Manuskriptauszug Struck-Schloen (1)
1. Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich
Der Mann, um den es in dieser Woche geht, war eine beliebte Zielscheibe der Karikaturisten. Mal hetzt er mit grün karierter Hose, Paletot und Zylinder durchs Bild, auf dem Weg zur Probe in einem Pariser Theater; dann wieder reitet er rosenbekränzt auf einem Cello ‒ oder komponiert lächelnd für ein ganzes Heer von Theaterdirektoren, die bittend und bettelnd zur Tür hereinquellen. Der gehetzte, begehrte und enorm produktive Mann ist natürlich Jacques Offenbach ‒ der Tanzmeister der Pariser Opéra-bouffe, der am kommenden Donnerstag seinen 200. Geburtstag feiert. Wir feiern mit, am Mikrofon ist Michael Struck-Schloen.
Offenbach feiern! Dazu sollte man nicht nur den Höllen-Cancan aus Orpheus in der Unterwelt oder die Barkarole aus Hoffmanns Erzählungen lieben, sondern den ganzen Offenbach. Und dazu muss man aufgelegt sein. Als am 20. Juni 1919 der hundertste Geburtstag des Komponisten anstand, war der Erste Weltkrieg gerade zuende und der Versailler Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Siegermächten fast spruchreif. Nicht nur die Millionen Toten auf beiden Seiten, auch die harten Bedingungen des Vertrags belasteten in den kommenden Jahren das Verhältnis zwischen Deutschland und
Frankreich ‒ der beiden Länder, die Offenbachs Identität geprägt haben. Nein, in Feierlaune war damals, im Juni 1919, niemand so recht.
Aber das änderte sich zum Glück wieder. Offenbachs Musiktheater war nicht vergessen, sondern nur aufgeschoben. Und in der ausbrechenden Amüsierwut der zwanziger Jahre, die Paris genauso wie Berlin erfasste, spielte Offenbach wieder eine Rolle. Der Regisseur Max Reinhardt frischte seine Vorkriegsinszenierungen des Orpheus und der Schönen Helena auf; an der Krolloper in Berlin kamen Hoffmanns Erzählungen in einem hypermodernen Bühnenbild des Bauhaus-Künstlers László Moholy-Nagy heraus; und in Wien setzte sich der Schriftsteller Karl Kraus leidenschaftlich für Offenbach als Alternative zur rührseligen Operette von Lehár und Kálmán ein.
Offenbachs feucht-fröhliche Frivolität, seine Respektlosigkeit gegenüber den Eliten, der Wahnsinn seiner Handlungen und Galopps ‒ das alles passte bestens zum Geist der Befreiung in den roaring twenties. Und der Dirigent Otto Klemperer gehörte zu denen, welche die Offenbach-Renaissance mit dem passenden Soundtrack versahen.
An dieser Stelle steht im Manuskript die Einspielung der Ouvertüre zur "Schönen Helena" in einer Aufnahme von 1929, in der Bearbeitung von Friedrich Lehner, mit der Staatskapelle Berlin unter Otto Klemperer. Diese Aufnahme steht im Internet nicht zur Verfügung, aber die Ouvertüre an sich wurde ja glücklicher Weise bereits weiter oben von @****ga eingestellt und kann dort abgespielt werden, wenn auch nicht in der Lehner-Bearbeitung!
(...) Und auch hier steht am Ende ein zündender Galopp, wie es sich für die großen Opéras-bouffes von Jacques Offenbach gehört.
1933 aber wurde Offenbach in Deutschland abgeschafft ‒ als Jude, als Franzose und als Komponist frivoler, eben „undeutscher“ Musik. Das kam nicht unvorbereitet. Schon ein halbes Jahrhundert früher hatte eine Leipziger Karikatur Offenbach als Juden und Affen gezeigt. „Der semitisch-musikalisch-akrobatische Gorilla“, so las man unter der giftigen Zeichnung, „war die Freude aller Operettenthiergärten, in denen er durch seine oft drolligen Töne die musikalischen Kinder ergötzte. Obgleich in Köln geboren, ist er doch in Paris gezüchtet. Gegenwärtig ist er etwas außer Mode gekommen.“
Aber auch im NS-Staat verschwand Offenbach nicht sofort ‒ bis 1938 durfte er noch vom Jüdischen Kulturbund aufgeführt werden. Als die Synagogen brannten, war auch das vorbei. Nach dem Krieg war Offenbach fast erledigt. Man kannte noch einige Werke ‒ Die schöne Helena, Orpheus in der Unterwelt, vor allem die letzte Oper Hoffmanns Erzählungen. Aber sie wurden in fragwürdigen Bearbeitungen aufgeführt, und für die meisten galt Offenbach ohnehin nur als Schöpfer des Cancans und frivoler Nichtigkeiten.
