F 220, Kapitel 11
Kapitel 11: Das zweite Bündnis
Claudia ist mit Max einig? Erstaunlich, dass sie eine Kehrtwende vollzogen hat. Was mochte der Auslöser sein? Oder war das erneut eine perfide Strategie, mich in Sicherheit zu wiegen? Wenn sie nur meinen Tod wollte, sie hätte alle Zeit der Welt gehabt. Wie auch immer, ich hatte Hunger. Und elende Schmerzen. Meine Schulter pochte wie das Herz eines Wales.
“Wartet noch”
Ich musste denken. Schneller denken. Schwierig, ich war sauer, entsetzt, schockiert und hatte höllische Schmerzen.
“Wisst ihr eigentlich was wir gerade erfahren haben? Die Welt ist nicht im Arsch, weil eine natürliche Seuche ausgebrochen ist, die Welt ist im Arsch, weil ein paar raffgierige, asoziale Vollidioten mehr Geld verdienen wollten! Ich fasse es nicht! Eines schwöre ich bei allen Heiligen”, dabei wurde meine Stimme so kalt, dass ich selbst erstaunt war, “ich werde dafür sorgen, dass das bestraft wird. Verteidigung. Das ist der Pakt, den ich einmal geschlossen habe. Doch wenn das Leben seinen Wert verliert und alles zerstört wurde, dann heißt der Pakt: Vergeltung.”
Ich hatte das schon einmal getan. Wut wallte in mir auf. Eine heiße, feurige Woge, die ich nur allzu gut kannte. Meine Therapeuten hatten sie niedergekämpft und mich dann dienstfähig geschrieben. Es war die alte Wut aus meiner Kindheit. Jähzorn. Brennende, lodernde Wut, der Hölle entsprungen und in eine Form gegossen. In meine. Ich würde die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, und wenn es das Letzte wäre, was ich auf diesem Planeten zu leisten hatte.
Mir war schlecht vor Wut. Ich hatte Tränen in den Augen und meine Hände zitterten. Ich fühlte mich zurückversetzt ins Jahr 1982. Ein kleines Dorf… kurz vor Xuddur. Wir wollten nur zum Flughafen. Alles, was wir wollten, war, an Bord der Maschine zu gelangen, die auf dem Runway auf uns wartete.
Längst verloren geglaubte Gefühle strömten durch mich, wie durch ein Starkstromkabel. Es war alles ein bisschen viel, was gerade passierte. Gerade noch wähnte ich mich allein, dann tauchte der Prediger auf. Dann die Killerbraut und jetzt noch eine Truppe von veganen Robbenstreichlern. Und es schien so, als hätte der Prediger eine Truppe Leute um sich geschart, die ihm vollkommen ergeben war. Insgesamt gesehen hatte wir Spinner, Verblendete, einen elitären Kreis von Idioten und Mörder als Überlebende. Und mich. Scheinbar der letzte Mann, der wusste, was Verteidigung bedeutet. Was Ehre, Anstand, Aufrichtigkeit und… Gerechtigkeit bedeutete. Machte mich das zu etwas Besonderem? Ja. Machte mich das Besonders? Nein. Besonders war nur Madame. Rein, unschuldig, unverfälscht. Madame und alle Lebewesen, die keine Menschen waren. Vielleicht war es richtig, dass die Menschen ausstarben.
Vielleicht hatte ich eine Aufgabe bekommen. Vielleicht sollte ich die Reste entfernen. Vielleicht war ich ausersehen, alles vom Antlitz der Erde zu tilgen, das ihrer nicht würdig war. Aber war ich dann nicht wie der verrückte Prediger? Ich dachte nach. Nein. Der Prediger instrumentalisierte Leute, um sich selbst zum Gott zu machen. Ich sollte dafür sorgen, dass die Evolution eine neue Chance bekam. Aber dazu müssten erst alle Menschen fort sein. Und ich bekam eine Idee, dass das so gut wäre. Ich würde dafür sorgen, dass alle dran glauben mussten. Restlos. Sonst wäre alles umsonst. Die Natur hatte sich ein paar Saftnasen genommen, einen Virus entfesselt und fast die ganze Menschheit ausgerottet. Und die paar Überlebenden balgten sich um die Reste. Wir würden aussterben, das sah ich deutlich vor mir. Madame und ihre Raubtiere würden wieder die Spitze der Nahrungskette bilden. Die Natur wäre wieder im Gleichgewicht.
