Panik am Nordpol
Es geschah im Jahre 2014...
Am Nordpol ist blanke Panik ausgebrochen.
Es ist 15 Uhr am 24. Dezember, am Heiligen Abend, und Rudolph das Rentier liegt stinkbesoffen im Stall.
Rudolph hat den Kessel mit dem Weihnachtspunsch gefunden und ihn innerhalb der letzten Stunde komplett leer getrunken. Das Zeug schmeckt einfach so verdammt überirdisch gut. Die Wichtel verstecken den Punsch jedes Jahr an einer anderen Stelle, weil sie wissen, wie sehr Rudolph darauf abfährt. Normalerweise bekommt er nach Weihnachten, wenn alle Arbeit getan ist und am Nordpol gefeiert wird, immer eine große, aber noch relativ harmlose Portion davon ab. Er kichert dann immer etwas unkontrolliert und zieht witzige Grimassen, worüber sich alle köstlich amüsieren. Nur in diesem Jahr hat er es mit seiner feinen Nase doch tatsächlich geschafft, den Kessel zu finden.
Gekotzt hat er natürlich auch schon. Mehrfach. Die Wichtel laufen mit jammerndem "Ohgottogottogott" kopflos durcheinander, die Engel versuchen, Rudolph mit Manna nüchtern zu bekommen (er kotzt nach jedem Schluck gleich nochmal), die Elfen stehen mit genügend Sicherheitsabstand in einer Ecke und schütteln konsterniert den Kopf über diese Würdelosigkeit. Während die Zwerge, pflichtbewusst wie sie nunmal sind, die letzten Geschenke in der Werkstatt verpacken und dabei ein fröhliches Liedchen trällern.
Wo ist nur der Chef? Wo ist Santa Claus? Nur er kann noch retten, was augenscheinlich nicht mehr zu retten ist. Rudolph kann in diesem Zustand niemals den Schlitten ziehen. Er ist das Leittier unter den Rentieren. Sie würden alle seinen Schlangenlinien folgen, die Geschenke würden aus dem Schlitten fallen und an eine glückliche Landung auf den Hausdächern ist gar nicht zu denken.
Santa ist seit zwei Stunden spurlos verschwunden. Keiner hat ihn seitdem gesehen, keiner weiß, wo er ist. Das gab es noch nie. Normalerweise geht er um diese Zeit durch die Werkstatt, kontrolliert nochmal alles, geht die Liste mit den Wünschen durch, plaudert ein wenig und verbreitet eine fröhliche Weihnachtsstimmung.
Der Elf Patch - der engste Vertraute und die "rechte Hand" von Santa - hat schon alles abgesucht. Auch in Santas Haus hat er nachgeschaut. Nichts. Kein Santa Claus.
Jedoch, als er vor Santas Schreibtisch steht und das schwarze Telefon sieht, kommt ihm ein schrecklicher Gedanke. Das Telefon steht nicht an seinem üblichen Platz auf der äußersten Ecke des Schreibtischs. Es steht in Reichweite zum Sessel. Jemand muss damit telefoniert haben. Was sehr selten vorkommt, denn dieses Telefon ist die direkte Verbindung nach unten. Nach ganz tief unten.
"Stefanie!", ruft Patch mit sich leicht überschlagender Stimme nach Santas Assistentin.
"Verdammt nochmal, Stefanie!"
Zaghaft wird die Türe geöffnet und eine kleine, pummelige Zwergenfrau streckt den Kopf durch.
"Ähm... jaahaaa?"
"Stefanie, da bist du ja endlich! Komm rein bitte."
Als Stefanie auf ihn zugeht, sieht Patch, dass sie verheulte Augen hat und verängstigt wirkt.
"Meine Güte, Stefanie, was ist passiert? Erzähle mir bitte alles!"
"Nun ja... da kam ein Anruf. Auf dem schwarzen Telefon. Du weißt doch, wer..."
Stefanie brach ab, ihre Stimme versagte.
"Ja, ich weiß! Das ist die direkte Leitung zu Luzifer. Und weiter?"
Stefanie putzt sich mit einer großen Weihnachtsserviette die Nase und fährt zögernd fort:
"Er wollte den Chef sprechen."
