Es kommt
Schwer atmend erreicht der alte Maler endlich den höchsten Punkt des Hügels. Wie schon so oft in den letzten Monaten, spürt er auch heute sein Alter. Immerhin ist er bereits 74, und da ist der Weg auch auf einen harmlosen Hügel nicht mehr so leicht zu bewältigen wie früher.
Wie schön es hier ist! Ein paar Minuten lang genießt er den Ausblick und atmet tief die klare Luft ein. Für einen Novembertag ist das Wetter geradezu traumhaft. Schließlich klappt er seinen Sitz auf, nimmt Platz, holt in aller Ruhe seine Utensilien aus dem Koffer, baut die Staffelei auf und legt sorgfältig seine geliebten Pinsel zurecht. Noch einmal lässt er seinen Blick über die Landschaft schweifen und sucht das richtige Motiv für heute. Und auf einmal weiß er, welche Farben er heute mischen muss, tut es langsam und bedächtig.
Währenddessen denkt er an seine Frau. Gerda. Es ist verrückt: Auch heute ist er wieder froh, ihrem ständigen unzufriedenen und weinerlichen Nörgeln zu entkommen, indem er sich seiner geliebten Malerei widmet. Er kann diese Frau beim besten Willen nicht verstehen. Ständig hat sie für jeden und für alles Verständnis, predigt immer wieder, dass man alle Menschen so nehmen und akzeptieren solle, wie sie sind. Nur ihn, ihren eigenen Mann, den nimmt sie nicht so, wie er nun mal ist. Nur für ihn hat sie niemals Verständnis, egal was er sagt oder tut. Und so ist er froh, dass er dank seiner Kunst so oft das Haus verlassen und ihrer Nörgelei entkommen kann.
Warum nur packt er nicht einfach seine Koffer und zieht aus? Ist es wirklich nur das Alter? Oder die Gewohnheit? Oder ist es das trotz allem immer noch warme Gefühl im Herzen, wenn er an die Gerda von damals denkt, wenn er sich daran erinnert, wie wunderbar es mit ihr war, als sie noch jung und unbeschwert gelebt und geliebt haben? Ja, sie hatten beide hart und viel arbeiten müssen, aber sie waren glücklich gewesen. Heute sind sie reich, er ist berühmt, doch Gerda ist nur verbittert und unzufrieden. Er hat nicht die geringste Ahnung, warum das so ist. Und sie redet darüber nicht.
Auf einmal stutzt er. Da ist plötzlich eine ungeheure Stille. Nicht diese Stille, mit der man das Fehlen von Geräuschen bezeichnet, denn er hört nach wie vor Vögel zwitschern. Irgendwo bellt ein Hund und läutet eine Kirchenglocke, und von weit her trägt der Wind fröhliches Kindergeschrei und das Tuckern eines Traktors. Doch diese Stille ist lauter, sie liegt über allem.
Sie ist so gewaltig, dass sie sämtliche Geräusche auf eine geheimnisvolle Weise übertönt. Harald Pilatus schüttelt den Kopf und fragt sich, ob er nun wohl doch dem Altersschwachsinn anheim fällt. Solch eine seltsame Stille dürfte es gar nicht geben. Aber er hört sie deutlich. Kann man, so fragt er sich, Stille überhaupt hören?
Als er die Brille abnimmt und sich nachdenklich die Nasenwurzel reibt, sieht er es. Am Horizont, unübersehbar, kommt es auf ihn zu. Und mit einem Mal weiß er, was das ist. Er kennt es seit seiner Geburt, er kennt es aus uralten Zeiten noch vor seiner Geburt, doch er hatte es wohl vergessen. Da ist es also wieder. Und es nähert sich unaufhaltsam.
Pinsel und Farben legt er behutsam beiseite. Es gibt nichts mehr zu tun, es ist alles gut. Er wartet dankbar und gelassen auf das, was da kommt. Und jetzt, viel zu spät, weiß er, was Gerda all die Jahre gefehlt hat.
*
Erschöpft wischt sich die Bäuerin den Schweiß von der Stirn. Endlich ist es geschafft, die letzten Äpfel sind aufgelesen, das letzte Heu ist eingebracht, und wo nötig, sind die Felder für den Winter versorgt. Wie schön, dass ausgerechnet in diesem Jahr das Wetter im November immer noch so gut ist! Sonst hätte sie das alles allein niemals bewältigen können.
