Anora (1)
Wohlig schnurrend genoss Anora die Massage mit den aromatisch duftenden Kräuterölen. Navarre legte sich mächtig ins Zeug, um ihr zu imponieren und um etwas zu wecken, von dem sie wusste, dass er es nie schaffen würde.
Niemand kannte das Geheimnis ihrer unsterblichen Liebe, und das war auch gut so.
Schon morgen würde sie ihre jährliche Reise antreten.
Der kleine Koffer war schon gepackt. Dort brauchte sie nicht viel. Alleine der Gedanke daran entzündete ein inneres Freudenfeuer und ein Schauer lief über ihren Körper.
Navarre, der ihre körperlichen Reaktionen auf sich bezog, verdoppelte seine Bemühungen.
Etwas zu keck forschten seine Finger in Regionen, die nicht angemessen waren. Prompt schnauzte Anora ihn an: "Lass den Unsinn - tu nur, was dir aufgetragen ist!"
Beleidigt ließ Navarre von ihren reizvollen Backen ab und massierte ihre Schultern. Er konnte nicht umhin, die feine Tätowierung zwischen ihren Schulterblättern zu bewundern. Ein Auge, das dem ägyptischen Gott "Horus" zugeordnet wurde, der in seiner Gestalt als Falke darüber saß.
Seltsam, das musste Anora schon damals vor ihrer Wandlung auf der Haut gehabt haben.
Behutsam fuhr er über die feinen Linien und Farben des Bildes. Er massierte das Öl ein, als wollte er das Bild nachzeichnen.
Diese Frau war ihm ein Rätsel - immer schon.
Irgendetwas Mystisches und Geheimnisvolles umgab ihr ganzes Wesen, das er selbst in den 50 Jahren Dienstzeit, die vor ihm lagen, nicht würde lösen können.
Ihre Stimme riss ihn aus den Gedanken.
"Es reicht für heute, Navarre! Da ich die nächsten Tage verreise, liegen entsprechende Anweisungen für dich parat. Du wirst dich genau daran halten und in meiner Abwesenheit die Verantwortung für den Club übernehmen!"
Bevor er etwas sagen konnte, setze sie noch nach:
"Ich werde alleine reisen, deine Dienste werden dabei nicht benötigt. Du kannst jetzt gehen."
Navarre nickte nur und ersparte sich die Antwort, denn mit seinem letzten Blick war ihm klar, dass sie mit ihren Gedanken schon ganz woanders war. Leise schloss er die Tür hinter sich.
~
Heiße, trockene Wüstenluft schlug Anora entgegen, als sie aus dem Taxi stieg. Nicht weniger heiß waren ihre Gedanken.
"Bald sehen wir uns wieder, Geliebter."
Den Flug hatte sie wie in Trance hinter sich gebracht und vom Airport Kairo ein Taxi genommen, das bis ins Zentrum der Stadt brachte. Hier stand schon ihr Mietwagen bereit: Unauffällig, aber in bester Ausstattung.
Anora verlor keine Zeit. Ohne auf das "Kaffeeangebot" des Händlers einzugehen, nahm sie Schlüssel und Papiere entgegen, warf ihren kleinen Koffer auf die Rückbank und startete den Motor. Sie hatte noch genug Zeit, wollte aber schnellstmöglich die gut 20 km hinter sich bringen.
Die Grabanlagen von Sakkara im Gouvernement al-Dschiza waren ihr Ziel.
Glücklicherweise waren diese nicht ganz so stark von Touristen verseucht wie die Pyramiden von Gizeh. Trotzdem war es jedes Jahr wieder eine Herausforderung, sich unentdeckt zum verborgenen Eingang der Mastaba des Ti zu schleichen. Nur einmal im Jahr öffnete sich der gut versteckte Mechanismus in die geheimen Gänge der unterirdischen Pyramide, die bisher völlig unentdeckt geblieben war. Nur in dieser Zeit war der Weg zu ihrem Geliebten frei.
Marik - sein Name summte durch jede ihrer Zellen und brachte sie zum Beben.
Marik, der Falke
Es brummte und dröhnte; ein Vibrieren lief durch die Steine, das letztendlich auch jede Faser des Körpers erfasste und von den Fußspitzen bis zum Haaransatz spürbar war. Kleinste Staub- und Sandpartikel rieselten auf Marik herab. Minutenlang dauerte es, bis auch die letzte Spalte geschlossen, jede Fuge luftdicht abgeriegelt war. Marik stand still wie eine der Statuen, die an der hinteren Wand im schwachen Licht der Fackel erkennbar waren. Eine unheimliche Stille bereite sich aus, die wie das Luftanhalten des Universums auf ihn wirkte. Er keuchte, und sein Atmen kam ihm so laut vor wie das Rauschen des Wasserfalls, an dem er sich mit Neri so oft getroffen hatte. War es wirklich erst vor wenigen Tagen gewesen, als er mit ihr in den Strahlen der Sonne unter azurblauem Himmel gelacht hatte?
