Der Schlitz im Abendkleid
Wie sehr hatte Kurt diesen Abend herbeigesehnt: Nach Monaten harter Arbeit an dem Staudammprojekt auf Madagaskar, in steter schwüler Hitze, die einem beim Verlassen des klimatisierten Hotels in Dar-Es-Salam schier den Atem raubte, mit feinem Schmutz überall, der aus den Körperfalten nicht herauszubürsten war, stand er jetzt vor dem Spiegel im geräumigen Hotelzimmer des Nassauer Hofs in Wiesbaden, um den korrekten Sitz seines Dinner Jackets zu überprüfen.
In einer Stunde würde der Ball, zu dem seine Firma in jedem Jahr ihre besten Mitarbeiter einlud, beginnen. Seit zehn Jahren war dies der unbestrittene Jahreshöhepunkt für ihn. Viele Sprachen würden ihn erwarten - schließlich war sein Arbeitgeber weltweit engagiert. Nein, sie ließen sich nicht lumpen, die Männer von der Konzernspitze in Essen; noch aus den entlegensten Winkeln des Erdballs wurden die Erfolgreichen eingeflogen, in jedem Jahr an einen neuen Ort, stets aber in ein Hotel der allerersten Klasse.
Entertainer der Spitzenklasse würden wie in jedem Jahr den Abend gestalten; Frank Sinatra und Ray Charles waren schon dagewesen. Diesmal standen Ute Lemper und eine englische Swing-Band auf dem Programm. Auch das Essen würde vom Besten sein; die Ente vom Lehel, das hauseigene Restaurant, gehörte seit Jahren zur Spitzengruppe deutscher Gastronomie. Kurt freute sich ungemein darauf, das in Afrika übliche lauwarme Importbier gegen Wein aus Burgunds Spitzenlagen eintauschen zu können.
Erst heute vormittag war er mit der Linienmaschine der Lufthansa am Frankfurter Flughafen eingetroffen - wie üblich mit drei Stunden Verspätung, die durch einen Streik des Abfertigungspersonals bei der Zwischenlandung in Kairo verursacht worden war. Als er im Nassauer Hof eingecheckt hatte, führte ihn sein erster Weg ins Bad. Welch ein Hochgefühl war es, das heiße Wasser in vollem Strahl auf seinen sonnenverbrannten Rücken prasseln zu lassen. Nach dem Abduschen des Reisestaubs verschloß er den Auslauf der Wanne, gab noch ein wenig pflegende Essenzen hinzu und legte sich dann mit geschlossenen Augen in das Wasser. Aus dem Nebenraum tönte leise das Hotelradio mit einer Bruckner-Sinfonie.
Erst als die Wassertemperatur merklich abgenommen hatte, endeten seine Träume. Leicht fröstelnd sprang er aus der Wanne und bereitete sich auf die Abendgala vor.
Heute abend würde er sich nicht wieder verlieben, nahm er sich vor, während er in die Schuhe schlüpfte. Derlei vertrüge sich nicht mit seinem unsteten Leben, das ihn in jedem Jahr an andere Einsatzorte führte. Kurt hatte sich auf die schnelle, flüchtige Bekanntschaft eingestellt, die meist nach einigen Gläsern Hochprozentigem im Bett und am nächsten Morgen für immer endete. Bei den Bekanntschaften, die an einem solchen Abend geknüpft wurden, verhielt es sich anders: Meist waren die Frauen, die hierhin eingeladen wurden, nicht nur schön, sondern auch gescheit und anspruchsvoll. Für einen Quickie waren sie sich - zu Recht, wie Kurt meinte - zu schade.
Seltsamerweise war auch Kurt in festlicher Umgebung nicht auf ein kurzes Abenteuer aus. Hier verkehrten die Frauen, die er gerne auf Dauer an seiner Seite hätte. Zweimal war das jährliche Fest für ihn der Beginn einer leidenschaftlichen Affaire geworden. Im letzten Jahr war ihm die Frau seiner Träume sogar nach Madagaskar gefolgt; sie verstanden sich prächtig in jeder Lebenslage und hatten sogar schon die Vornamen der geplanten Kinder abgestimmt.
Doch dann wurde seine Partnerin nicht mit den harten Lebensumständen an einer tropischen Baustelle fertig. Nach zwei Monaten verließ sie ihn und kehrte nach Deutschland zurück. Drei Zeilen auf einem abgerissenen Zettel waren die letzte Erinnerung an Aline.
