Manuskriptauszug Struck-Schloen (9)
3. Grillfleisch und Champagner ‒ Offenbach bittet zu Tisch
Wer im Rheinland aufgewachsen ist und die meiste Zeit seines Lebens in Frankreich verbracht hat, war selten Abstinenzler oder Kostverächter. Jacques Offenbach war so ein Grenzgänger zwischen Rheinwein und Champagner, zwischen kölnischer Blutwurst und Bœuf bourguignon. In seinem Leben spielte das Zelebrieren der Speisen und Getränke eine zentrale Rolle: zuhause, im Restaurant ‒ vor allem aber in seinen komischen Opern. Fast ständig wird hier zu Noten gebrutzelt, gefuttert, übers Essen philosophiert und beim Essen verführt. Und weil man erst nach einem Schlückchen Wein oder Bier so richtig in Stimmung kommt, gibt es nur weniger Offenbach-Werke ohne Trinklied. (...)
1864 hatten "Die Rheinnixen", Offenbachs erster Ausflug in die Welt der großen Oper, in Wien Premiere ‒ leider nur mit mäßigem Erfolg. Und man kann Offenbach nicht verdenken, dass er das schmissige Trinklied des ersten Aktes am Ende seines Lebens in der Oper Hoffmanns Erzählungen noch einmal verwendet hat ‒ wo es dann im Munde des alkoholisierten Zynikers Hoffmann endgültig berühmt wurde.
Der Treibstoff Alkohol also: Er gehörte genauso zum Leben der Bohème wie zu den Partys der Pariser Hautevolee. Und wenn Bismarck behauptete, dass der Deutsche erst nach einer halben Flasche Wein seine „natürliche Höhe“ erreichte, so übernahm diese Funktion bei den Franzosen der Champagner. Offenbach selbst war kein exzessiver Trinker ‒ er hatte ein anderes „schreckliches, unausrottbares Laster“, wie er einmal in einem Brief an die Zeitung Le Figaro gestand. Und das war: „arbeiten, stets und ständig arbeiten“. „Ich bedaure dies“, so fuhr er fort, „um jener willen, die meine Musik nicht lieben. Denn ich werde bestimmt sterben mit einer Melodie an der Spitze meiner Feder.“
Womit er ‒ zum Ärger seiner Gegner ‒ recht behielt. Im Oktober 1880 starb Offenbach während der Proben an seiner Oper "Les contes d’Hoffmann", Hoffmanns Erzählungen. Die Titelfigur, für die der in Frankreich äußerst beliebte Dichter E.T.A. Hoffmann Pate stand, hat tatsächlich ein gravierendes Alkoholproblem.
„Er ist Dichter und Musiker ‒ und er trinkt kein Wasser“, so bringt es seine ständige Begleiterin, die Muse, auf den Punkt. Die zentrale Frage der Oper aber ist nicht: Wie komme ich von der Flasche los?, sondern: Wie entsteht große Kunst? Sicher hat sich auch Offenbach diese Frage immer wieder gestellt, egal ob in der leichten Muse oder in seinen ambitionierten Werken für große Pariser Häuser. Hoffmann jedenfalls wird ständig von seiner eigentlichen Aufgabe, dem Schaffen, abgelenkt: durch die falschen Frauen, die sein Gefühlsleben ruinieren ‒ und durch den Alkohol, der seine Gesundheit zerstört. Wenn er am Ende vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz steht, zieht die Muse ihre Bilanz: Hoffmann musste an sich selbst und der Gesellschaft leiden, um zuletzt die wahre Kunst zu schaffen. Fürwahr, ein sehr romantisches Bild vom Künstler!
Was Offenbach nicht daran hindert, die Geister des Bieres und des Weines auch ganz spielerisch durch seine Musik tänzeln zu lassen. Gleich zu Beginn der Oper steigen sie in der Berliner Kneipe von Lutter & Wegner aus großen Fässern auf und besingen mit ihrem „glou glou“ die sanft benebelnde Wirkung des Alkohols. Aus dem größten Fass klettert die Muse hervor und verkündet im mystischen Mondlicht, dass sie alles daransetzen werde, Hoffmann von den Ketten seiner Gefühle zu befreien.
(...) Ein Gasthaus voller Fässer, wo sich Studenten besaufen und selbst die Wein-und Biergeister eine Stimme bekommen: das ist der Hauptschauplatz der Oper Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach.