Ich sah Claudia und Max an. Jetzt sah ich sie anders. Sie waren tot in meinen Augen. Mausetot. Sie bewegten sich nur noch, weil ich sie brauchte. Ich würde Madame und ihren Kindern die Welt schenken. Der Mensch hatte seine Chance auf den Planeten gehabt. Er hat sie nicht genutzt. Und doch musste ich ab sofort so tun, als hätte ich diese Vision gerade nicht erlebt.
“Leute, nicht so hastig. Wir brauchen einen Plan, verdammt. Die Schiffsverteidigung macht euch alle platt.” Verstohlen wischte ich mir das Wasser aus den Augen. Niemand brauchte zu sehen, wie es um mich bestellt war, weil ich gerade den Exitus des Homo Sapiens beschlossen hatte.
“Geht dem Ding nicht irgendwann die Munition aus? Kann ja nicht sein, dass es unendlich lange so weiter geht? Oder deine Leute, müssen die nicht irgendwann schlafen?” Max war schon recht optimistisch.
“Nein. Vier Türme mit jeweils mehreren Tausend Schuss Munition, kannst du vergessen. Die Dinger ballern noch, wenn die Würmer an uns nagen. Dann die 27mm Leichtgeschütze und die Raketen. Alles steht auf Automatik. Keine Chance. Es gibt keine Besatzung. Ich bin der Letzte meiner Art. Übrigens bin ich auch der Einzige, der weiß, wie man die Systeme abschaltet. Also schön lieb sein, klar?”
“Und nun, du Held?”, fragte Judith, “was soll passieren? Wie soll es weiter gehen? Und ist nicht alles Scheißegal?”
“Nein. Noch leben wir. Ich möchte, dass das so bleibt, bis ich die gefunden habe, die sich selbst geimpft haben. Die Idee ist: Wir fahren zur Firma deines Mannes, Claudia. Dort suchen wir das Gegenmittel. Aber das Gegenmittel für die Mutation, versteht ihr? Gegen Ebola sind wir immun, gegen das neue Zeug nicht. Dort werden ein paar Köpfe rollen, sofern noch welche da sind.”
“Mit nur einem Ausweis kommen wir da aber nicht rein”, erklärte Max, “es gibt ein visuelles Monitoring, das jeden einzelnen Menschen scannt, der eintritt. Also brauchen wir mehr Ausweise.”
“Stimmt”, pflichtete Claudia zu.
“Und?”
“Wir müssen zu mir”, sagte Claudia mit Grabesstimme und ich wusste genau, was sie meinte. Ihre Erinnerungen waren zurück. Alle, und mit Macht. Und meine konnte ich nur mit höchster Konzentration zurück halten.
*
Wir hatten uns ins Lazarett begeben. Ich durch die Vordertür und die beiden durchs Fenster. Nachdem Judith mit den anderen vier Gefangenen und einem heftig diskutierenden Max in der kleinen Personalküche der Notaufnahme eingetroffen war, holte ich aus dem Kühlhaus der Großküche ein paar Lebensmittel. Max bot sich an, zu kochen, rümpfte aber die Nase, als er die gefrorene Schweineschulter sah.
Ich sah mir die Leute genauer an. Ein rothaariger Mann mit einer Figur wie ein Grizzly. Er sah aus wie Puh, der Bär in Öko-Klamotten. Sein wilder Bart, seine stämmige Figur und seine riesigen Pranken verliehen ihm eine Aura wie ein Wikinger.
“Du, Bär, wer bist du?”, fragte ich.
