Das Fenster oder: Voyeurismus I
Es gibt sie sicher: nicht einsehbare Wohnungen.
Und es gibt Wohnungen, von denen ihre Bewohner nur der Ansicht sind, dass sie nicht einsehbar seien. Was aber in der Realität nicht immer unbedingt zutrifft.
Mein Nachbar aus dem Haus gegenüber gehört zur letzteren Kategorie. Manchmal genieße ich es, zu sehen, wie er sich unbeobachtet fühlt, nach Feierabend alle Lampen anlässt und in Ruhe abends seinen Rotwein am Tisch entkorkt. Der Rotwein ist bestimmt ein edler Tropfen, zumindest wird das Dekantieren -auch für sich alleine- ausgiebig zelebriert.
Immer wenn ich diesen Mann heimlich beobachte, denke ich, was für ein Genussmensch. Liebevoll entkorkt er die Weinflasche, nicht ohne noch einmal das Etikett zu studieren. Er schnuppert stolz und hingebungsvoll mit geschlossenen Augen am Korken wie ein Gärtner an einer besonders wohlgeratenen Blume, und wenn das, was er wahrnimmt, sein Wohlgefallen erregt, lächelt er süffisant in sich hinein.
Das Weinglas muss man gesehen haben, selbstverständlich ein teures, sehr ansehnliches Exemplar, soweit ich es erkennen konnte, handelte es sich um ein Bordeauxglas von feinstem Schliff, und es wird stets nur bis zu einer äußerst dezenten Höhe befüllt, geschwenkt, wieder beschnuppert.... und dann .... passiert von außen gefühlt stundenlang... nichts.
In aller Ruhe sitzt er vor dem Kamin auf seinem Ledersessel, schaut in die Flammen, und es braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis das Glas leer ist. Mit seinen langen schlanken Fingern hält er es stilvoll, weit unten, und wenn er es auf seinem kleinen Beistelltisch abstellt, dann so sanft, behutsam und vorsichtig, als könne es bei zu starkem Anprall sofort zerbrechen.
Der gleiche Griff, den ich ihn manchmal an seiner Brille anwenden sehe. Wenn ich sehe, wie behutsam und langsam er mit seinen kräftigen Händen das Glas berührt, um seine Brille zu putzen, dann wünsche ich mir manchmal, er würde mich so berühren, so leicht, so behutsam und so vorsichtig. Vielleicht würde er mir eine meiner langen blonden Haarsträhnen auf die Art aus dem Gesicht streichen, wer weiss das schon, oder eine sich auf die Wange verirrte Wimper ganz langsam entfernen.
Ich weiss, ich neige zu Tagträumereien, und wahrscheinlich würde ich ihm in der Realität nie begegnen, oder er würde mich vielleicht gar nicht bemerken, aber dieser Mann hatte es mir definitiv angetan und das einfach nur von der Art seiner Bewegungen her, wenn er sich unbeobachtet wähnte und durch seinen Stil, seine außergewöhnliche Akkuratesse sowie durch die unglaubliche Behutsamkeit, wenn er etwas berührte.....
Es grüßt Euch lieb, Lilly