Wie hilfreich wäre es, könnte Günther noch auf dem Feld arbeiten. Ein Mann wie ein Baum, so nannte man ihn stets. Doch ausgerechnet ihn, diesen kraftstrotzenden Kerl, hat eine verfluchte Krankheit gefällt, und seitdem ist er an den Rollstuhl gefesselt. Er tut, was er kann, doch nur im Haus; auf dem Feld und im Stall geht es einfach nicht mehr.
Völlig entkräftet steigt sie auf den Traktor und will den Motor starten. Doch etwas in ihr lässt sie für einen Moment innehalten und warten. Sie atmet ein paar Mal tief ein und aus. "Na", sagt sie leise zum Traktor, "dann wollen wir mal" - und startet nun doch den Motor. Und plötzlich merkt sie, dass sich etwas über das übliche Geräusch des Motors gelegt hat. Er klingt wie immer - und doch anders. Wenn sie es nicht für undenkbar hielte, würde sie es vielleicht eine Art von Stille nennen, die über allem liegt. Doch das kann nicht sein, Stille ist doch eigentlich etwas, das man nicht hört - und dennoch kann sie das hören, dieses Stille überall um sie herum.
"Ich hab mich wohl übernommen", brummt sie, "ich sollte nicht solchen Unfug denken." Sie löst die Handbremse und will gerade aufs Gaspedal treten - da sieht sie es. Fassungslos starrt sie zum Horizont.
Es kommt direkt auf sie zu, langsam zwar, aber sicher und zielstrebig. Sie schüttelt den Kopf und macht den Motor aus. Verblüfft beobachtet sie, was da auf sie zukommt. Und sie weiß auf einmal, dass es gut so ist. So liebevoll denkt sie an ihren Mann, wie sie es schon seit Jahren nicht mehr getan hat, seit damals, als er plötzlich im Rollstuhl sitzen musste. Doch zum ersten Mal seit dieser verdammten Krankheit hat sie einen verwegenen Gedanken: Auch das ist gut so ...
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Ausgelassen haben sie im Wald getobt, glücklich darüber, dass es um diese Jahreszeit noch möglich ist. Also muss es ausgenutzt werden.
Sie haben die Mädchen nacheinander gefangen und an Bäume gebunden, sie dabei ein bißchen unter dem Vorwand befummelt, dass die Fesseln noch nicht straff genug sind und dass die Indianer das am Marterpfahl auch immer sehr genau prüfen. Gekichert haben sie, die Mädchen, sind aber nicht wirklich abgeneigt gewesen. Nur eine war auf einmal so komisch und irgendwie steif, hat plötzlich geweint. Margot, über die hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird, dass sie angeblich nachts manchmal von ihrem Vater in ihrem Bett besucht wird. So ein Blödsinn! Wer macht denn sowas? Doch die Jungs, ein wenig verwirrt und seltsam berührt, haben sie dann einfach in Ruhe gelassen.
Nun ist es Zeit, nach Hause zu gehen, ihre Eltern werden bald rufen, das Abendessen sei fertig, wo sie denn bloß alle nur wieder stecken. Also werden die Mädchen wieder befreit, und die Kinder laufen fröhlich, mit verschwitzten und immer noch glühenden Wangen über die weiten Felder und Wiesen, die zwischen dem Wald und dem Dorf liegen, fühlen sich erfüllt und glücklich. Nur Margot redet kein Wort, und ständig versucht sie, sich fast trotzig Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Die anderen Mädchen dagegen tuscheln aufgeregt, die beiden Jungs grinsen sich immer wieder an und boxen sich mit roten Ohren gegenseitig in die Seite. Margot beobachteten sie zwar immer wieder mal argwöhnisch und seltsam berührt, lassen sie aber weiterhin in Ruhe.
Plötzlich spüren sie, dass etwas anders ist. Sie alle starren im gleichen Moment zum Horizont. Dann blicken sie sich ratlos an. "Was ist das?", fragt eines der Mädchen, und die anderen schütteln den Kopf.
"Null Ahnung", sagt schließlich einer der Jungs. "Sagt mal, hört ihr das auch?" Keiner fragt nach, sie alle wissen, was er meint.