Mit seinem Hoffmann zog Offenbach kurz vor seinem Tod das Fazit einer romantischen Künstlerexistenz zwischen dem bürgerlichen Leben mit all seinen Verlockungen und Widerwärtigkeiten ‒ und einer Kunst, die sich über dieses Leben hinwegsetzt und damit unsterblich wird. Ein vergleichsweise ernstes und abgehobenes Thema für einen Komponisten, der sich in den meisten seiner Stücke fürs Musiktheater eher down to earth bewegt. Offenbach war nichts Menschliches fremd ‒ vor allem nicht die leiblichen Genüsse.
Das genaue Gegenteil zur niederdrückenden Atmosphäre im Berliner Wirtshaus, wo sich Hoffmann aus Kummer betrinkt, erleben wir in der Opéra-bouffe "La vie parisienne". Das Pariser Leben, das Offenbachs Lieblingslibrettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy auf die Bühne bringen, ist eine einzige Folge von Champagnergelagen und wechselndem Partnertausch, so dass selbst der Direktor am freizügigen Theater des Palais-Royal vor der Premiere kalte Füße bekam ‒ schließlich sollte das Stück zur Pariser Weltausstellung 1867 die Kassen füllen.
Dass dann der Erfolg alle Erwartungen übertraf, lag vor allem an zwei Tricks der Macher. Der erste ist, dass hier alle Klischees vom weltläufigen und vergnügungssüchtigen Paris vorgeführt werden, mit denen damals die Weltausstellungsbesucher aus aller Welt anreisten: ausschweifende Soupers, adlige Lebensart oder Kurtisanen, die zu allem bereit sind. Der zweite Trick ist, dass all diese Klischee-Situationen gar nicht echt sind. Sie werden nur vorgetäuscht von einer Gruppe Einheimischer, die weder reich noch mondän sind, sondern einfach nur gewitzt. Stubenmädchen, Schuster und Hoteldiener schlüpfen da in die Kleider der hohen Herrschaften; die echten Pariser und Pariserinnen hauen die Touristen gnadenlos übers Ohr ‒ und verbünden sich am Ende doch mit ihnen: So sind wir eben, und ihr seid eingeladen, unser Wesen mit uns zu feiern.
Die übliche Art, diese große Verbrüderung zu begehen, ist das gemeinsame Champagner-Besäufnis, in dem die meisten Akte der "Vie parisienne" ertrinken. Denn alle wollen diesen wunderbaren Zustand erleben, „gris“, nämlich angeschwipst, zu sein. Und wenn es noch toller kommt, dann dreht sich alles im Kreis. „Tout tourne, tout danse“, das Finale des 3. Akts.
"Ausgelassener Tanz, wenn der Vorhang fällt“, so heißt die Regieanweisung zu diesem wilden Galopp am Ende des 3. Akts von Offenbachs Vie parisienne ‒ dem Hymnus auf die Schlauheit der Pariser Bevölkerung, die den amüsierwütigen Touristen bei der Weltausstellung von 1867 so manchen Streich spielt.
Der Alkohol entfaltete bei Offenbach so manche enthemmende Wirkung ‒allerdings nicht nur auf der Bühne, sondern auch zuhause bei seinen legendären Freitagabend-Salons. Dazu lud Offenbach etliche Freunde in seine Wohnung in der Rue Laffitte ein ‒ das Haus gibt es heute nicht mehr: es musste einer der Prachtstraßen auf dem neuen Stadtplan von Baron Haussmann Platz machen. Als es noch existierte, gab es dort bei Offenbachs die tollsten Verkleidungspartys ‒ und auch hier tanzte man mit Vorliebe die übermütigen Cancans und Galopps, die durch viele von Offenbachs Operetten hindurchstürmen.
Durch die Reihen der Gäste zwängten sich dann Offenbach, seine Frau Herminie oder die Diener, um die Gäste mit allem zu bewirten, was die Speisekammer hergab. Dazu musste man sie am Morgen erst einmal füllen ‒ sprich: auf dem Markt gehen, am besten in die Hallen von Paris, dem legendären Bauch von Paris, wie sie Émile Zola in seinem Roman genannt hat. Offenbachs „opérette-bouffe“ Mesdames de la Halle ‒ Die Damen auf dem Markt ‒ spielt allerdings nicht in seiner Gegenwart, sondern in der Zeit vor der Französischen Revolution. Und ein bisschen altmodisch wirken auch die Marktschreier am Beginn der Operette, die ihre Produkte anpreisen: Zwiebeln, Karotten, Rüben, Fleisch, aber auch Sonnenschirme und Kleidung. Und wie in der Barockoper, wo solche Szene schon beliebt waren, schreit alles durcheinander.
