselgesang von jeweils einstimmig gesetzten tiefen bzw. hohen Singstimmen. Die weiteren "Messteile" sind für Orgel allein geschrieben, darunter zwei Stücke mit obligatem Pedal ('Prière des Orgues; Commune qui mündig nefas') und drei kurze Stücke mit Bässen in pianistischen Oktavverdoppelungen, die den Umfang der Orgelklaviatur mehrmals überschreiten ('Chant Ecclesiastique; Prière pour les voyageurs et les marins en danger de mort, à la très bonne et très auguste Vierge Marie, mère de Jésus'); 'Prière pour le salut de mon âme'. Die bizarren, melancholischen Stücke, in denen nackte Akkorde ohne jede funktionelle Bindung aneinander gereiht werden, sind als Nachwirkung von Saties Zugehörigkeit zum Orden der Rosenkreuzer zu verstehen, den er im Jahre 1892 verlassen hatte. Das 1895 fragmentarisch in der 'Revue d'ésotérisme, de littérature, de science et d'art' (Jules Bois) erschienene Werk stammt aber noch aus Saties religiöser Phase, während der er, wie er es selbst einmal kommentierte, 'auf den Knien' komponierte.
*******ack4 Mann
2.578 Beiträge
Erik Satie (1866-1925):
"Messe des pauvres",
für Kenner und Liebhaber hier in einer Fassung zum Mitlesen:


*******sima Frau
2.540 Beiträge
Manuskriptauszug Scherer (12)
Erik Saties letzten Monate waren gezeichnet von schwerer Krankheit. Sie erscheinen uns heute eben so traurig wie seine Kindheit, die er – nach dem frühen Tod der Mutter – zum größten Teil bei seinen Großeltern väterlicherseits verbracht hat.

Jetzt, noch keine 60 Jahre alt, leidet er an Leberverhärtung. Leberzirrhose. Zu viel Alkohol all die Jahre... Sein Zustand verschlechtert sich rapide.

Madleine und Darius Milhaud gehören jetzt zu den wenigen, die sich um den Schwerkranken kümmern. Milhaud erinnert sich: „Er aß nur ganz leicht, wobei er gegen den Kamin gelehnt mit Mantel und Schirm dasaß, den Hut über die Augen gezogen. In dieser Haltung verblieb er unbeweglich und schweigend, bis es Zeit war, um seinen Zug nach Arceuil zu erreichen.“

Seine Freunde bewegen ihn dazu, sich ein Zimmer in einem Hotel in Paris zu nehmen. Auch dort sitzt er immer mit Hut und Mantel bekleidet, den Regenschirm in der Hand, den ganzen Tag in einem großen Lehnstuhl und verbringt seine Zeit damit, sich im gegenüber hängenden Spiegel zu betrachten.

Dann geht alles ganz schnell. Sein Arzt besteht darauf, ihn ins Krankenhaus einzuweisen. Das Thermometer, die Spritzen, die Medizin – alles wird jetzt für ihn zu einem Drama. Einflussreiche Personen erreichen, dass er im Hopital Saint-Joseph in einem Privatzimmer untergebracht wird. Zu seinen Verwandten oder zu seiner Familie verweigert er alle Angaben... Sechs Monate lang besuchen ihn Madleine und Darius Milhaud täglich im Krankenhaus. Dann, von einer kurzen Reise zurückgekehrt, finden Sie nur noch ein leeres Bett vor. Satie war am 1. Juli 1925 gestorben.



Um ein Armenbegräbnis zu vermeiden, war es notwendig, Kontakt mit Saties Familie aufzunehmen. Die erfährt aus Zeitungsmeldungen von seinem Tod. Conrad Satie setzt sich mit Darius Milhaud in Verbindung und bittet ihn, vor dem öffentlichen Verkauf die Hinterlassenschaften seines Bruders durchzusehen. Also gehen sie nach Arceuil, in jenes legendäre „Haus mit den vier Schornsteinen“, wo Satie die letzten 27 Jahre verbracht hat.