"Komisch", sagt ein anderer Junge, "eigentlich hör ich nichts, und trotzdem hör ich was." Dann setzt er sich wie in Trance mitten in die Wiese. Auch seine Kumpels und die Mädchen lassen sich ins Gras sinken. Nur Margot bleibt stehen und lächelt. Sie hat so lange darauf gewartet - und nun endlich ist es da.
Die Eltern zu Hause, das Abendessen, nichts ist mehr wichtig. Nur noch das, was da aus der Ferne unaufhaltsam auf sie zukommt. Einer seufzt, die anderen atmen tief ein und aus, und plötzlich tun sie etwas, das sie noch nie getan haben: Sie halten einander an den Händen und wissen, woher auch immer, dass alles gut so ist, wie es ist.
Auch Margot setzt sich auf einmal zu ihnen, nimmt mit jeder Hand die Hand eines anderen, ein verklärtes Lächeln um die Lippen. Und gemeinsam warten sie und wissen dennoch nicht, was sie da tun.
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Seit vielen Jahren arbeitet Peter Grenzinger bei der Kripo, und er macht es mit Begeisterung. Doch dieser Fall kostet ihn Herzblut, der geht ihm an die Nieren. Bislang hatte er noch nie mit dem Mord an einem Kind zu tun gehabt.
Heute früh hat er spontan beschlossen, den Tatort noch mal zu besuchen, obwohl er schon viele Male dort war. Vielleicht, so dachte er, kommt mir ja irgendeine Eingebung oder finde ich doch noch ein winziges Detail, das bislang übersehen wurde?
Immerhin hat er Glück, denn um diese Jahreszeit, Ende November, ist es sonst matschig und dreckig, und eventuelle Spuren könnten leicht verloren sein. Doch es ist trocken, ein herrliches Wetter, und weder Regen noch allgemeine Feuchtigkeit verwischen irgendwelche Spuren.
Während er nun also sehr langsam und aufmerksam den Ort untersucht, an dem das kleine Mädchen vorgestern gefunden wurde, fragt er sich, was ein Mann wohl davon hat, wenn er ein kleines Kind sexuell missbraucht? Selbst wenn er sich so weit wie möglich in den Täter zu versetzen versucht, wie es seine Pflicht ist, um ihm auf die Spur zu kommen, so bleibt dennoch eine Frage: Welche Befriedigung kann ein Kind denn einem Mann schon geben? Was hat so ein Kerl bloß davon?
Dass einer danach das Kind umbringt, hat ja irgendwie noch eine innere Logik. Er will eben nicht erwischt werden. Lässt er das Kind am Leben, könnte es ihn eines Tages verraten und identifizieren. Doch warum will einer überhaupt Sex mit einem kleinen Kind? Das ist doch nur krank und der Gipfel an Perversion!
Da merkt er, dass er vor lauter Gedanken an das Verbrechen und den damit aufkommenden Gefühlen schon wieder nicht bei der Sache ist. Verdammt! Er muss aufhören, an das Entsetzliche zu denken, das hier geschehen ist, und sich voll und ganz auf seine Arbeit konzentrieren.
Als er für einen Moment aufblickt, raubt ihm der Anblick den Atem. Erst jetzt fällt ihm auf, dass schon seit geraumer Zeit etwas Eigentümliches passiert: Es ist in den letzten Minuten viel zu still gewesen, obwohl die Geräusche der Stadt hier in diesem Park keineswegs verschwunden sind. Und was da am Horizont auf ihn zukommt, das ist ja nun wirklich der Hammer. Unglaublich, aber wahr!
Das ändert natürlich einiges, denkt er lapidar und setzt sich auf eine Bank in der Nähe des Tatortes. Und er wartet. Jetzt ist ja alles klar, geht es ihm durch den Kopf, nun weiß er für den Bruchteil einer Sekunde alles, was es jemals zu wissen gab, auch wenn es sofort wieder verfliegt. Und irgendwie ist jetzt wohl doch alles auf seine eigene Art richtig. Nein, nicht alles! Was hier an dieser Stelle geschehen ist, was diesem kleinen Mädchen angetan wurde, das ist niemals in Ordnung.
Trotzdem weiß er nun, dass es für ihn im Augenblick nichts mehr zu tun gibt. Es fügt sich alles so, wie es aus einer anderen Sicht wohl sein muss. "Also gut", murmelt er, "so ist das also."