Wenn sich die Hausdame von Monsieur und Madame Offenbach morgens auf dem Markt mit Fleisch, Gemüse, Kräutern sonstigen Lebensmitteln versorgt hatte, konnten die verrückten Freitagabende in der Rue Laffitte stattfinden. Dabei gab es so einige Tollheiten, wie sich ein Zeitgenosse erinnert: „Wenn man sich nicht zu den improvisierten »Hopsereien« kostümierte, spielte man Komödie, veranstaltete pantomimische Rätselspiele oder führte burleske Dramen und Parodien großer Opern auf. Nach Mitternacht stürzten alle in die Küche zur stets gefüllten Speisekammer und fielen über die hartgekochten Eier, den Schinken, die Hammelkeule, über die Salate und das Obst her. Überall wurden ein paar Tische aufgestellt, manchmal sogar draußen auf dem Treppenabsatz. Stapel von Tellern türmten sich, Flaschen wurden entkorkt, und unter übermütigem Gelächter gab man sich unbeschwerter Freude hin bis zur Stunde des Aufbruchs.“Und wenn es am Ende alles aufgegessen war, dann mussten man in der hinteren Ecke der Speisekammer schauen, ob nicht doch noch etwas geblieben war - vielleicht eine deutsche Leberwurst oder ein Stück französischer Schinken?
In dem eben gehörten Lied, der Zugnummer der einaktigen komischen Operette
"Tromb-al-ca-zar", geht es um den feinen Schinken aus Bayonne, der hier kollektiv besungen wird. Wobei Offenbach mit Genuss einen schieren Blödeltext vertont: „Eh bon, bon, bon! avec le jambon de pif, paf, pif, pouf, de Bayonne!
Schinken statt Leberwurst also. Und wenn etwas im Speiseplan von Offenbachs ausgelassenen Freitagabenden und seinen komischen Opern der hausgemachten Leberwurst nahekam, dann war es „le pâté“, die Fleischpastete im Teigmantel ‒ wahlweise aus Kalb, Wild, Geflügel, Gänseleber etc. Und Offenbach wäre nicht der Gourmet des französischen Musiktheaters, wenn er nicht auch die Pastete in seine Partituren eingebacken hätte.
1856 kam "Geneviève de Brabant" auf die Bühne der Bouffes-Parisiens ‒ eine sehr freie Variante des Märchens von der Herzogin Genoveva von Brabant, die in Abwesenheit ihres Mannes von einem bösen, machtgeilen Höfling in den Wald verbannt wird. Daraus haben Offenbach und seine Librettisten den üblichen Overkill an Gags und Parodien destilliert: Der Herzog von Brabant ist impotent, seine Frau Geneviève trifft heimlich den attraktivsten Bäcker am Ort ‒ aber als es herauskommt, muss der Herzog glücklicherweise mit einigen Kreuzrittern den Zug nach Palästina besteigen.
Um den Herrscher wieder zeugungsfähig zu machen, veranstalten die verzweifelten Ratsherren der Fantasiestadt Curaçao in Brabant einen Wettbewerb um das potenzsteigernde Mittel. Da meldet sich ausgerechnet der Liebhaber der Herzogin Geneviève mit einer magischen Fleischpastete ‒ kräftigend für alle Körperteile, ein Viagra für alle ermüdeten Ehemänner, das mit jedem Bissen fünf Jahre jünger macht.
Das war das „Rondo du pâté“, das Fleischpasteten-Rondo aus Jacques Offenbachs Opéra-bouffe "Geneviève de Brabant" ‒ ein Stück, das der Komponist offenbar mehr geliebt hat als das Publikum: In drei verschiedenen Bearbeitungen hat er die Herzogin Genoveva von Brabant und ihre mehr oder weniger trotteligen Männer auf die Bühne gebracht.
Das lag wohl auch daran, dass Offenbach eine Schwäche für starke Frauen hatte: Sie marschieren als Genoveva, Schöne Helena, Großherzogin von Gerolstein oder als resolutes Bauernmädchen Boulotte durch seine Stücke und behalten am Ende die Oberhand ‒ während die Männer trotz aller gemeinen Intrigen unterliegen.Natürlich ist die aphrodisierende Fleischpastete, die der Bäcker Drogan dem Herzog von Brabant anpreist, nur ein Trick, um mit der Herzogin ins Bett zu gehen. Und dass gutes Essen die Liebe und die Lebensfreude animiert: davon war Jacques Offenbach genauso überzeugt wie alle Pariser und Pariserinnen. Der Komponist selbst wusste die Esskultur seines Gastlandes zu schätzen, ohne sich der Völlerei hinzugeben.