23. Dezember
„Schnee. Ich will Schnee. Ohne Schnee feiere ich kein Weihnachten.“
Frustriert stöhne ich auf. Dieser kleine Dickschädel. Seit meine Mutter diese unbedachte, unverzeihliche Äußerung machte, dass Weihnachten ohne Schnee kein richtiges Weihnachten sei, hat mein Sohn beschlossen, dass es erst dann hier mit dem Christfest beginnen soll, wenn alles von dieser glitzernden, alles in strahlendes Weiß tauchenden Decke verhüllt ist.
Woher soll ich auf einmal Schnee nehmen? Ich bin doch schließlich kein Wettergott.
Mit Engelszungen rede ich auf ihn ein. Erzähle von Erderwärmung. Von Wetterprognosen. Vom Schicksal. Gottes Fügung. Himmel, ich ungläubiges Wesen lasse sogar diesen Trick nicht aus, nur um den Jungen davon zu überzeugen, dass nicht immer alles so läuft, wie man sich das vorstellt.
„Großer“, sage ich zu ihm. „Das Leben serviert dir manchmal einfach nur Erbsensuppe, auch wenn Du lieber ein Happy-Meal hättest.“
Ungläubig sieht er mich an. „Wenn du mir keins kaufst, macht Oma das.“
Argh. Wäre eine gewisse Person gerade in meiner Nähe, ich würde sie erschießen. Nein, das wäre zu sanft. Zu schnell. Leiden sollte sie. Genauso lange leiden wie ich, nämlich 24 Tage lang, vier Wochen, und länger noch, je nach dem, wie lange mein Sohn mir vorhalten wird, dass ich ihm kein Weihnachten bescheren konnte.
Gerade eben noch halte ich zurück, dass Oma ja dann auch den verdammten Schnee besorgen könne, aber dieser Gedanke setzt sich bei mir fest.
Kann ich Schnee besorgen? Kann ich diesem kleinen Burschen, der ja eigentlich rührend ist in seiner Unerschütterlichkeit, kann ich ihm nicht doch irgendwie helfen?
Gedanken, Bilder schießen durch meinen Kopf. Ich sehe mich in unserem Keller Styroporplatten zerbröseln, meine Mutter an den Tisch gekettet, weil ich sie strafverpflichtet habe sich an der Aktion zu beteiligen.
Unmöglich. Erstens ist es kein echter Schnee, zweitens würde ich das nie bis dahin schaffen und drittens würde ich nie meine Mutter anketten können. Sie ist stärker als ich.
Eisblöcke schreddern? Nein… utopisch.
Dem Schnee hinterher reisen? Pah. Am besten nach Kanada, dort wo meine miserable Oma lebt und genau das damit bewirken wollte?
„Also, hier bei uns liegen jetzt schon 80 cm Schnee… hoch, nicht lang.“ Die süffisante Bemerkung habe ich noch ganz genau im Ohr.
Würde ich woanders hin reisen, würde der Große mir das nie verzeihen. Geht also auch nicht.
Weihnachten in die Skihalle verlagern? Großer Gott. Öffentliches Spektakel, ein absoluter Graus für mich. Aber ein Versuch ist es wert…
Ich hänge mich ans Telefon. Zu spät scheinbar, denn im Umkreis von 100 km sind sämtliche Skihallen ausgebucht oder sie haben speziell am Heiligabend geschlossen. Außerdem, so merkt mein Sohn an, der den letzten Anruf mitbekommt: Außerdem sei das eh gemogelt, weil’s ja auf dem Hin- und Rückweg nicht schneien würde.
Gut. Eine Kinoleinwand vor das Fenster spannen fällt damit auch flach.
„Was ist jetzt mit Plätzchenbacken?“ frage ich ihn. Vielleicht kommt er ja doch noch auf den Geschmack, wenn wir backen und basteln.
„Klar doch, Mama.“ Er grinst mich an. „Wenn Weihnachten ausfällt, essen wir sie eben einfach so.“
Verdammt. Er ist einfach zu clever für sein Alter.
Ein bisschen stolz macht es mich ja schon. Er lässt sich nicht beirren, bleibt konsequent. Und es ist nicht so, dass er stur ist oder trotzig, nein. Er diskutiert mit mir, überlegt, wenn er meine Argumente hört – aber dann winkt er ab und bringt ein treffendes Gegenargument.
Zu Nikolaus schenke ich ihm eine Schneekugel, mit einem Weihnachtsbaum innen. Es tut mir in der Seele weh, dieses Bäumchen anzuschauen, weiß ich doch, dass dieses Jahr bei uns nichts dergleichen stehen wird.
Schweren Herzens blättere ich weitere Seiten auf Google um, überlege hin und her, was ich tun könnte.
In dem Moment, als ich schon glaube, dass es definitiv vorbei ist, höre ich etwas. Im Radio. Mitten auf der Autobahn zwitschert die Moderatorin mir plötzlich ins Wageninnere eine Idee, die so verrückt ist, dass sie auf jeden Fall klappen muss…
„… schreiben Sie uns, rufen Sie uns an! Erklären Sie uns, warum es gerade bei Ihnen am Weihnachtsabend schneien soll. Wenn Sie zu den Gewinnern zählen, wird eine Schneekanone Ihr Haus und die nähere Umgebung in eine Schneedecke einhüllen, die selbst bei diesen Witterungsbedingungen über die Feiertage halten wird!“
Ich muss mich zusammenreißen um nicht spontan auf die Bremse zu treten und genau dort, mitten auf der Autobahn anzuhalten.