“Ich bin Ole”, antwortete er, “und war bei der Operation Relentless in der Antarktis dabei.”
“Als was, Ole?”
“Ich war Steuermann an Bord der Bob Barker”
“Perfekt. Wer bist du?”
Ich sah einen kurzen, blonden Mann an. Seine Figur verhieß, dass er Sport trieb, Sein Gesicht sah entschlossen und druckvoll aus. Eine verkrustete Blutspur zog sich über sein Kinn, und er war nicht bester Laune, wie es schien.
“Piet van Maarjes. Ick war Bootsmann op de Bob Barker.”
“Du?”
“Mike Hansen. Ich war im Land-Team auf den Faröern.”
“Und was kannst du?”, fragte ich den vollkommen durchschnittlich aussehenden Typen. 175 cm lang, mittelblonde Haare, nichtssagende Figur.
“Wie? Was soll das heißen?”
“Ich brauche eine Schiffsbesatzung. Wenn du nichts kannst, bleibst du hier.”
Das war natürlich gelogen. Aber ich wollte und musste klarstellen, wer hier der Boss war, wenn ich die Leute für mich gewinnen wollte.
“Keine Ahnung, was wird denn gewünscht?”
“Was warst du, bevor die Seuche ausbrach?”
“IT-Manager. Ich war Systemintegrator und habe fast ausschließlich mit Computern zu tun gehabt.”
“Perfekt. Jetzt zu dir, Kollege.”
“Artur. Ich bin aus Warschau und kann nichts, außer kochen. Aber nur vegan, das war Bedingung auf der Steve Irwin.”
“Du warst beim Chef?”
“Ja.”
“Cool. Warum bist du nicht mehr da?”
“Ich sollte zur Brigitte Bardot, aber bevor das passierte, brach die Seuche aus. Ich kann aber gut mit dem Messer umgehen.”
“Du guckst zuviel Steven Seagal- Filme, was?”
Artur grinste nur. Ich atmete tief durch. Das war nicht leicht, eine militärische Fregatte mit zivilem Personal zu bemannen.
“Leute, hört mal zu”, eröffnete ich das Gespräch und sah auch die wilde Truppe an, die am Tisch saß, “Wenn wir miteinander auskommen wollen, werden alle von uns Zugeständnisse machen müssen. Den Luxus der freien Wahl muss man sich leisten können, und da sehe ich gerade mächtig schwarz.”
“Wie jetzt?”, fragte Max.
“Wir haben hier und an Bord nur eine begrenzte Menge Lebensmittel. Hier an Land gibt es zwar noch Strom, aber es ist absehbar, wie lange das noch dauern wird. Irgendwann geht im Kraftwerk etwas kaputt und dann ist es hier zappenduster. Das bedeutet, wir müssen an Bord des Schiffes, koste es, was es wolle. Das Schiff hat eine eigene Frischwasserversorgung, ein eigenes Kraftwerk und kann sich notfalls selbst verteidigen. Das Problem ist, dass ich ein so großes Schiff nicht alleine fahren kann, ich brauche eine Besatzung, und da kommt ihr ins Spiel. Und - dramatische Pause - eure Kollegen”
“Und wo ist das Problem?”
Judith lachte. Sie hatte es kapiert.
“Ihr seid Veganer, Leute, aber ihr seid auch Seeleute. Wenn wir eure 14 Leute herholen, muss ich euch trauen können, sonst können wir uns alle gleich verwursten lassen. Und”, dabei sah ich Judith an, “dir muss ich auch trauen können.”
Überraschung. Einen kurzen Augenblick lang weiteten sich ihre Augen zu ungläubigem Staunen. Dann war es wieder weg und die alte Judith erschien.
“Und was ist dein Plan?”, fragte Judith, während Max Kartoffeln aus einer Plastiktüte quälte und Artur Zwiebeln schnitt.