„Ein enger Flur mit einem Waschbecken führte zu dem Schlafzimmer, in das Satie niemand Einlass gewährt hatte, nicht einmal dem Portier. Der Gedanke, dort einzudringen“, berichtet Milhaud, „beunruhigte uns. Was für ein Schock, als wir die Tür öffneten! Es war unvorstellbar, dass Satie in solcher Armut gelebt haben sollte. Dieser Mann, der in seinem tadellos sauberen und korrekten Anzug eher wie ein Beamter aussah, besaß also absolut nichts: ein armseliges Bett, einen Tisch, mit einem Durcheinander von Sachen bedeckt, einen Stuhl, einen halbleeren Schrank, in dem ein Dutzend altmodischer Samtanzüge hing, alle neu und einer wie der andere. In allen Ecken Spazierstöcke, alte Hüte, Zeitungen. Auf dem alten klapprigen Klavier, dessen Pedale mit einer Schnur festgebunden waren, lag ein Paket, dessen Poststempel erwies, dass es vor ein paar Jahren abgeliefert worden war. Satie weigerte sich, irgend etwas fortzuwerfen, alles mögliche hob er auf... Mit der ihm eigenen peinlichen Ordnungsliebe hatte er in einer alten Zigarrenschachtel mehr als viertausend kleine Stückchen Papier mit absonderlichen Zeichnungen oder kalligraphisch extravaganten Inschriften aufgehoben... Auf dem Klavier fanden wir Geschenke, die Zeugnis einer kostbaren Freundschaft waren: die Luxusausgaben von Debussys „Poèmes de Baudelaire“, „Estampes“ und „Image“ mit folgender herzlichen Widmung: Für Erik Satie, den mittelalterlichen, sanften Musiker„ und „dem berühmten Kontrapunktisten Erik Satie...".





Reinbert de Leeuw spielte die «Danses de travers» II und III, die «Quertänze» aus «Pièces froides» aus den «kalten Stücken» von Erik Satie.
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Manuskriptauszug Scherer (13)
Noch wenig mehr als ein halbes Jahr vor seinem Tod hatten Satie und Picabia die Première ihres dadaistischen Balletts „Relache“ gefeiert. Die Inszenierung war ein ultramodernes Experiment gewesen: ein Ballett ohne Handlung, ohne formulierbaren Sinn, eine instantaneistische Aneinanderreihung von lauter Augenblicken. Auf der Bühne raucht ein Feuerwehrmann unentwegt, eine Frau, auch mit Zigarette, tanzt mit acht Männern in Abendanzügen – über der Bühne hängen Spruchbänder: „Satie ist der größte Komponist der Welt“, ist da zu lesen. Oder: „Wenn Sie nicht zufrieden sind, kaufen Sie sich beim Saaldiener für zwei Groschen eine Pfeife.“ Und im Programmheft darf das Publikum lesen: „Ich höre Sie lieber grölen als applaudieren“. Oder: „Bringen Sie schwarze Brillen mit und etwas, um die Ohren zu verstopfen!“

Die Kritik reagiert wütend. „Erik Satie erscheint allmählich als der, der er wirklich ist“, heißt es da, „ein gefälliger, kleiner Musiker, ein amüsanter Unterhalter, ein einfallsreicher Erfinder von drolligen Bizarrerien oder – im Gegenteil – von geistreichen Naivitäten, im Ganzen gesehen ein Mann von wenig Bedeutung, der keine Schule angeführt hat, der ohne Einfluss blieb, ein netter Kabarett-Künstler, ein kleiner zweitrangiger Geist mit kurzem Atem.“

„Relache“ gerät nicht – wie „Parade“ – zum handfesten Skandal. Aber auch hier bricht am Ende im Theater ein unbeschreiblicher Tumult aus – dann wird der Vorhang noch einmal hochgezogen -: und: in einem kleinen 5-PS-Citroen kurvt Erik Satie auf die Bühne, macht Kehrtwendung und grüßt ironisch das werte Publikum, über das er sich vorher so großartig lustig gemacht hat.

Hier kommt der zweite Akt von „Relache“:



Von Picabia stammt der Einfall, zwischen den beiden Akten einen Film zu zeigen.

An einem Abend im Restaurant Maxime skizziert Picabia vage die Handlung in acht Punkten. Dann beauftragen die beiden René Claire, mit dem sie befreundet sind. Der wollte eigentlich Dichter und Schriftsteller werden, war aber Journalist und nur per Zufall zum Film gekommen.