Nach dieser Enttäuschung hatte Kurt die Hoffnung auf eine Frau an seiner Seite aufgegeben. Da sein Ingenieursberuf, den er auch nach Jahren noch liebte, ihn immer wieder in andere Ecken der Welt führen würde, mußte er auch in Zukunft mit kurzen Affairen ohne den Gedanken an eine gemeinsame Zukunft leben. Es galt nur, diesen Abend mit sicher vielen attraktiven und begehrenswerten Frauen ohne Liaison zu überstehen.
So setzte sich Kurt, als er den Calderon-Saal betreten hatte, schnell an einen nur von Männern bevölkerten Tisch in der hinteren Ecke. Er kannte sie alle: Theo, den Vermessungsingenieur, der sich vorzugsweise in Ostasien herumtrieb; Olaf, den trinkfesten Bauleiter, zur Zeit in Alaska im Einsatz; Martin, den Geophysiker, der den Untergrund Mexicos nach Ölvorkommen durchforschte; Ulrich, den Polier mit der Bodybuilder-Figur, den es immer wieder nach Neuseeland zog; Peter, den Marketing-Experten, der von Essen aus immer neue Aufträge an Land zog; Karl, der vor Norwegen Bohrinseln aufbaute, und schließlich den alten Georg, der sich nicht von den Stahlwerken Südaustraliens loseisen konnte.
Auf den letzten freien Stuhl setzte sich Kurt, der sofort von den übrigen nach den Ereignissen des vergangenen Jahres im Süden Afrikas befragt wurde. Ja, hier war er sicher vor Erotik, und amüsant würde der Abend auch werden. Schließlich teilten sie das Interesse für Lebensformen weitab von der westlichen Zivilisation, war jeder der Anwendenden geübt, mit den Gefahren der Fremde umzugehen, und zuletzt verband sie die Fähigkeit, das Erlebte packend in Worte umsetzen zu können.
Während das Essen serviert wurde, vertieften sich die Welterfahrenen so in ihre Berichte aus der Ferne, daß der Saal ringsum für sie nicht zu existieren schien. Erst als der hohe Chef aus Essen auf der Bühne zum Mikrofon griff, verstummten ihre Gespräche. Dr. Ignaz Bauernknecht blieb auch in diesem Jahr seinem fehlenden Talent als Redner treu. Langatmig schilderte er die abgeschlossenen Firmenprojekte, gab Zwischenberichte über Aktuelles und erwähnte zuletzt, wo demnächst neu gebaut werden sollte.
Wie in jedem Jahr wurden anschließend die verdientesten Mitarbeiter und die Jubilare besonders hervorgehoben. Einer nach dem anderen trat nach Aufruf auf die Bühne und nahm ein Blumengebinde sowie einen in der Höhe unterschiedlichen Scheck entgegen. Kurt hörte nur mit halbem Ohr zu; einmal rechnete er nicht damit, selbst unter den Auserwählten zu sein, zum anderen ermüdete ihn der stets gleiche Ablauf dieses Teils der Feier.
So reagierte er verstört, als seine Tischnachbarn ihn in die Seite knufften und ihn zur Bühne schickten. Während er, halb verwundert und halb widerwillig, den langen Gang abschritt, hörte er noch die letzten Fetzen der Rede des Vorsitzenden: “... neugeschaffenen Hauptpreis für die weltweit einzige Baustelle der Firma ohne Arbeitsunfälle.” Das stimmt, überlegte Kurt verwundert; nachdem er den Arbeitsschutz im vergangenen Jahr zu seiner besonderen Aufgabe gemacht hatte, hatte es wirklich nicht den kleinsten Unfall am Staudamm gegeben. Als er das Podest erreichte, wurde aus dem Publikum höflich applaudiert.
Der Vorstandsvorsitzende begrüßte ihn mit Handschlag, um dann fortzufahren: “Der Hauptpreis dieses Jahres wird von meiner Tochter, die soeben ihr Jurastudium abgeschlossen hat und im nächsten Monat in unserer Verwaltung ihre Arbeit aufnehmen wird, übergeben.” Unter dem Beifall der Anwesenden trat von der Seite Fräulein Bauernknecht auf die Bühne. Kurt erinnerte sich an sie aus der Zeit, als er in Essen in der Projektentwicklung gearbeitet hatte. Damals war sie Schülerin - frech, aber aufgeweckt - und besuchte gelegentlich den Herrn Papa bei seiner Arbeit. Nie hatte Kurt in Erwägung gezogen, daß diese stets in alten Jeans und Baumwollhemden oder grobgestrickten Pullovern erscheinende Göre einmal zu einer attraktiven Frau heranwachsen würde. Wenn sie erschien, bemühte er sich immer, alle Schreibutensilien schnell zu verstauen; sonst hatte sie für alles Verwendung.