“Nur ein grober Anhalt. Zuerst müssen die Leute her. Dann müssen wir ein Bündnis schließen. Ich muss an Bord, und die Automatik auf Handbetrieb schalten. Das heißt, ihr müsst euch beeilen. Ich bin körperlich nicht gerade fit. Wir müssen den Stützpunkt absichern, der Elektrozaun ist im Arsch und es ist eine Frage der Zeit, wann der Prediger das merkt. Ich fürchte, er will hier hinein. Das bedeutet, wir müssen in die Lagerhallen und sie durchsuchen. Irgendwo liegen mobile Bushmaster-Kanonen der Amis samt Munition. Die stellen wir strategisch auf, dann kann der Prediger kommen. Dann heißt es: Alles, was nicht niet-und-nagelfest ist, an Bord des Schiffes schaffen und Leinen los. Auf dem Wasser sind wir sicherer, als hier. Zuvor müssen wir aber nach Norderstedt.”
Alle hatten gut zugehört. Nur Judith mit ihrem scharfen Verstand erkannte die Probleme.
“Ich schätze, wir haben zu wenig Leute, oder?”
“Ganz genau. Übrigens Max? Bevor du das ganze Schwein brätst, ich brauche vier dicke fette Scheiben roh und ungewürzt für meine Katze”
“Ist also doch deine?”, stichelte Judith.
“Keine Ahnung. Aber ich liebe das Tier und sie braucht jedes Gramm für die Kleinen. Aber zurück zum Problem. Um ein Schiff zu fahren, das eigentlich für 255 Mann vorgesehen ist, brauchen wir eine Rumpfbesatzung. Kommandant, EinsO. Navigator, mindestens zwei Leute in der OPZ, ein Steuermann. Ein Smutje, ein Maschinenwart, mindestens zwei oder drei freifliegende Allroundhelfer für Küche, Bordorganisation, Hilfe bei der Maschine und so weiter. Am besten wäre noch ein Pilot mit Mustereinweisung.”
“Mit was?”
Judith konnte das nicht wissen.
“Ein Luftfahrzeug nennt man Muster oder Baumuster. Ein Pilot muss auf diesem Typ geschult sein, denn jeder Hubi ist gleich aber doch anders.
“Ach so. Aber einen Piloten?”
“Scheiß auf den Piloten, wenn ich richtig zähle, sollte die Minimalbesatzung aus 10 Mann bestehen.”
“Das passt ja”, tönte Max, “wir sind insgesamt 19, mit euch beiden 21”.
“Nee, mein Freund. Wir brauchen 30 Mann. Niemand arbeitet 24/7, nicht wahr? Wir reden nicht von einer normalen Firma voller Sesselfurzer, sondern von einem Kriegsschiff im Vollschichtbetrieb.”
Max schaute betroffen.
“Was hast du eigentlich sonst noch gemacht, Max?”
“Nichts. Ich war Chemikant in einer Erdölraffinerie und Pizzabote, bevor ich zu Jameson ging.”
“Okay, dann wirst du Mädchen für alles.”
“Verstehe ich nicht.”
“Ich habe vor, uns alle, sofern wir die Truppe, woher auch immer, zusammen bekommen, gut vorzubereiten. Das heißt, wenn deine Leute da sind, Max, müssen wir die Bunker auffüllen. Wir machen den gesamten Stützpunkt ratzeputz leer und das wird nicht einmal reichen. Ich habe vor, einen der beiden Hubschrauber aus dem Hangar zu werfen. Das Scheißding ist sowieso ewig kaputt. Vielleicht opfern wir sogar beide. Jeder Quadratzentimeter wird genutzt, um Dinge mit zu nehmen. Lebensmittel, Waffen, Munition. Und das wichtigste überhaupt im Überlebenskampf.”
“Was ist das?”, Max war erstaunt.
“Scheißhauspapier, Sportsfreunde, ist Kriegsentscheidend!”, und sah dabei Judith an, die sofort wusste, was ich meinte. Eine Tausendstel Sekunde fragte ich mich, woher ich eigentlich wusste, dass die Killerbraut präzise wusste, wovon ich eigentlich sprach.