Der Stummfilm war damals in Paris ein schon nicht mehr ganz so neues Medium. Aus Amerika waren nicht nur Grammophon, Jazz und die modernen Modetänze, sondern auch die ersten Serienfilme nach Paris gekommen. Hier war Charles Pathé der einflussreichste und erfolgreichste unter den frühen Filmproduzenten. Er hatte viel Geld mit Phonographen verdient und war der erste, der Phonographen und Stummfilm koppelte und schließlich in Vincennes ein modernes Filmstudio einrichtete. Eigentlich um das Geld zu verdienen, um endlich einen Roman schreiben zu können, hatte René Clair hier in verschiedenen Filmen mitgespielt. Er war ein großer Fan von Charlie Chaplin und wollte bald selbst lieber Filme machen als Romane schreiben.

Jedenfalls: er war genau der richtige Mann für Satie und Picabia. Aus den vagen 8-Punkte-Skizzen von Picabia fertigte er ein Drehbuch mit 346 Kameraeinstellungen an, von denen der Film 292 enthält. Der Titel: „Entr ́Acte cinématographique“: Kinematographischer Zwischenakt.

Und Erik Satie? „Was Satie betrifft“, notierte René Clair später, „diesen alten Meister der jungen Musik, so stoppte er die Länge der Szenen mit übertriebener Sorgfalt und legte so den Grund für die erste Filmmusik, Bild für Bild, zu einer Zeit, als der Film noch stumm war.“ Ihr Titel: „Cinéma. Entr ́Act symphonique de Relache.»

Die Handlung des Films in ganz groben Zügen: Häuser und Dächer von Paris, Marcel Duchamp und Man Ray spielen Schach, eine Ballerina, ein Ei tanzt aufeinem Wasserstrahl, ein Schütze zerschießt das Ei, eine Taube flattert heraus, setzt sich auf den Hut des Schützen, ein Leichenwagen, von einem Dromedar gezogen, führt einen Trauerzug an, das Dromedar löst sich vom Wagen, der Wagen beginnt auf abschüssiger Straße immer schneller zu rollen, an Autos und Radfahrern vorbei, quer durch die Stadt, eine wilde Jagd über Straßen und Brücken, schließlich rollt der Wagen auf eine Wiese und kippt um, der Sarg fällt vom Wagen, der Deckel springt auf, und heraus steigt der Schütze, verkleidet als Zauberer im Frack. 1926, zwei Jahre nach der Urauffürhung von „Relache“ hat Darius Milhaud das Stück für Klavier zu vier Händen transkribiert.


*******sima Frau
2.540 Beiträge
Manuskriptauszug Scherer (14)
Dass Erik Satie, wie es jener Kritiker seiner Ballettmusik schrieb, „ein Mann von wenig Bedeutung war, der ohne Einfluss blieb“, das ist – von heute aus gesehen – natürlich nicht wahr.

Gewiss, es hat lange gedauert... aber dann waren es, neben Darius Milhaud, dem Vertrauten seiner letzten Monate, vor allem die beiden Amerikaner John Cage und Morton Feldman, die Saties Modernität entdeckten und Anregungen seiner Musik und seiner Ästhetik aufgriffen. Wenn wir uns, meine Damen und Herren, noch einmal an die 840 Wiederholungen der wenigen Takte von „Vexations“ erinnern, an die „Klavierquälereien“ von Erik Satie, deren Aufführung um die 20 Stunden beansprucht – hat Satie da nicht eigentlich das kompositorische Credo von Morton Feldman vorweggenommen: je länger ein Stück sei, desto weniger Tonmaterial dürfe in ihm vorkommen?

Tatsächlich erinnern viele Klavierstücke von Satie mit ihren kleinen motivischen Partikeln und minimalen Variationen und tonalen Verschiebungen an die Pattern-Kompositionen Morton Feldmans, die zum Teil ja auch erhebliche Aufführungsdauern beanspruchen, darunter Klavierstücke mit einer Dauer von 70 und 80 Minuten. Sein „Nocturne Nr. 1“ hält Morton Feldman für das Schönste, was Erik Satie geschrieben hat.



Jean-Yves Thibaudet spielte das “Nocturne No. 1” von Erik Satie – Musik, die der Amerikaner Morton Feldman bewunderte.