Als in seiner Geburtsstadt Köln der Platz vor der neuen Oper im Jahr 1957 den Namen „Offenbachplatz“ erhalten sollte, gab es Proteste von Seiten der CDU und FDP. Für die Vertreter der Volksparteien war Offenbach weder ein bedeutender „Meister deutscher Musik“ noch ein würdiger Kölner ‒ eine Peinlichkeit ersten Ranges. Aber dahinter steckte nicht nur das Erbteil des Nationalsozialismus, das bis heute weiterwirkt. Wie immer misstraute der Bildungsbürger dem Populären ‒ übrigens auch in Frankreich, wo man über Offenbach gern die Nase rümpft. Und ist es nicht seltsam, dass es nirgendwo ein Museum für den Komponisten gibt, der in Frankreich und Wien so bekannt war wie Wagner oder Verdi? Die „Rue Jacques Offenbach“ in Paris ist eine mickrige Straße, die Offenbach nie gesehen hat. Und seine Wohnungen am Fuß des Montmartre wurden schon zu Lebzeiten Opfer des Pariser Großarchitekten Baron Haussmann.
Gehen wir in den folgenden vier Musikstunden auf SWR 2 ein wenig auf Spurensuche. Und beginnen wir am heutigen Offenbachplatz, wo bis zu ihrer Zerstörung in der Pogromnacht von 1938 die prachtvolle Kölner Synagoge stand.
Die hier vorgesehene Einspielung lautet im Manuskript folgendermaßen:
Jacques Offenbach:Tavo lefanecha (T: Jüd. Liturgie)
Diese Einspielung steht mir nicht zur Verfügung. Ein Soundtrack des entsprechenden Musikstücks steht jedoch zur Verfügung unter dem Link:
https://www.iemj.org/en/medi … rubrique=178&id_article=2134
Sie ist entnommen einer vom WDR produzierten CD "Gesänge aus der Synagoge" mit Titeln von Jacques und Isaak Offenbach. Isaak war Offenbachs Vater. Zum Anhören bitte bis zum Ende des erklärenden Einführungstextes herunterscrollen
„Unser Gott und Gott unserer Väter / Es ertöne vor Dir unser Gebet, / Überhöre nicht unser Flehen“. So beginnt dieses jüdische Geständnis, das in der alten Kölner Synagoge erstmals im Jahr 1841 gesungen wurde; Jacques Offenbach hatte den Text eigens für das kleine Bethaus und seine Gemeinde vertont. Damals weilte der Komponist bei der Familie in Köln, die gerade zwei herbe Schicksalsschläge zu verkraften hatte: In kurzen Abständen waren der Bruder Michael und die Mutter gestorben, die ihren Sohn sicher niemals Jacques, sondern immer nur Jacob oder ‒ auf gut kölnisch ‒ „Köbesje“ genannt hat.
Mutter Marianne Offenbach war die Tochter eines Geldwechslers und Lotterieunternehmers. Und in der Familie wurde lange noch erzählt, dass ihr Vater, der wohlhabende Herr Rindskopf, gar nicht amüsiert war, als sich die Tochter eines Tages in einen armen Musiker namens Isaac Eberst verliebte, der unlängst aus Offenbach zugewandert war. Die Hochzeit konnte er dennoch nicht verhindern ‒ und vielleicht hat er sich ja am Ende über den reichen Enkelsegen gefreut: Zehn Kinder bekamen Marianne und Isaac, der sich bald Offenbach nannte. Als siebtes Kind kam Jacob Offenbach am 20. Juni 1819 am Großen Griechenmarkt in Köln zur Welt.