*
“Und wie gehen wir es an?”, fragte Judith zwischen Bratkartoffeln und Schweinerücken.Außer Max waren die vier anderen Typen recht schweigsam, entwickelten aber einen guten Appetit. Nur das Schwein wurde ausschließlich von Judith und mir gegessen.
“Als erstes gehe ich an Bord und schalte die Automatik aus, setze mich aber an die Kontrollen und passe auf. Dann könnt ihr hier weg, ohne perforiert zu werden. Ich lasse eine Barkasse zu Wasser, dann seid ihr Ratzfatz in eurem Versteck. Ihr kommt sswm zurück, klar?”
“Ääh, was?”
“SSWM Max, so schnell wie möglich.”
“Ach so, klar.”
“Das muss sein, weil ich weder weiß, wann ihr zurück kommt, noch aus welcher Richtung. Es wäre super, wenn wir jemanden hätten, der einen 40-Tonner fahren kann. Am besten zwei oder mehr. Und wir brauchen die Barkasse zurück und ein schnelles Auto. Team 1, das sind Judith und ich, dabei noch jemand, fährt nach Norderstedt zu Jameson&Jameson. Team 2 fährt nach Bremen zu Wittrock&Uhlenwinkel, Team 3 fährt auch nach Bremen.”
“Ääääh, was soll Team 3 in Bremen?”
“Ganz einfach Judith. W&U ist ein Lieferant für Reinigungschemikalien und Putzmittel. Auf dem Hof oder im Lager stehen massenweise IBC- Container. Das sind 1000-Liter Tanks. Davon brauchen wir so viele, wie möglich für eine strategische Dieselreserve. Das andere Team fährt die Industriegebiete ab. Wir suchen große Lagerhallen. Diejenigen, die mit Wachhaus und Stacheldraht gesichert sind, sind interessant. Wenn wir Glück haben, finden wir die Umschlagzentralen von Aldi, Netto, Lidl und Edeka.Dort stehen palettenweise Kaffee, Klopapier, Tee, Nudeln, Reis und so weiter. Das, Freunde, wollen wir haben.”
“Wenn nicht schon jemand anders drauf gekommen ist, oder?”
“Stimmt Max. Wir brauchen Glück. Sonst wird es verdammt schwierig. Das wichtigste jedoch ist: Klopapier und… Jack. Ich will alles haben, was nach Jack Daniels aussieht, klar?”
Nach dem Essen schnappte ich mir das rohe Fleisch und suchte Madame. Ich fand das unglaubliche Tier hinter dem Lazarett. Aber warum? Konnte es sein, dass sie instinktiv ahnte, dass sie bei mir gut aufgehoben war? Dass sie vielleicht unsere Nähe suchte?
Ich näherte mich respektvoll.
“Heey, Madame. Schau mal, was ich hier habe”, schleimte ich. Und sie hob den Kopf. Ihre Ohren klappten nach hinten, die Nase nahm Witterung auf. Jetzt sah ich, was ich zuvor nur vermutet hatte. Sie hatte zwei Kinder bekommen. Zwei kleine Racker mit stahlblauen Augen und riesigen Tatzen. Und selbstverständlich unglaublichem Hunger.
Ich legte zwei der Fleischstücke vorsichtig zu den Katzenbabys. Sie begannen sofort, daran zu knabbern, als wäre es ein köstliches Festtagsmahl.
Die anderen beiden Stücke hielt ich Madame hin. Sie sah erst zu ihren Kindern, dann zu mir. Ich hätte wetten wollen, dass das ein bewusster Denkprozess war. Sie kam näher, ich legte das Fleisch auf den Boden. Madame kniete sich hin und begann, das Fleisch abzuschlecken.
Vorsichtig legte ich meine Hand auf ihren Nacken. Zunächst versuchte sie, sich der Hand zu entziehen, aber dann ließ sie es zu, dass ich ihr unglaublich weiches, flauschiges Fell streichelte. Madame verschlang die beiden Stücke, ohne ihre Kinder aus den Augen zu lassen.