"Ja. Und weiter..."
Patch wurde so langsam ungeduldig.
"Santa nahm das Gespräch an und ließ mich mithören. Es war erstmal die typische Angeberei von Luzi, was wir ja inzwischen schon zu gut kennen. Er versucht es doch jedes Jahr aufs Neue, mit allen Mitteln Weihnachten ausfallen zu lassen. Doch dann wurde er ernst und überredete Santa zu einem Treffen, um über die Konditionen für ein friedliches und störungsfreies Weihnachten zu verhandeln."
"Ach du heilige Sch... verflixt! Santa ging doch nicht darauf ein, oder?"
Stefanie senkt den Kopf und lässt ein kaum hörbares "doch" verlauten.
Patch rauft sich die Haare, rennt im Kreis um den Schreibtisch herum und flucht sämtliche verbotenen Flüche. Stefanie heult schon wieder.
"Hör auf zu flennen! Ich muss etwas unternehmen. Weihnachten darf nicht ausfallen!"
Patch nimmt das schwarze Telefon und wählt. "666". Anstatt des üblichen Klingeltons dringt ein lautes und verzerrtes "Dingdong" an Patch's Ohr. "Dieser verfluchte Luzifer. Der Kerl ist dermaßen durchgeknallt!", schimpft er, bevor auf der Gegenseite abgenommen wird.
"Grüß Gott, Sie sprechen mit Luzifer.", ertönt eine tiefe Stimme am anderen, sehr dunklen Ende der Leitung.
"Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?", erwidert Patch, während er die Augen verdreht.
Lautes Lachen auf der Gegenseite.
"Der war gut, nicht wahr? Haahhh, ich liebe diesen Spruch! Der ist echt ein Schenkelklopfer! Huahahaha!"
Patch hört durch das hysterische Lachen hindurch, wie Luzifer die Handflächen auf seine Schenkel haut. Meine Güte, dieser Kerl geht gar nicht. Er wartet kurz, bis er sich beruhigt hat und sein Lachkrampf zu Ende ist.
"Luzi, was hast du mit Santa gemacht?"
"Ich?"
"Nein, die Luzi von der Alm."
Patch wirkt sichtlich genervt, was Luzifer natürlich bemerkt und köstlich amüsiert.
"Och... eigentlich nichts. Ich habe ihn nur zu einem netten Plausch eingeladen, um unser diesjähriges Weihnachtsfest zu besprechen."
Und wieder folgt dieses irre Lachen - mit Schenkelklopfern untermalt.
"Und wo ist Santa jetzt?"
"Santa?"
"Nein. Mini-Maus."
Patch greift sich ein Kissen aus dem Sessel und beißt hinein, um nicht zu schreien.
"Ach Santa! Claus! Ja nun, dem geht es gut! Er macht gerade eine Wellness-Kur in meinem Verließ. Meine kleinen Teufelinchen verwöhnen ihn. Du weißt schon... harrharr."
"Du lässt ihn jetzt sofort gehen!"
"Liebster Weihnachts-Sklave, es amüsiert mich ja, wie nett du mich darum bittest. Aber diesen Wunsch kann ich dir leider nicht erfüllen. Santa fühlt sich hier so wohl, er wird erst in drei Tagen wieder nach Hause kommen. Wenn er die Zeit nicht mehr beeinflussen kann, um auf der Welt Geschenke zu verteilen. Ich weiß ja, dass er diese besondere Gabe nur an Weihnachten hat. Es tut mir leid, aber Weihnachten fällt dieses Jahr wohl aus.", säuselt Luzifer mit dem nettesten Tonfall, den ein Teufel in der Lage ist, zustande zu bringen.
Patch erkennt, er hat keine Chance, Santa Claus rechtzeitig zurück zum Nordpol zu bekommen.
"Hab noch einen schönen Tag, Patchilein. Ich werde mir das köstliche Dilemma an meinem Weltmonitor anschauen. Es wird ein Genuss werden, diese traurigen Menschlein zu beobachten! Hach ja, Weihnachten kann doch tatsächlich wundervoll sein - wenn es ausfällt, huahaha."
