Lütten Hannes' Versuchung
Die Frau brach in helles Gelächter aus, warf den Kopf in den Nacken und schlug sich gleich darauf wie demonstrativ die Hände vor den Mund. Hannes indes glaubte genug gesehen und gehört zu haben. Sie machte sich über ihn lustig und vermutlich hatte sie damit recht.
Wieder die niederschmetternde Erkenntnis, dass er sich bis auf die Knochen blamierte. Er glaubte die spöttischen Blicke des ganzen Raumes auf sich gerichtet zu wissen. Hämisch flüsternde, gestandene Seemänner, die Dirnen mit abfällig geschürzten Unterlippen.
Er erinnerte sich an eine Szene aus der "Weißen Flunder" hinten am Ende des Piers am Stadthafen von Wysmar. Er war gerade eine Woche zuvor in der Stadt angekommen gewesen, hatte den ganzen Tag über hart in der Werft seines Meisters geschuftet und kaum etwas gegessen. Conrad hatte ihn am Abend eingeladen. Zu rasch hatte er das Bier in sich geschüttet. Ehe er sich versehen hatte, war er nicht nur der Kontrolle seiner Gliedmaßen beraubt gewesen, sondern auch anderer Körperfunktionen. Mitten im Schankraum hatte er sich kniend ... Er hatte nur bruchstückhafte Erinnerungen an die Gesichter der Männer und Frauen, an die kurz einsetzende Stille. Seine Scham und seine Hilflosigkeit allerdings hatten sich tief eingebrannt.
Sein Meister hatte anderen Tags seinen Sohn hart ins Gericht genommen. Der hatte später einmal zu ihm gesagt: "Lütter, wo Saufen eine Ehre ist, ist Kotzen keine Schande!" Hannes hatte pflichtschuldig gegrinst und er erinnerte sich, wie das Grinsen in den Mundwinkeln gekniffen hatte...
Ells ließ die Hände sinken, sah ihm ins Gesicht und ihre Linke landete wie zufällig auf seiner Rechten. Für drei Atemzüge nur. Weiche Finger auf den Rückseiten seiner Finger. Die Innenseiten hätten diese Berührung kaum wahrgenommen. Er war Zimmermann, diese Hände waren es gewohnt zuzupacken, schwielig, hart. Conrad indes sagte einige Male zu ihm, er liebkose das Holz bei der Arbeit wie eine schöne Frau.
Warum kam ihm nur andauernd dieser Conrad in den Sinn?
"Verzeiht, Jan Johansson, aber Ihr irrt Euch. Ich komme von einer Burg, das mag wohl stimmen, aber ich bin nicht adliger als Ihr. Mein Mann Joseph Strubhaver, Gott hab ihn selig, war Weinbauer in der Nähe der Burg Bärwelstein. Mein Vater ist dort Burgherr. Er hält es nicht so mit dem Raubrittersein. So sind wir Schwestern allesamt mit Weinbauern verheiratet worden. Darum bin ich auch nach Hamburg gekommen, aber ..."
"Hannes, lütten Hannes", sagte er mit einem kleinen erleichterten Lächeln, wenn auch etwas zusammenhanglos. Sie sah ihn verständnislos an. Er sah ihre Brauen in die Höhe zucken und registrierte die Grübchen in den Wangen. Diesmal war das Lächeln weicher,
ehrlicher?
‚
Vorsicht, Hannes, das Weib ist dir über!', warnte ihn die mürrische Stimme seines Meisters in jenem Teil seines leicht vernebelten Verstandes, der etwas über der Sandbank gelegen war.
"Auf Hannes wäre ich noch gekommen, aber
klein?", sagte sie und dehnte das letzte Wort in ihrem Dialekt:
klähhh.
Wieder kitzelte ihn sein Zwerchfell. Sie registrierte, wie sich sein Gesicht aufhellte. Ihr Lächeln ließ Zähne sehen, schöne, ungewöhnlich ebenmäßige Zähne, die feucht glitzerten. War ihm das eigentlich bei Neele je aufgefallen, welche Zähne ... Er unterdrückte ein irritiertes Kopfschütteln, auf das er jede Erklärung hätte schuldig bleiben müssen.
"Ich hab' drei ältere Brüder. Ich war für alle immer nur der Kleine - Lütte. Wir sind alle ..."
Hannes hielt inne, sah sie an, überlegte.
"kannst du, äh ..., könnt Ihr damit aufhören?", fragte er und deutete nach unten. Unmissverständlich. Das Vibrieren ihres Beines an seinem Schenkel erstarb.
"Ich bin Ells. Sag wir einfach du", sagte sie, neigte sich etwas zu ihm herüber und senkte die Stimme: "Ich muss schon seit einer geraumen Weile pinkeln und weiß nicht, wo der Abtritt ist in dieser Spelunke."
Hanne sah sie an, als wäre ihr gerade ein drittes Auge gewachsen. Wieder verbarg die Dämmerbeleuchtung für die Umsitzenden, wie er hoch rot wurde. Ihr entging es nicht.
"Was ist, glaubst du, wir Frauen müssten nicht pinkeln nach dem Wein?", fragte sie burschikos und machte, dass sich seine Gesichtsfarbe noch vertiefte.
"Könntest du für mich ... ich meine Wache schieben, wenn ich ... na du weißt schon...", sagte sie und sah ihn von unten herauf an. Er wich ihrem Blick aus.
