Leider ist Bruckner
etwas zu kurz gekommen.
Ich nennen ihn einen Unzeitgemäßen. Kaum ein Komponist, der heute zu den Großen gezählt wird, ist nicht zumindest von manchen seiner Zeitgenossen falsch ausgelegt worden. Was sind Beethoven, Schubert und Wagner nicht fehlgedeutet worden! Bruckner dagegen ist nach Carl Dahlhaus, bei genauerem Hinsehen [...] eigentlich nicht verkannt, sondern gehaßt worden. Was ihm entgegenschlug war Niedertracht, nicht bloßes Unverständnis. Auch wenn Eduard Hanslick, der Bruckner zu seinem Feinbild erkoren hatte, darüber sinnierte, dass es ihm ein psychologisches Rätsel sei, wie dieser sanfteste und friedfertigste aller Menschen im Moment des Komponierens zum Anarchisten werde, so ist in diesen Worten sein Befremden doch nur vorgetäuscht, um blanke Denunziation zu kaschieren. Was aber störte die Wiener Intellektuellen, die so gegensätzliche kompositorische Geister wie Johann Strauß, Richard Wagner und Johannes Brahms in ihrer Stadt versammelten, so sehr an Bruckner? Zunächst wohl, dass Bruckner eben kein Intellektueller war. Seine Briefe formulierte der Unzeitgemäße in barocker Devotionsrhetorik und einem nimmermüden Rezensenten antwortete er auf die Frage nach Sinn und Gehalt des Finales seiner vierten Symphonie, der „Romantischen“, mit geradezu entwaffnender Naivität: Und im letzten Satz "jo da woaß i selber nimmer, was i mir dabei denkt hab!" Nein, in der Gegenwart angekommen ist Bruckner niemals. Vielmehr scheint er doch immer in der Windesstille des Augustiner-Chorherren-Stifts zu St. Florian bei Linz geblieben zu sein. Dort war er zunächst von 1837 bis 1840 Schüler und Sängerknabe dann von 1845 bis 1850 Lehrer und Stiftsorganist. In diesem Kloster war eine Musiktradition lebendig geblieben, die den Wienern als ein Erbe aus abgelebten Zeiten erschienen ist.
Es gibt es kaum eine Werkeinführung, die darauf verzichtet, Eduard Hanslicks Rede von der „symphonischen Riesenschlange” als Kommentar abzudrucken.
Für Karl Kraus war es noch 1907 „ein Dokument von der journalistischen Zeiten Schande, wie es überwältigender nicht gedacht werden kann […] Tränen treibt hier der Anblick gedemütigter Größe, die sich klein machen muß in einer Zeit, in der sich die Kleinen groß machen“: Was war geschehen? Bruckner hatte zunächst keine andere Möglichkeit gesehen, als die Aufführung seiner Siebenten zu verhindern, weil er wusste, dass es „in Wien wegen Hanslick et Consorten keinen Sinn hat“. Wie gedemütigt muss einer gewesen sein, der, wieder mit Kraus gesprochen, „seinen kritischen Peinigern durch ein Bittgesuch um Nichtaufführung zu entrinnen versuchte“? „Dieses wird in keiner Geschichte der Wiener Kultur des 19. Jahrhunderts fehlen dürfen. In keiner Geschichte, die von den Zeiten erzählen wird, da boshafte Zwerge über gutmütige Riesen herrschten.“
Die ganze Diskussion darüber, ob es denn, wie Rudolf Louis fragte, für „einen Schüler Wagners“ – der Bruckner gar nicht gewesen ist – „eine bare Undenkbarkeit“ sei, „absolute Musik, viersätzige Symphonien in der klassischen Form“, zu komponieren, erscheint heute überholt: Unverständlich war es schon Engelbert Humperdinck, wie man bei Bruckner, „von einem Übertragen Wagnerscher Kunstprinzipien auf die Symphonie reden kann. Die Anwendung von vier Tuben und von kühnen Harmonieverbindungen sind doch schließlich Äußerlichkeiten, die mit dem eigentlichen Wesen Wagnerscher Kunst nichts zu schaffen haben. Um dieses zu erkennen, muß man schon etwas tiefer graben, und ebenso soll man andererseits auch Bruckner geben, was Bruckners ist, der in seiner Art ein Original ist, ebensogut wie Brahms, Schumann oder Mendelssohn.“