Patch knallt den Hörer auf die Gabel (ja, am Nordpol gibt es sie noch, diese altertümlichen Telefone mit Wählscheibe). Sein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Plan B muss her. Santa wird nichts Schlimmes geschehen, das verbieten die Elementargesetze der Welten- und Himmelsmächte, an die sich sogar ein Luzifer hält. Die beiden treiben ihre Spielchen jedes Jahr auf's Neue. Aber Weihnachten darf nicht ausfallen.
Er nimmt das rote Telefon. Das Dringender-Notfall-Telefon. Stefanie schluchzt auf, Patch winkt ab, wählt die 0 und wartet.
"Jaaaah?", tönt eine sanfte und sehr müde klingende Stimme durch die Leitung.
"Löffel?"
"Ja Mann, was ist los? Ich habe gerade so schön geträumt von farbigen Eiern und bunten Wiesen. Und von einer entzückenden Häsin. Ist denn schon Ostern? Hab ich meinen Termin verpennt?"
"Nein, hast du nicht. Aber wir haben einen Notfall. Santa wird von Luzifer festgehalten, Weihnachten droht auszufallen."
"Ach du heiliges Schokoladenei! Ich bin wach, alles klar. Wie kann ich helfen?"
Und so geschieht es, dass an Weihnachten im Jahre 2014 nicht der Weihnachtsmann, sondern der Osterhase durch die Kamine rutscht und die Geschenke ablegt. Etwas seltsam schaut er aus, mit dem aufgeklebten, weißen Bart und der roten Mütze zwischen den langen Ohren. Und ungewohnt schlank ist er. Aber das stört die Kinder, die einen heimlichen Blick erhaschen können, nicht. In ihren Computerspielen sehen die Weihnachtsmänner schon längst anders aus.
Epilog
Rudolph wurde natürlich nicht mehr rechtzeitig nüchtern. So mussten zwei Engel herhalten und seinen Platz einnehmen. Die anderen Rentiere folgten ihnen gerne und ohne Murren, war doch der Engelsstaub so wohltuend auf ihrem Fell. Rudolph dagegen hatte zwei Tage lang böse Kopfschmerzen.
Das Problem mit der Zeit wurde über die Engel gelöst. Sie können immer durch die Zeit reisen. Nicht, wie Santa, nur an Weihnachten. Und da zwei Engel für Rudolph eingesetzt wurden , konnten sie diese Gabe anwenden und überall auf der Welt rechtzeitig zum Abend des 24.12. die Geschenke abliefern.
Und Santa? Nun, er kam am Morgen des 27. Dezember tatsächlich wieder zurück zum Nordpol. Durchnächtigt sah er aus, aber er war fröhlich gelaunt und summte zweideutige Kneipenlieder. Luzifer hatte ihm ein Getränk serviert, welches ihm sein Zeitgefühl genommen hatte. So saß er die ganzen Tage und Nächte mit Luzifer zusammen, mit viel Alkohol, derben Witzen und köstlichen Speisen, ohne an Weihnachten zu denken. Die beiden hatten wahrlich ihren Spaß. Bis sich Luzifer die Aufzeichnung des Heiligen Abends auf seinem Weltmonitor anschaute. Da war es vorbei mit seiner guten Laune und Santa durfte gehen.
Santas Zeitgefühl kam zurück, sobald er am Nordpol angekommen war. Entsetzt rannte er auf Patch zu, der gerade mit ein paar fleißigen Wichteln den Festsaal herrichtete.
"Was ist geschehen? Ist Weihnachten ausgefallen? Oh mein Gott, welche Katastrophe! Ich Idiot! Was macht ihr da eigentlich? Wie könnt ihr jetzt nur ans Feiern denken!"
Als er jedoch in allen Einzelheiten erzählt bekam, wie sein getreuer Patch die Lage gemeistert hatte, umarmte er ihn und war überglücklich. Der Osterhase Löffel wurde zur großen Feier eingeladen und sie feierten alle ein wundervolles Fest bis tief in die Nacht.
Weihnachten war nicht ausgefallen.
Es war nur der Osterhase, der die Geschenke brachte.