Der Schlüssel (Teil 8)
"Was ich immer noch nicht verstehe", dachte Henrik laut nach, "ist, was dieser alte Lord eigentlich gemacht hat. Er ist irgendwie wie ein dunkler Schatten der auf allem liegt, diesem Haus, der Statue, deiner Familie. Aber ich habe keine Ahnung, was der eigentlich wollte."
"Was der gemacht hat?" Mit einem Schwung setzte sich Artemis neben ihn auf die Arbeitsplatte und sah ihm zu, wie er eine Chilischote kleinhackte. "Bevor wir... hmm... weitermachen, wäscht du dir aber bitte gründlich die Hände. Das brennt sonst an den Schleimhäuten...", kicherte sie.
"Bekommst du eigentlich auch mal genug", grunzte er ohne aufzustehen, "wir kennen uns erst ein paar Tage und hatten schon... wie oft das Vergnügen?" Mit dem Küchenmesser in der Hand tat er, als zählte er nach.
"Genug?", gab sie ihm einen sanften Tritt. "Was ist das?"
Doch dann sah sie ihn wieder ernster an. "Was hat der Alte gemacht? Das ist gar nicht so einfach zu sagen. Seine Familie hatte Geld, viel Geld. Sein Vater und seine Brüder hatten alle irgendwas in den Kolonien gemacht und waren zwar nicht wirkliche Lords, konnten sich aber offenbar so aufführen, weil Geld keine Rolle spielte. In den Tagebüchern steht irgendwo, dass mein Urgroßvater meinte, im Gegensatz zu seinen Verwandten wäre sein Engländer zu feige gewesen, ein eigenes Abenteuer zu beginnen und eigenes Geld zu machen. Darum gab er einfach das seiner Familie aus. Und er war wohl ziemlich unzufrieden, weil ihm ständig seine erfolgreiche Familie vor Augen geführt wurde."
Sie seufzte leise. "So gesehen, hätte er einem fast leid tun können..."
Er ließ Butter in einer Pfanne schmelzen und sah kurz hoch: "Aber?"
"Naja", fuhr sie fort, "nachdem mein Vorfahr entdeckt hatte, was er mit der Statue machte..."
Sie sah seinen fragenden Blick. "Wie Erato in den Stein gebannt wurde, hat mein Uropa auch nicht herausbekommen. Aber sie manifestiert sich aus den...", sie räusperte sich und imitierte eine tiefe Männerstimme, "aus den fleischlichen Gelüsten der stattlichen Herren, der sie zu Diensten sein solle", sie lächelte dabei breit. "So ähnlich steht's in den Tagebüchern. Also, sie wird zu dem, was Menschen in ihrer Umgebung sich wünschen. Dass es nicht nur mit stattlichen Herren so ist, haben die alten Knacker nie rausbekommen, glaube ich.
Das Problem ist nur - zum einen ist sie nicht nur eine Wunschvorstellung. Sie hat auch ein Eigenleben, eigene Vorstellungen. Du kannst sie nicht zwingen, so zu sein, wie du es willst."
"Ist mir aufgefallen", sagte Henrik, dem wieder vor Augen war, wie er an sein Bett gefesselt war, während Erato über ihn kam.
"Das andere war", fuhr Artemis fort, "dass Erato dem alten Lord zwar wohl sehr genau seine Wünsche vor Augen führte, die aber schlicht nicht standesgemäß waren, zu ausschweifend."
"Interessierte es damals wirklich, was für dunkle Gelüste ein Lord hatte?", fragte Henrik.
"Ich dachte, für solche Typen hätte es damals für ihre eigenen Gelüste nur wenig Regeln gegeben. Zumindest zu wenig, dass etwas zu ausschweifend gewesen wäre. Oder waren ihm nur die von Erato zu ausschweifend?"
Artemis überlegte einen Augenblick. "Kann natürlich auch sein, aber ich weiß ja alles nur aus der Sicht meines Uropas. Was in dem Engländer wirklich vorging, weiß ich ja gar nicht. Besonders emanzipiert waren die damals ja vermutlich alle nicht", schnaubte Artemis.
"Und du darfst nicht vergessen: Er war ja gar kein Lord. Heute würde man vermutlich sagen, er war ein neureicher Schnösel, der im Ausland einen auf dicke Hose machte. War wohl in Griechenland so und auf jeden Fall hier. Ich meine, welcher echte Lord kauft sich ein Haus in Deutschland abseits von so einem Kaff wie hier?"