Ein Herbsttag in Paris
Der Mann saß vor dem Café de Flore im Quartier Saint-Germain-des-Prés im 6. Arrondissement, an der Ecke des Boulevard Saint-Germain und der Rue Saint-Benoit.
Ihm war langweilig. Die Konferenz, die ihn nach Paris geführt hatte, war es ebenso.
Noch zwei Nächte und er konnte endlich zurück.
Paris. Die Stadt der Liebe.
'Was für ein Blödsinn', dachte er. Vielleicht, wenn man frisch verliebt war. Er war frisch geschieden. Na ja, so frisch war es dann auch nicht mehr. Schon fast ein Jahr.
Als der Mann an seine Frau und die beiden Töchter dachte, schien ihm dieser eigentlich schöne Herbsttag etwas trüber zu werden.
Ein Kellner erschien - weißes Hemd, schwarze Hose, rote Weste - und brachte ihm einen zweiten Pastis und frisches Eiswasser. Der Mann goss sich etwas von dem Wasser dazu und beobachtete, wie die klare, goldene Flüssigkeit ebenso trübe wurde wie seine Stimmung. Da half es auch nicht viel, dass sich nach zwei verregneten Tagen heute endlich die Sonne zeigte.
Ein Schatten wanderte über seinen kleinen, runden Bistrotisch. Er schaute auf.
Sein Blick fiel auf einen feuerroten Rock und glitt hinunter über schwarze Nylons, die in schwarzen Lederstiefeln steckten. Wanderte zurück zu dem sich wiegenden kurzen Rock und einem breiten schwarzen Ledergürtel, weiter hinauf den Rücken entlang, über die Schultern zu lockigen schwarzen Haaren, in denen eine Sonnenbrille steckte.
Etwas unschlüssig blieb die Frau stehen, prüfte den Sonneneinfall und entschied sich für den Tisch links neben ihm. Während sie sich den Korbstuhl zurechtrückte und schließlich anmutig darauf Platz nahm, konnte der Mann einen ersten Blick auf ihr Profil werfen.
Sie war schön, keine Frage. Nicht auf eine allzu gefällige Art. Und vielleicht hätte manch einer ihm widersprochen. Der Mann fühlte sich jedoch sofort wie verzaubert.
Da war eine Art Aura, die diese Frau zu umgeben schien. Die geschmeidige Art, wie sie sich gesetzt hatte. Beiläufig mit der Hand den Rock glattstreichend, tausendmal gemacht. Als die Frau ihre Beine übereinanderschlug, fühlte er sich an die Ballettaufführungen seiner Töchter erinnert.
Er beobachtete die Frau verstohlen. Ihre schlanken Hände, die gedankenverloren durch ihr Haar fuhren, das ihr bis zu den Ohrläppchen reichte, an denen tropfenförmige Anhänger baumelten. Sein Blick glitt von ihrer hohen Stirn hinunter zu einer kräftigen, leicht nach unten abknickenden Nase, die von ausdrucksvollen, hohen Wangenknochen flankiert wurde. Volle, geschwungene Lippen, deren Rot sich in der Farbe des Rockes wiederfand. Schließlich das markant vorstehende Kinn.
Selten hatte er ein so ausdrucksstarkes Profil gesehen. Seinen trüben Gedanken erging es wie den rostfarbenen Blättern, die der Herbstwind über die Straße davonwehte.
Nur zu gern hätte der Mann auch einen Blick auf Hals und Nacken der Frau erhascht. Der wurde jedoch durch den hohen Kragen ihres leichten Pullovers verborgen, der überaus fein gewebt zu sein schien. Kaschmir vielleicht. Die Frau trug ihn nicht, er umfloss sie und folgte jeder noch so kleinen Bewegung ihres Körpers.
„Une Noisette“, sich leicht zur Seite neigend, gab die Frau einem der Kellner ihre Bestellung mit auf den Weg. Sie tat das in dieser beiläufigen Art, die auf der feinen Grenze zwischen Arroganz und kumpelhafter Freundlichkeit liegt.
Der Mann schmunzelte und nippte an seinem Pastis.
Die Frau lehnte sich entspannt zurück in ihren Stuhl und genoss die wärmenden Strahlen der Oktobersonne. Der alte Bambusstuhl gab ein Geräusch von sich, als würde er es ebenso genießen.
Verstohlen beobachtete er, wie die Frau ihre Sonnenbrille aus ihren Haaren zog und aufsetzte. Dabei konnte er nun auch die deutlich sichtbaren Wölbungen ihrer runden Brüste erkennen. Die sich unter dem dünnen, weichen Gewebe abzeichnenden Knospen. Was bei gerade mal 12C° auch keine Überraschung war. Dass die Frau aber anscheinend keinen BH trug, schon.
Der Mann wurde zunehmend hineingezogen in einen erotischen Tagtraum. Er schloss die Augen und gab sich dem hin.
Klimperndes Geschirr ließ den Mann erneut aufblicken.
Der Kellner hatte ein silbernes Tablett mit einer schlichten weißen Tasse und einem passenden Kännchen gebracht. Er entfernte sich mit einer angedeuteten Verbeugung, die von der Frau mit einem wohlwollenden Lächeln quittiert wurde.
Als die Frau sich vorbeugte, beobachtete der Mann die Bewegungen ihrer Brüste unter dem feinen, dünnen Stoff. Er stellte sich vor, wie es wohl wäre, mit seinen Händen darunterzufahren und diese herrlichen Hügel zu erkunden. Ihre festen Knospen zwischen seinen Fingern zu spüren. Ob sie es mögen würde, wenn er sie dort etwas härter anfassen würde?
Erneut driftete der Mann ab in seinen Tagtraum.
„Vous avez du feu?“
Der Mann erschrak und öffnete überrascht die Augen. Vor ihm stand die Frau und winkte mit einer Zigarette, die sie in der manikürten Hand hielt.
Ihr Anblick verschlug ihm die Sprache. Er glaubte, in das Gesicht einer griechischen Göttin zu blicken. Ein Gesicht mit einer beeindruckenden Symmetrie. Tiefblaue, verheißungsvolle Augen unter ebenmäßigen, dichten Brauen. Die Wangenknochen wie gemeißelt. Und dann die Lippen …
Diese Lippen, die aussahen wie Vogelschwingen. Schwingen, die einen Mann in den Himmel zu tragen vermögen.
Die Frau räusperte sich und sah mit einer Mischung aus Ungeduld und Belustigung auf den Mann herab. Etwas zu eilfertig griff er nach seinem Feuerzeug und erhob sich. Den Wind mit der Hand abschirmend hielt er der Frau die zuckende Flamme entgegen. Sie beugte sich ein wenig vor, überließ es aber ihm, die letzten Zentimeter zu schließen.
„Merci“, bedankte sie sich lächelnd.
„Tim“, sagte er spontan und streckte ihr seine Hand entgegen.
Die Frau zögerte. Dann ergriff sie seine ausgestreckte Hand.
„Veronique.“