Der vielleicht größte Nachfahre von Erik Satie, dem es mit der Anerkennung seiner Musik übrigens ganz ähnlich erging wie Satie, das war John Cage.

1939 hatte Cage das berühmte „präparierte Klavier“ erfunden, das von da an in seinem Werk eine zentrale Rolle spielt. Das ist nicht ganz richtig. Denn vor ihm hatte bereits der amerikanische Komponist Henry Cowell damit experimentiert. Aber auch das ist nicht ganz richtig. Denn eigentlich war es Erik Satie, der das präparierte Klavier vorweggenommen hat. Und zwar anlässlich der Uraufführung seines kurzen skurrilen Bühnenspiels „Le Piège de Meduse“, die „Falle des Monsieur Qualle“.

Zwischen den einzelnen Szenen tanzt ein ausgestopfter Spielzeugaffe zum Aufziehen; er setzt sich immer dann in Bewegung, wenn die Zwischenspiele des Klaviers erklingen. Das Stück wurde 1914 im Salon der Eltern von Saties jungem Freund Roland Manuel uraufgeführt. Und da hat man Sorge getragen, Papier zwischen die Saiten des Klaviers zu stecken, damit der Klang dem ausgestopften Affen ähnlicher wird: strohiger, heißt es.


*******sima Frau
2.540 Beiträge
Manuskriptauszug Scherer (15)
„Schluss mit den Wolken, den Wellen, den Aquarien, den Undinen und den nächtlichen Düften: wir brauchen eine Musik, die fest auf der Erde steht, eine Alltagsmusik“, verlangte Jean Cocteau 1918.

Erik Satie hat diese Musik geschaffen. Er gab ihr den Namen: "Musique d ́Ameublement". Ihre Aufgabe: die musikalische Möblierung, die akustische Ausstattung öffentlicher Räume. Satie erfindet die Klangtapete, die uns heute an so vielen Orten umgibt, dass wir sie oft gar nicht mehr wahrnehmen. Der Maler Fernand Léger erinnert sich: „Wir aßen, Freunde und er, in einem Restaurant. Wir mussten eine unglaublich lärmende Musik aushalten. Wir verließen den Raum und Satie sagte: Man muss trotzdem den Versuch machen, eine Musique d ́Ameublement zu realisieren, das heißt: eine Musik, die Teil der Geräusche der Umgebung ist; die sie einkalkuliert. Ich stelle sie mir melodiös vor, sie soll den Lärm der Messer und der Gabeln mildern, ohne ihn zu übertönen, ohne sich aufzudrängen. Sie soll das oft so lastende Schweigen zwischen den Gästen möblieren. Sie wird ihnen die üblichen Banalitäten ersparen. Gleichzeitig neutralisiert sie etwas die Straßengeräusche, die ungeniert ins Spiel hereinkommen.“



Satie ́s Fiction: Seine "Musique d ́Ameublement" ist auf dem Sprung, genau die Rolle der Hintergrundmusik zu übernehmen, die uns heute fast überall durch den Alltag begleitet. Und: Erik Satie präzisiert: „Die Musique d ́Ameublement ist grundsätzlich industriell. Wir wollen eine Musik schaffen, die nützliche Bedürfnisse befriedigen soll. Kunst hat da nichts zu suchen. Musique d ́Ameublement erzeugt eine Schwingung; sie hat keinen anderen Zweck; sie erfüllt die gleiche Aufgabe wie Licht und Wärme – als comfort in jeder Form. Musique d`Ameublement für Anwaltskanzleien, Banken etc. Keine Hochzeitsfeier mehr ganz ohne Musique d ́Ameublement. Man betrete kein Haus, in dem es keine Musique d ́Ameublement gibt. Wer noch keine Musique d ́Ameublement gehört hat, ignoriert das Glück. Schlafen Sie nicht ein, ohne ein Stück Musique d´́Ameublement zu hören, oder Sie werden schlecht schlafen.“

Versteht sich, dass diese neue Musiksorte, der man gar nicht zuhören soll, Musik für das phonographische Medium ist. Darius Milhaud weiss von einer Ausstellungsmusik zu berichten, die pausenlos von einem Grammophon abgespielt werden sollte.



