Chris und Nick
Ohrenbetäubend brüllte der Wecker mitten in ihren verworrenen Traum, der sich daraufhin sofort beleidigt zurückzog. Chris versuchte vergeblich, den entschwindenden Traumzipfel noch zu erwischen, aber es gelang ihr nicht. So fluchte sie leise vor sich hin, schälte sich langsam aus dem warmen Bett und schlurfte missmutig ins Bad. Das Gesicht im Spiegel ließ sie die Augen verdrehen und die Auswirkungen der gestrigen Party rumorten vehement in ihren Eingeweiden. Nach einer ausgiebigen Wechseldusche fühlte sie sich etwas besser und sie schwor sich abermals, die Finger von Absinth zu lassen.Im Bademantel taperte sie vor ihre Wohnungstüre und bückte sich, um die Tageszeitung und das Abonnement-Päckchen des Bäckers von der Fußmatte aufzulesen und sofort musste sie erneut gegen die Schwindelgefühle ankämpfen. Verfluchter Absinth! Natürlich öffnete sich genau in diesem Moment die Tür des Nachbarn, der ihr ein fröhliches „Guten Morgen“ zurief. Nicht, ohne sie eingehend zu betrachten. Chris schnappte Zeitung und Brötchentüte, richtete sich auf, murmelte: „Hi. Glotz nicht so“ und huschte zurück in die Wohnung.
Gemütlich am Frühstücken - der Espresso war dick und stark, die Brötchen mit blauschwarzer Brombeermarmelade bestrichen - klingelte das Telefon: „Wer stört, verdammt?“ „Chris, ich bin´s, Nick. Es ist wieder so weit.“„Nick? Hey, ein mal im Jahr war der Deal. Und das letzte Mal ist doch noch keine zwölf Monate…“ „Baby, schau auf den Kalender! Es ist auf den Tag genau ein Jahr her und du hast dich verdammt noch mal verpflichtet! Also ich will jetzt keine Ausreden hören. Ich hole dich in einer Stunde ab. Und wehe, du bist nicht fertig!“ Klick. Ein Blick auf die Tageszeitung bestätigte ihr, dass Nick recht hatte.
Panik machte sich breit. Mit marmeladeverschmiertem Mund suchte sie fieberhaft das Goldlamékleid. Gott sei Dank. Es war ordentlich in einem Kleidersack verstaut. Wer trägt denn heute noch Goldlamékleider?! Aber das war leider vertraglich festgelegt. Daran gab es nichts zu rütteln. Wo waren nur die passenden Riemchensandalen? Sie wütete im Schuhschrank und saß irgendwann verzweifelt zwischen den verstreuten Pumps, Stiefeln und Ballerinas, als ihr Blick auf einen Karton fiel: „Die Glitzerschachtel! Stimmt! Da hab ich sie rein getan. Jetzt aber schnell. Bald kommt Nick, und mit dem ist nicht zu spaßen, wenn es um Unpünktlichkeit geht.“ Sie huschte ins Badezimmer, verwandelte ihren Marmelademund in frische, zartrosa Lippen und hielt auch beim restlichen Make-up die eiserne Regel ein, die zur farblichen Zurückhaltung ermahnt. Die eben noch verstrubbelte, blonde Mähne zähmte sie zu einer eleganten, aber gekonnt schlampigen Hochsteckfrisur.
Chris wollte sich gerade eine Zigarette anstecken, da klingelte es auch schon. Nick stand vor der Tür, lächelte sie an und raunte: „Süß siehst Du aus. Nimm die Kippe aus dem Mund, wir müssen los.“ Die Treppen ächzten unter seinem schweren Schritt und Chris beeilte sich, ihm zu folgen. Vor dem Haus stieß sie einen bewundernden Pfiff aus: „Geiler Schlitten! Ist der neu?“ „Nein. Das ist der vom letzten Jahr. Ich hab ihn aber etwas aufgemotzt. Tiefer gelegt auch. Macht echt was her, oder?“ Stolz grinste er sie an.
Sie nahmen beide Platz und Chris stupste Nick den Ellenbogen in die Rippen. „Jedes Jahr derselbe Stress, was? Aber schön ist es trotzdem.“ Sie zupfte keck an seinem Bart. „Ja, schön ist es. Alle Jahre wieder.“ Nick streichelte ihr über den Kopf, lächelte ihr zu und ermahnte sie, sich festzuhalten. Ein Zungenschnalzen und ein beherzter Ruck an den Zügeln, schon setzten sich die Rentiere in Bewegung, galoppierten die Straße entlang, bis sie abhoben und der Schlitten mitsamt Christkind und Nikolaus über den Dächern verschwand.
Fröhliche Weihnachten!