“Was mache ich nur mit dir, wenn wir ablegen?”
Die Katze sah auf, blickte mich direkt an und neigte den Kopf leicht. Ich hätte alle Eide geschworen, dass sie jedes meiner Worte verstanden hatte.
Ich erschrak, als Judith plötzlich neben mir auftauchte und sich zu mir setzte. Durch mein Zusammenzucken pulsierte wieder Schmerz durch meine Schulter. Ich gab mir Mühe, dass sie nichts merkte.
“Du lässt die Leute allein?”
“Ja”, antwortete sie knapp, “die diskutieren gerade, wie es weiter gehen soll. Dieser Computertyp meinte, sie würden nichts gewinnen, weil man ohnehin kaum etwas ausrichten kann.”
“Man kann aber dafür sorgen, dass man am Leben bleibt. Nur darum geht es. Und weit genug vom Prediger weg zu sein.”
Judith schwieg. Äußerungen über ihren Prediger stießen ihr immer noch sauer auf. Das bedeutete, dass sie immer noch nicht von seiner Leine war. Und das wiederum bedeutete, dass ich ihr immer noch nicht trauen konnte. Wenn es hart auf hart kam, würde ich sie hier lassen müssen. Jetzt allerdings brauchte ich sie.
“Na komm, hilf mir mal auf, wir gehen zurück.”
Judiths Hände waren komisch. Sie waren klein und zierlich. Frauenhände eben. Und doch waren sie kalt und hart. Wie ein Blitz durchzuckte mich die Frage, ob sich ihr Körper ebenso anfühlen würde. Wie kaltes Leder. Heftig schüttelte ich den Kopf. Was für ein Unsinn. Ich schob den Anfall auf die Schmerzmittel.
“Was ist?”, fragte Judith, der das natürlich nicht entgangen ist.
“Nichts. Ich dachte nur gerade an etwas Ekliges.”
Zurück bei den fünf heftig diskutierenden Sea Shepherds schmerzte mein ganzer Körper. Aber darauf durfte ich keine Rücksicht nehmen.
“Leute, was ist das Problem? Kommt schon, raus damit. Und keine Scheu, klar?”
“Keine Scheu? Ist klar”, warf Artur ein, “und wenn es nicht nach Eurem Willen geht, kommt Emma Peel und zieht uns die Haut ab, oder wie?”
Ich resignierte.
“Artur. Wenn du aus dem Fenster siehst, hast du eine Welt im Endstadium vor Augen. Die meisten Menschen sind tot und vergammeln auf den Straßen. Es stinkt bestialisch und die paar Überlebenden teilen sich in drei Lager. Die Arschlöcher, denen wir den ganzen Scheiß zu verdanken haben, einem irren Prediger und uns. Ich fürchte, ihr habt nicht wirklich eine Wahl. Ich alleine verrecke hier. Der Prediger hat auch nichts mehr zu tun, wenn alle anderen ausgerottet sind und ihr werdet irgendwann auch vor die Hunde gehen. Die Pharmatypen sind fein raus. Die haben garantiert irgendwo ein schnuckeliges Nest mit allem Komfort, den man sich denken kann. Ich für meinen Teil habe nur noch ein Ziel: Diesen rücksichtslosen Wichsern in den Arsch zu treten. Dazu brauche ich euch. Jeden von euch. Also: Macht ihr mit oder wartet ihr auf euer Ende?”
“Kannst du das den Anderen auch erklären?”, fragte der Bär.
“Sicherlich. Aber wir müssen sie zuerst hierhin holen.”
“Aber nicht mit der da!”
Artur hatte offensichtlich ein Problem mit Judith.
“Artur, diese Frau ist meine rechte Hand. Alles, was sie sagt und tut, geschieht in meinem Namen. Also müssen wir uns vertrauen, sonst können wir es gleich sein lassen. Ist doch so, oder?”