Er bemerkte, wie sich seine Augen mit dem Saft der Traurigkeit füllten und ließ es geschehen, denn hier konnte es niemand sehen. Neri, seine Liebste mit den lachenden, sanft braunen Augen, deren Haar in der Sonne glänzte wie das Gefieder der schwarzen Vögel. Sie wusste nicht wo er war und warum. Er hatte sich nicht verabschieden dürfen, von niemandem, nicht einmal von seinen Eltern. Das war der Preis dieser zweifelhaften Ehre, der er sich nicht hatte entziehen können, denn Amun selbst war es, der ihn beim letzten Tempelfest gerufen hatte.
Drei Tage würden die Fackeln den Raum erleuchten. Drei Tage, in denen er Speis und Trank mit dem Gottkönig teilen durfte, und der danach seine Reise in das Land der Binsen antreten würde. Pharao war ein guter und weiser Herrscher auf Erden gewesen, so dass er das "Gericht der Maat" nicht fürchten musste. Sein Herz war ganz sicher nicht schwerer als die Feder der Göttin der Gerechtigkeit.
Marik nahm sich einen der Krüge, die mit feinstem Wein gefüllt waren, und entsiegelte ihn. Mit einem kräftigen Schluck spülte er Sand und Staub die Kehle hinunter. Eines blieb noch zu tun: Ein letzter Stein musste noch eingedrückt werden, um diesen Raum an seinen endgültigen Ort, tief unter der Erde, zu bringen. Die Priester hatten ihm versichert, dass auch sein eigener Körper hier mit Pharao erhalten bleiben würde, auch ohne die sonst üblichen Einbalsamierungen. Darum war es auch so wichtig, den Raum an seine richtige Position zu bringen.
Marik beschloss die verbliebene Zeit zu nutzen und die leeren Papyrusrollen mit den Hieroglyphen seiner Geschichte zu füllen. Die Beigaben des Pharao, alles, was er an persönlichen Gegenständen besessen hatte, war hierher gebracht und aufgetürmt worden.
*
Drei Tage später schickte die letzte Fackel ihr Flackern durch die Kammer, um von den Wänden gespenstisch gespiegelt zu werden. Wie Derwische sprangen die Schatten an den Wänden herum. Marik hatte seine Geschichte geschrieben und eingerollt in einem der leeren Weinkrüge versenkt.
Die staubtrockene Luft machte durstig und er beschloss, noch einen weiteren Krug zu entsiegeln. Überrascht stellte er fest, dass dieses nicht der Wein war, den er vorher getrunken hatte. Eine eher milchige, leicht glitzernde Flüssigkeit, deren Geschmack er nicht bestimmen konnte und der auf der Zunge kribbelte, durchflutete ihn. Erstaunt bemerkte er das Wohlgefühl, das von seinem müden Körper Besitz ergriff und ihn mit frischem Leben erfüllte. Es war ihm, als würden seine Augen jedes noch so kleine Detail in ungewohnter Schärfe sehen können. Die schweren Gedanken wandelten sich gleich einer kleinen Wolke, die davon schwebte. Eine unglaubliche Leichtigkeit überkam ihn. Was diese geheimnisvolle Flüssigkeit auch sein mochte, sie tat ihm gut. Er nahm noch einen kräftigen Schluck, stand auf und erfüllte seine Aufgabe. Er drückte den Stein in die Wand und löste damit den letzten Mechanismus aus. Das dumpfe Beben und Grollen, das die Kammer durchzog, störte ihn gar nicht mehr, aber er musste sich setzen, um nicht den Halt zu verlieren, so heftig wackelte der Boden.
Wann das Beben genau aufhörte wusste Marik nicht, aber es war auch gar nicht mehr wichtig, denn er bemerkte etwas ganz anderes. Sein ganzer Körper war im Wandel begriffen, als forme man mit zähem, schwarzem Schlamm des Nils aus einer Figur eine ganz neue. Alles war so selbstverständlich und klar. Seine Beine schrumpften und bekamen Klauen, aus seinen Armen wuchsen Federn; sie wurden zu Schwingen. Die Schärfe des Blickes nahm noch einmal zu, der Kopf wurde kleiner und an Stelle seines Mundes ragte ein kräftiger Schnabel aus seinem Gesicht. Es war nicht nötig, sich selber zu sehen, denn er wusste, dass er Horus gleich war. Als prächtiger Falke flatterte er auf den Sarkophag des Herrschers. Dort plusterte er sich auf und nahm seinen Platz am Kopfende ein. Die Gedanken verschwammen; der Falke wurde Bestandteil des Marmors: Kalt, glatt, glänzend, eine Statue, die mit weit aufgerissenen Augen in Richtung des vormaligen Eingangs starrte.