Es gehört zu den Treppenwitzen der Musikgeschichte, meine Damen und Herren, dass ein kleiner Teil von Erik Saties Musik heute zielgenau dort angekommen ist, wo sie ihr listiger Komponist als "Musique d ́Ameublement" hingeträumt hat. Nämlich in den modernen Medien. Denn genau gesehen hat Satie ja nicht nur mit „Cinéma“ Film-Musik geschrieben... Heute begegnen wir seiner Musik in Werbe-und Reklamefilmen im Fernsehen, aber auch in Spielfilmen im Kino. Erik Satie, heißt das, ist angekommen. Und für diese Musik – tja, da hätte er sich heutzutage wohl eine goldene Nase verdient...



(Ende des Manuskripts)
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Empfehlung: Satie-Buch mit begleitender Website
"Hinreißend und geistreich" - so lautet die Titelzeile einer Buchkritik, die am 14.12. 2016 in der Sendung SWR2 Cluster gesendet wurde und das Buch des Schweizer Pianisten und Musikschriftstellers Tomas Bächli vorstellt, das anlässlich Saties 150. Geburtstag geschrieben wurde und den, leicht verstörenden, Titel trägt: "ich heiße Erik Satie wie alle anderen auch".

Georg Beck verfasste die Rezension, die nachlesbar ist unter
https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/bookreview-swr-2078.html
*******sima Frau
2.540 Beiträge
"Satiesfiktionen" - Ein Dokumentarfilm über Erik Satie
DVD-Tipp :

Er war einer der schillerndsten Persönlichkeiten der französischen Musik: der Komponist Erik Satie. Zu seinem 90. Todestag im Juli 2015 erschien der Dokumentarfilm "Satiesfiktionen", der nun auf DVD und bei youtube erhältlich ist.

https://www.ardaudiothek.de/ … erik-satie-dvd-tipp/78861226

Hier die youtube - Fassung (55 Minuten, französisch mit deutschen Untertiteln):


*******sima Frau
2.540 Beiträge
Und hier 3 Stunden Musik am Stück von Erik Satie:


*******uck Mann
138 Beiträge
Danke, liebe Tantrissima *bussi*
****ga Frau
18.014 Beiträge
Themenersteller 
Zitat von *******uck:
Danke, liebe Tantrissima *bussi*

ja dem kann ich mir nur anschliessen *top2*

*danke* liebe Tantrissima
*******ltra Mann
1.393 Beiträge
Alles habe ich nicht gehört, aber Satie nehme ich jetzt – vor allem auch dank Tantrissima – als jemand mit einer spezifischen musikalischen Sprache wahr, der seinen ganz eigenen Weg in das musikalisch neue 20. Jahrhundert gefunden hat.
Es war auch eine Anregung für meinen nächsten Besuch in der CD-Abteilung bei Dussmann in Berlin, der ja nun wieder möglich sein dürfte. Was es von den vorgestellten Musiken dann per Kauf sein wird – wer weiß.
Es gab damals eine sehr gute Satie-Platte mit dem Jazzpianisten Ulrich Gumpert. Vielleicht ist die irgenwie zu bekommen.
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Der dutsch-französische Kultursender arte hat im Januar dieses Jahres eine 16 Minuten lange Zusammenstellung produziert über Filme, die sich Erik Saties Musik zur Untermalung bedient haben. Anzusehen / -hören unter:

https://www.arte.tv/de/video … sikalische-top-5-erik-satie/
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Satie - Hörbuch
Im Jahr 2011 erschien ein sehr schön gemachtes Hörbuch mit Texten und Musik ausschließlich von Erik Satie:

Hier ein paar Rezensionen dazu:

Schöne Entdeckung: Der als Erneuerer der Musik bekannte Erik Satie(1866 1925) hat ähnliche Pionierarbeit für die Literatur geleistet. Was als "Musique Pure" gilt, kann man auf seine Sprache übertragen: radikale Einfachheit, Abkehr von Sentimentalität und Dramatik. Auf hunderten von Zetteln hat Satie Miniaturgeschichten notiert, groteske Einfälle, surreale Gedankenspiele. Auf dieser CD werden kurze Prosatexte Saties mit seiner Musik verwoben. Dietmar Mues trifft dabei diesen ganz nüchternen Tonfall, der von Ironie bebt. (hr2-Hörbuchbestenliste August 2010 /Der persönliche Tipp von Rolf Michaelis)