Ja! Das ist es! Fieberhaft wiederhole ich die Telefonnummer, immer wieder, bis ich beim nächsten Rastplatz ankomme.
Und das Glück ist mir hold. Die freundliche Stimme am Telefon ist kein Ansagetext, dass zurzeit alle Leitungen belegt sind, sondern ich bin direkt mit der Moderatorin verbunden. Wow! Vor lauter Überraschung stottere ich fast, verhaspele mich, muss lachen.
Wir lachen beide.
“Und er lässt sich wirklich nicht erweichen?“ Die Stimme der Frau ist sympathisch. Amüsiert, aber gleichzeitig gerührt hat sie meinem Bericht gelauscht.
„Nun, ich glaube, er rechnet fest damit, dass es doch schneien wird. Dass ich das irgendwie hinkriege. ‚Du machst das schon’, hat er zu mir gesagt.“
Selbst jetzt muss ich schlucken, als mir das wieder einfällt.
„Ein solches Vertrauen ist ein Geschenk, das man nicht zurückweisen darf, Andra“, sagt die gute Dame, die sich mir mit dem Namen Nicole vorgestellt hatte. Auch ihre Stimme klingt belegt.
„Ja. Ich weiß. Deswegen suche ich schon seit Wochen nach einer Möglichkeit, ihn nicht zu enttäuschen“, erwidere ich. „Es wäre… ich habe irgendwie das Gefühl, dass ich dann versagt hätte.“
Schweigen.
Mist. Ich hab’s verbockt, ganz sicher.
Nicole räuspert sich.
„Sie haben ganz und gar nicht versagt, Andra. Wenn eine Mutter sich solche Mühe macht, hat sie auf keinen Fall versagt, auch wenn diese Aktion hier nun ins Leere laufen würde.“
Oh man… mir wird das Herz schwer. Sie versteht nicht, nein. Sie versteht ganz und gar nicht…. Ich sehe sein Gesicht vor mir. Er wird sich nichts anmerken lassen, zumindest wird er es versuchen. Und doch werde ich merken, wie traurig er ist. Das hier ist mehr als nur ein Weihnachtswunsch, da bin ich mir fast sicher…
Ganz langsam tropfen die Worte der Moderatorin wieder in mein Bewusstsein: „Aber das wird nicht ins Leere laufen. Ich bekomme gerade unzählige Mailzuschriften und Anrufe mitgeteilt: Weihnachten fällt bei Ihnen und Ihrem Sohn höchstens in gefrorenes Wasser, Andra. Alle Hörer – und auch wir von der Moderation – sind der Meinung, dass Ihnen auf jeden Fall der Schnee in diesem Jahr gehören sollte.“
Ich fass es nicht. Schnee aus einer Schneekanone, für meinen wunderbaren Sohn. Dieser kleine Teufelskerl hat es wieder einmal geschafft. Wie im Traum gebe ich den Serviceleuten dort meine Anschrift und die Telefonnummer, beende das Gespräch und fahre heim.
Die nächsten Tage sind aufregend, besonders für mich. Ich habe geschwiegen, und ich sehe, wie angespannt der Große ist. Immer wieder läuft er zum Barometer, klopft dagegen, runzelt die Stirn. Aber es ändert sich nichts, gar nichts. Fröhlich mache ich mit den ganzen kleinen Vorbereitungen weiter, die sich bei uns in der Vorweihnachtszeit zur Tradition entwickelt haben: Eine Krippenfigur basteln. Plätzchen backen, dekorieren. Die Wohnung schmücken. Tannenzweige, Moos besorgen, die festliche Kleidung vorbereiten. Ein bisschen Mitleid habe ich schon mit ihm, weil ich merke, wie ihm das Herz schwer wird, jeden Tag ein bisschen mehr.
Und doch gibt er nicht auf, erklärt mir immer wieder, dass das schon noch klappen wird.
„Du kannst alles schaffen, wenn Du nur willst, Mama.“
Was bin ich froh, dass das mit der Schneekanone klappen wird!
Dann endlich, Heiligabend. Alle Einzelheiten sind besprochen. Um 17:00 Uhr pünktlich wird die Schneekanone hier vorfahren und alles in das Innere einer glitzernden Schneekugel verwandeln.
Ich schmücke fröhlich den Baum, summe Weihnachtslieder. Der Große lungert vor dem Fenster herum, betrachtet düster diese schweren Wolken, die am Himmel stehen.
Ich muss so lachen, aber ich reiße mich zusammen und denke mir: „Noch vier Stunden, Großer. Dann kannst Du feiern.“
Gerade als ich den Stern oben auf die Spitze setzen will, höre ich ein glückliches Juchzen.
„Mama! Da, guck! Schnee…“
Irritiert sehe ich ihn an. „Nein, das kann nicht sein, Junge. Noch nicht“, sage ich, steige aber von der Leiter ab und trete zu ihm ans Fenster.
Unglaublich. Dass sie so früh schon anfangen würden, und dass das Umfeld so groß sein würde, hätte ich nicht gedacht, ebenso sind die Flocken ziemlich spärlich. Da stimmt doch was nicht!
Ich reiße die Terassentür auf und renne hinaus, laufe auf die Straße, schaue mich um.
Keine Schneekanone.
Kein Übertragungswagen vom Sender.
Nichts!
Nichts außer… Schnee. Schnee, der vom Himmel herunter fällt, einfach so.
Ohne Tricks, ohne doppelten Boden oder Sicherheitsnetz.
Weihnachten fällt nicht ins Wasser, zumindest nicht in getautes. Zumindest nicht in diesem Jahr.