Ich sah Judith an. Sah ihr direkt in die Augen. Und ich sah ihren Zwiespalt. Das machte mir Sorgen. Denn niemand konnte wissen, welche Seite die Oberhand gewann. Und doch nickte sie. Ich musste mich darauf verlassen, ob ich wollte, oder nicht.
“Also gut. Gehen wir es an. Macht ihr mit oder nicht?”
Diesmal waren sich alle fünf einig.
“Gut. Also, der Plan ist folgender: Ich gehe an Bord der Hamburg und schalte die Automatik aus. Mike Hansen kommt an Bord und wir lassen eine Barkasse zu Wasser. Dann könnt ihr abdampfen. Mike bekommt eine Unterweisung in die Verteidigungssysteme, während ihr die Leute holt. Schaut bitte, dass nur Leute mitkommen, die das auch wollen, verzettelt euch aber nicht in endlose Diskussionen. Ich ahne, dass derPrediger und seine Leute quasi vor der Tür stehen.”
“Und dann?”
“Eins nach dem anderen Max. Wir müssen die Leute nach ihren Fähigkeiten befragen. Dann einteilen und unterweisen. Viele verlaufen sich auf einem Schiff, und das ist so gut wie unmöglich.”
“Wieso?”, fragte Judith. Ich grinste.
“Auf Schiffen sind die Räume mit Nummern gekennzeichnet. Und zwar aufsteigend von vorne nach hinten. Ungerade Zahlen Backbord, gerade Zahlen Steuerbord.”
Judith hüstelte. Mein Grinsen wurde breiter.
“Ja, ich habs kapiert. Backbord ist in Fahrtrichtung Links, Steuerbord Rechts.”
“Und warum?”
“Wie bitte?”
“Na, warum ist Steuerbord Rechts?” Das erinnerte mich an meine Ex-Frau. Die fragte mal vor einer Ampel: “Warum ist eigentlich oben Rot?”
“Das hat noch mit den Wikingern zu tun. Die hatten das Ruder auf der rechten Seite. Daher ist das Steuerbord.”
“Aha, und die Küche war Links?”
“Wieso Küche?”
“Ääh naja, Back- Bord.”
Es war zum Verzweifeln. Oder gab sie nur den Clown, um das Eis zu brechen? Andererseits, warum sollte sich eine Landratte mit derlei Dingen beschäftigen?
“Judith, das hat nichts mit backen zu tun. Es geht wohl eher darauf zurück, dass der Steuermann auf den alten Drachenbooten rechts saß und der anderen Schiffsseite den Rücken zuwandte. Also kommt das Wort wohl eher aus dem Englischen: Back, Rücken. Also Steuerseite und Rückenseite.”
“Okay. Und warum macht man es so kompliziert?”
Darauf wusste ich jetzt auch keine Antwort mehr. Und einen Exkurs in Seefahrertradition würde ich heute nicht mehr anstoßen.
“Okay Leute. Wir haben den Magen voll, wir sind uns einig. Geben wir Gas. Ich gehe an Bord und wenn ich winke, kommst du über die Gangway rauf, klar Mike?”
“Äähm… könnten wir irgendwie den Kommandoton lassen?”
Fing das schon wieder an…
“Mike. Wir kämpfen hier um unser Leben, kapierst du das? Wenn wir alles bis ins Letzte ausdiskutieren…”
“... kommt der heilige Prediger und richtet euch hin. Und der diskutiert nicht, er fackelt nicht, er zögert nicht. Für den Prediger sind wir Sünder, die aus Versehen die Apokalypse überlebt haben. Also verdammt nochmal fügt euch!”, beendete Judith meinen Satz. Und ob ich wollte, oder nicht, ihre Art war schon direkt, aber authentisch.
“Na gut. Und müssen wir euch mit Dienstgraden anreden?”
“Nein. Judith hat keinen Dienstgrad. Noch nicht. Wenn wir auf See sind, bin ich Leutnant Richter. Mutige nennen mich: Oh Captain, mein Captain.”
“Was?” Sechs Leuten standen zugleich die Münder offen.
“Leute, lest mehr Bücher!”