Notorisch sind die kauzigen Kurztexte, die sich teils in den Partituren, teils auf unzähligen Zettelchen fanden. Eine erfreuliche Audio-Edition stellt Saties Satiren den Kompositionen zur Seite, vermischt indes beide Ausdrucksformen bewusst nicht, um die «pureté» beider zu wahren. Mit Dietmar Mues ist eine diskrete Stimme am Werk (Neue Zürcher Zeitung / 3. Dezember 2010: Der diskrete Charme des Erik Satie)

Dem Musiker Satie wird in diesem Hörbuch der Schriftsteller Satie zur Seite gestellt. Produziert mit hohem technischem Anspruch, lässt sich diese bisher wenig bekannte Facette des Musikers (neu) entdecken. Die Zusammenführung dieser künstlerischen Identitäten findet im Hörbuch das ideale Medium und sorgt hier für aufschlussreichen Hörgenuss. (Deutscher Hörbuchpreis 2011: Die Nominierungen)

Eine Hörprobe steht bei amazon zur Verfügung.
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Und zum guten Schluss noch die Einladung zur Lektüre eines sehr persönlichen Artikels von Moritz Eggert in der Print-Ausgabe 5/2016 der neue musik zeitung , in dem er beschreibt, was für einen entscheidenden Einfluß Satie und seine Musik auf sein Leben und seine Entwicklung als Komponist hatte:

Wo das Leben in der Musik Platz hat

Drei Gedanken in Form einer Birne für Erik Satie · Von Moritz Eggert

https://www.nmz.de/artikel/wo-das-leben-in-der-musik-platz-hat
****ga Frau
18.014 Beiträge
Themenersteller 
Zur Auswahl für den KDM im Juni 21 stehen zur Auswahl
Jan Zdeněk Bartoš 4.6.1908,
Albert Becker 13.6.1834,
Ralph Benatzky 5.6.1884,
Alfredo Catalani 19.6.1854,
Hugo Distler 24.6.1908,
Johann Wolfgang Franck 17.6.1644,
Charles Gounod 17.6.1818,
Ignaz Fränzl 4.6.1736,
Heinrich von Herzogenberg 10.6.1843,
Igo Hofstetter 1.6.1926,
Clemens Ingenhoven 6.6.1905,
Joseph Joachim 28.6.1831,
Marcel Khalifé 10.6.1950,
Volker David Kirchner 25.6.1942,
Leopold Anton Koželuch 26.6.1747,
Joseph Martin Kraus 20.6.1756,
Erwin Lendvai 4.6.1882,
Walter Leigh 22.6.1905,
Frederick Loewe 10.6.1901,
Francesco Manfredini 22.6.1684,
Dušan Martinček 19.6.1936,
Étienne-Nicolas Méhul 22.6.1763,
Hans Friedrich Micheelsen 9.6.1902,
Georg Muffat 1.6.1653,
Otto Nicolai 9.6.1810,
Jaques Offenbach 20.6.1819,
Maurice Ohana 12.6.1913,
Max d'Ollone 13.6.1875,
Georgs Pelēcis 18.6.1947,
Lambert Pietkin 22.6.1613,
Ignaz Joseph Pleyel 18.6.1757,
José Rolón 22.6.1876,
Nikolai Grigorjewitsch Rubinstein 2.6.1835,
Česlovas Sasnauskas 19.6.1867,
Johann Stamitz 19.6.1717,
Roman Summereder 12.6.1945,
Alexandre Tansman 12.6.1897,
Carlos Teppa 4.6.1923,
Eduard Tubin 18.6.1905,
Siegfried Wagner 6.6.1869
Spyridon Xyndas 8.6.1812,
Carl Zeller 19.6.1842,
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Ich stimme für

Francesco Manfredini *love*
*********toile Paar
8 Beiträge
Dann nehmen wir mal den Edvard Grieg. 🎹 🇳🇴
*******sima Frau
2.540 Beiträge
Sorry, @*********toile, Grieg hatten wir bereits im vergangenen Jahr, 2020!

Und davor, 2019, Katchaturian. Die beiden entfallen damit mutmaßlich wohl für diesen Juni... *nachdenk*

Jacques Offenbach wäre daher meine aktuelle Wahl.
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