Er war Marik - Wächter des Pharao!
~
Anora parkte den Wagen weit genug weg von der Stelle des Zugangs. Zwischen den anderen Autos der Tourguides und Touristen fiel er am wenigsten auf. Sie wartete im Wagen, bis die Sonne fast den Boden küsste; dann erst machte sie sich auf den Weg. Ihre besonderen Fähigkeiten waren hierbei äußerst hilfreich, denn so konnte sie, kaum wahrnehmbar für das Auge, schnell und geschickt immer näher heranrücken, ohne dass jemand sie bemerkte. Inzwischen waren hier nur noch wenige Menschen unterwegs und diese über das weitläufige Areal verstreut.
Flink schlüpfte sie zwischen den Stelen und Säulen hindurch bis zu der ihr vertrauten Stelle. Jetzt musste sie nur noch warten, bis der letzte Lichtstrahl auf das nicht sichtbare Schloss traf. Sie erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen, als der Mechanismus sich ihr das erste Mal „zeigte“.
Geboren als drittes Mädchen, noch dazu mit „Feuerhaaren“, waren ihre Überlebenschancen gleich null gewesen. Ein Kind mit roten Haaren galt damals als Unglücksbote und wurde getötet oder zum Sterben ausgesetzt. Glücklicherweise waren ihre Eltern lange nicht so gläubig wie zu jener Zeit üblich, auch wenn sie diese Gesinnung nicht nach außen hin zeigten. Die Familie gehörte einem weit verzweigten Netzwerk von Grabräubern an und lebte gut von dem, was sie stahlen. Nach außen gingen sie ganz alltäglichen Beschäftigungen nach.
Ihre Mutter hatte sie gegen eine gehörige Summe den Priestern des Gottes Amun überlassen und dafür gesorgt, dass sie im Schutz des Tempels aufwachsen konnte. Die ersten Jahre hatte man ihre Haare geschoren und später dann gefärbt. Sehr früh schon wurde sie dem Gott Horus versprochen, in sein Heiligtum gebracht und entsprechend im Nacken gezeichnet. Damit stand sie unter seiner Obhut und hatte nichts mehr zu befürchten. Die Ausbildung war sehr umfangreich, aber es flog ihr nur so zu. Schnell beherrschte sie die gebräuchlichen und auch die geheimen Hieroglyphen. Nur zu gerne las sie in den alten Schriftrollen, erforschte das Wissen und vergaß darüber oft ihre Pflichten.
Eines Tages betrat eine alte Frau die Tempel-Anlage und ersuchte um Hilfe. Nicht von irgendwem, sondern nach ihr wurde geschickt.„Kind, deine Brüder brauchen deine Hilfe, du musst mit mir kommen!“
So erfuhr Anora an jenem Tag, kurz nach ihrem 25. Jahr die ganze Geschichte von der Alten, die ihre Mutter war. Sollte sie das alles glauben? Anderseits gab es viele Übereinstimmungen und Lücken, die nun geschlossen waren!
„Wie kann ich helfen und um was bitten mich die Brüder?“ fragte sie, als die Neugier schließlich siegte.
Die alte Frau versprach ihr unterwegs alles zu erklären, nur müsse sie gleich mitkommen. Es war dieser Tag, der ihr Schicksal in völlig andere Bahnen lenkte. Sie verspürte einen Anflug von Abenteuerlust und gab schließlich nach.
Wie es schien, hatten die Brüder beim „Räubern“ eine geheimnisvolle Schriftrolle entdeckt, die in für sie nicht lesbaren Hieroglyphen verfasst war.
•
Wie viele Jahrhunderte waren seitdem vergangenen?
Anora musste bei dem Gedanken an jenen Tag lächeln. Anders als ihre Familie war sie mit dem Glauben an die Götter großgezogen worden. Keinesfalls konnte sie gutheißen, dass diese und deren Vertreter beraubt wurden.
Erwartungsvoll fixierte sie die Hieroglyphe des Horus in der Wandmalerei. Da, der letzte Sonnenstrahl gab den geheimen Mechanismus frei!
Tbc
@******s23
26.12.17
Fortsetzung bzw. Anhang zur Geschichte
sechs deren Anfang hier zu finden ist, für alle die 2015 noch nicht hier waren.
Kopfkino: Fesselndes....Kopfkino VII
( Achtung ziemlich lang
)