Umso größer war sein Erstaunen, als jetzt eine umwerfende Frau auf ihn zuging. Das lange hellblonde Haar war zu einem meterlangen Zopf geflochten, der auf dem körpernahen schwarzen Abendkleid reizvoll kontrastierte. Volle Lippen und ein schwebender Gang, dies waren seine nächsten Eindrücke.
Mit einem leisen Lächeln blieb sie vor ihm stehen und flüsterte leise: “Hallo Kurt, Du hast Dich gut gehalten.” Dann nahm sie das Mikrofon aus der Hand ihres Vaters und verlas den Inhalt der Urkunde, die sie in Händen hielt: “...für außergewöhnliche Verdienste um den Arbeitsschutz ...” Als Preis gab es kein Geldpräsent! Kurt mußte vor Verwunderung schlucken, als er hörte, daß ihm die Firma einen zweiwöchigen Sonderurlaub nach freier Wahl bei beliebiger Benutzung des firmeneigenen Geschäftsjets und freier Wahl der Hotels spendierte. Da würde ihm einiges einfallen!
Halb benommen ob der Überraschung hörte er nun, wie die Tochter des Chefs ihn nun aufforderte, mit ihm den Tanz zu eröffnen. Da er zögerte, hakte sie sich einfach bei ihm ein und ging mit ihm aufs Parkett. An der Seite ging ein Vorhang hoch, und eine erstklassige Swing-Band intonierte die Moonlight Serenade. Kurt umfaßte die Taille der frischgebackenen Juristin und begann zu tanzen. Sabine - inzwischen war ihm ihr Name wieder eingefallen - folgte federleicht seiner führenden Hand; sie war eine erstklassige Tänzerin.
Schweigend koordinierten sie die Bewegungen ihrer Körper, während sich das Parkett langsam füllte. Nicht alle hatten die Tanzbewegungen mit der Muttermilch aufgesogen, und so ging es nicht ohne gelegentliche Rempler ab. Bei einem schnellen Quickstep kollidierte Kurt so heftig mit einem ihm unbekannten Kollegen, daß er strauchelte. Er fing sich und suchte seine ebenfalls weggerissene Partnerin. Endlich waren sie bereit, den Tanz fortzusetzen. Kurt legte erneut seine rechte Hand auf Sabines Rücken - und erstarrte. Statt des schwarzen Stoffes fühlte er nackte weiche Haut. Bei dem Getümmel auf der Tanzfläche hatte sich eine Seitennaht an Sabines bodenlangem Abendkleid gelöst; durch die entstandene Öffnung war seine Hand geglitten.
Leise zischte die Frau: “Bleib, wo Du bist. Ich will kein Aufsehen.” Also tanzten sie den Quickstep zu Ende. Kurt fühlte die warme sinnliche Haut seiner Partnerin, und mit einem Male waren seine guten Vorsätze, keine Beziehung zu riskieren, über Bord gegangen.
Das nächste Stück war langsamer. Sabine lächelte, und Kurt zog sie ein wenig näher zu sich heran. Immer noch schweigend wiegten sie sich im Blues-Rhythmus. Kurt, nun entschlossen, streichelte sanft Sabines Rücken. Sie wies ihn nicht zurück, sondern schmiegte sich an ihn. Durch sein Jacket hindurch konnte er fühlen, daß sie keinen BH trug. Kurts Hände glitten an ihrem Rücken auf und ab; auf der überfüllten Tanzfläche nahm keiner Notiz davon. Irgendwann erreichte er den obersten Beckenknochen, tastete sich tiefer - Sabine war unter ihrem Abendkleid vollkommen nackt!
Als die Band eine Pause machte, gingen sie Arm in Arm aus dem Saal, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Die junge Frau fragte Kurt, wie ihm sein Zimmer gefalle. Bereitwillig zeigte er ihr, wo er wohnte.
Als sie Stunden später wieder bei dem Firmenfest erschienen, um wenigstens das Ende mitzuerleben, suchte Kurt den Vorstandsvorsitzenden auf und fragte ihn: “Vielleicht ist es unverschämt. Aber könnte ich nicht statt zwei Wochen alleine eine Woche zu zweit verreisen?”