"Es ist hinten raus", sagte er heiser und gepresst durch die Zähne. "Du kannst es kaum verfehlen."
"Bitte ...", sagte sie flehend. Er holte tief Luft und stand auf.
"Kannst du zählen? Zähl bis zehn. Dann komm nach", sagte er und verließ den Schankraum.
In der Tat war es kaum zu verfehlen und Hannes atmete flach durch den Mund. Zählte selbst leise bis sechs, kam durcheinander und gab es dran.
Seine Lenden pochten.
Diese Ells trieb ihr Spiel mit ihm, so viel war klar.
Das Dumme: er mochte dieses Spiel, er mochte diese Frau, auch wenn sie älter war als er. Das reizte ihn so sehr wie es ihm Angst machte. Er hatte wirre Bilder im Kopf.
"Puh!", sagte sie hinter ihm. Er fuhr herum. Sie war im trüben Licht fast nur ein Schatten, ein kleiner, reizvoller Schatten mit dieser Stimme, die wie mit einem sehr scharfen Zugeisen über seine Seele strich, Span für Span. Sie überquerte die nicht markierte Grenze zwischen sich und ihm. Sie musste den Kopf fast in den Nacken legen. Tat es. Hannes sah den schmalen Streifen Licht auf ihrem Gesicht, sah die Augen, Meeraugen, blau und grün. Große Pupillen, die ihn anzusaugen schienen. Seine Hände begannen zu jucken, dann zu brennen.
Er deutete linkisch auf den Abort links von sich.
Sie atmete hörbar aus und er bemerkte erst da, dass sie die Luft angehalten hatte.
"Es stinkt furchtbar, ich weiß. Aber ich passe auf."
"Das ist ... nett von dir", sagte sie und er lauschte dem Satz hinterher. Sie trat zögernd einen kleinen Schritt zurück, wandte sich widerstrebend zur Seite.
"Könntest du...?", sagte sie mit einem Kratzen in der Stimme. Er nickte, ging bis zur Hintertür und baute seine hünenhafte Gestalt vor ihr auf. Hier würde niemand herauskommen.
Seine Gedanken schon. Wieder diese Bilder. Wieder das Ziehen dort unten. Es war Unrecht, es war quälend, aber es war auch wie ein Versprechen. Unweigerlich rückte er seinen Bruch zurecht, schuf Platz. Es war ihm peinlich, er fühlte sich ertappt, auch wenn niemand da war. Es hieß, es wäre Sünde, sich versuchen zu lassen ... Aber mitunter war die Versuchung übermächtig. Er hatte manches zu beichten bei nächster Gelegenheit.
Hinter ihm raschelten Kleider. Er war versucht, sich umzudrehen.
"Hannes? Ich mag dich nicht ‚lütten' nennen. Jan?"
Er drehte sich um. Sie hatte den Umhang wieder um sich gelegt. Ihr Kopf sah daraus hervor. Die Lippen leicht geöffnet, ein Gesicht wie eine ungestellte Frage. Er trat näher. Sie machte die restlichen zwei Schritte. Die schmale Hand kroch in seine rechte Pranke. Ihre Finger übten leisen Druck aus.
"Nur ein Stück, komm!", sagte sie halblaut. Es war kühl hier draußen, der Nebel hinterließ Feuchtigkeit auf den Kleidern, sog einem die Wärme aus den Knochen. Hannes indes spürte es kaum. Spürte die Wärme ihrer Hand, wie sie seinen Unterarm hinaufkroch.
Sie zog Ihn bis zur Holzmiete auf dem kleinen Hof hinter der Spelunke. Dort waren sie notdürftig vor neugierigen Blicken geschützt. Sie hob ihr Gesicht, nahm das seine in ihre Hände, mit dieser entwaffnenden Selbstverständlichkeit. Der erste Kuss war zögerlich, tastend, bescheiden. Der zweite schon fast Besitznahme.
Plötzlich berührten sich ihre Körper. Er nahm seinerseits ihren Kopf zwischen seine Hände. Harte Hände, unbeholfene Hände, Männerhände. Aber fast anrührend sacht.
"Sag Jan, hast du die Münze vorhin gesehen? Ich weiß vielleicht, wo es noch mehr davon gibt. Viel mehr. Weißt du etwas über Vineta?" Sie gurrte den Namen der versunkenen Stadt nachgerade. Hannes versteifte sich.
‚Ah, daher weht also der Wind!', rief sein wachsames Misstrauen und ging in Habacht. Es hatte wieder die Stimme seines Meisters. Hannes sah vor seinem geistigen Auge sogar den erhobenen Zeigefinger, dem das erste Glied fehlte.
"Ammenmärchen, nichts weiter", sagte er unwirsch, wegwerfend. Das Knistern zwischen ihnen verflog.
"Ach, ier seid ihr!", erklang hinter ihnen die etwas affektiert klingende Stimme mit dem seltsam brüchigen französischen Akzent.
"Ich abe eusch gesucht", sagte die Stimme im Näherkommen. Hannes trat einen halben Schritt zurück und ließ die Hände sinken. Sie schlossen sich kurz zu Fäusten.
"Isch bin Emilé. BruBäer - Brust, Bauch, Beine, Bo - Dickes B!" Das klang wie ein Marktschreier oder Herold. Gleich darauf sehr viel leiser und fast ohne Akzent: "Können wir reden?"
© 2018 Whisper2001