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Oma Bolle backt wie in jedem Jahr schon im November Plätzchen für Weihnachten.
Das macht sie seit vielen Jahren so, obwohl sie genau weiß, dass niemals einer kommt und sich über all die Leckereien freut. Auch in diesem Jahr wird keiner an Weihnachten zu Besuch kommen. Doch sie kann es einfach nicht lassen und backt geradezu verzweifelt gegen etwas an. Als wolle sie etwas mit Gewalt erzwingen.
Wenn sie dann, meist ist es da schon Ostern, all die guten Kekse in den Müll wirft und sich dabei die eine oder andere Träne verkneifen muss, ist ihr trotzdem bewusst, dass sie auch für das nächste Fest wieder ihre leckeren Plätzchen backen wird. Und wieder wird sie damit bereits im November beginnen. So wie jetzt. Auch dann wird sie selbst nicht ein einziges dieser Plätzchen kosten.
Ihr Mann lebt schon lange nicht mehr. Niemals hat sie seinen Tod verwunden. Unendlich lange hat sie damals, nach dem schrecklichen Unfall, gehofft und gebangt, nächtelang an seinem Krankenbett gewacht und geweint. Doch er ist niemals aus dem Koma erwacht und ist einfach gegangen. Dabei ist er ein herzensguter Mensch gewesen und hat nicht die geringste Schuld an dem Unfall gehabt. Ein besoffener Autofahrer hat ihn damals mit weit überhöhter Geschwindigkeit auf dem Zebrastreifen erwischt.
Seitdem ist Oma Bolle, vorher eine allseits bekannte und beliebte "Institution" in der Nachbarschaft, ein anderer Mensch geworden: verbittert und knorrig, verschlossen und kauzig, voller Hass auf diesen Autofahrer, der dafür nicht mal ins Gefängnis kam, und bis zur Halskrause angefüllt mit Schmerz und zahllosen Fragen ohne Antwort. Und sie alle, ihre Kinder ebenso wie die Freunde, Nachbarn und Verwandten, haben sich mit der Zeit immer mehr zurückgezogen, konnten die Nähe dieser verbitterten Frau einfach nicht mehr ertragen. Und so lebt sie nun einsam mit einem von Leid, Schmerz und Hass zerfressenen Herzen.
Doch die Weihnachtsbäckerei, die muss sein, und wenn es das Letzte ist, was sie tut. Also wird sie wohl auch in diesem Jahr an Weihnachten wieder allein zu Hause sitzen und den riesigen Teller mit all den leckeren Keksen auf den Tisch stellen und warten und hoffen.
Gerade hat sie die kleinen Formen geholt, um damit die Kekse aus dem Teig auszustechen, da wirft sie seufzend einen Blick aus dem Fenster - und erstarrt.
Da ist es ja endlich! Und in der nächsten Sekunde fragt sie sich, woher dieser blitzartige und unbegreifliche Gedanke kommen mag. Was soll endlich da sein? Woher kennt sie das, was da so machtvoll auf sie zukommt? Sie weiß genau, was es ist, und sie hat trotzdem keine Ahnung, was es ist. Sie hört, nein, sie spürt nur eine gewaltige Stille, die mitten durch ihr Herz fegt. Dabei sind all die üblichen Geräusche keineswegs verschwunden. Weit öffnet sie das Küchenfenster, um alles herein zu lassen, was da draußen sein mag, und atmet tief die frische, kühle Luft ein.
"Oh, mein Gott", denkt sie, "ich werd wohl auf meine alten Tage verrückt". Und plötzlich muss sie schallend lachen. Sie wird zum ersten Mal seit langer Zeit keine Plätzchen mehr backen. Ein absurder Gedanke schießt ihr durch den Kopf, ein unsinniger, lächerlicher, verrückter und unglaublicher, aber so unendlich befreiender Gedanke: In diesem Jahr fällt Weihnachten dann ja wohl aus.
Sie legt die Schürze ab, lässt ansonsten alles einfach stehen und liegen, setzt sich an den Küchentisch, legt die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme - und lacht. Wann hat sie das letzte Mal gelacht? Ja, sie lacht Tränen, sie lacht so sehr, dass es ihren Körper schüttelt. Sie lacht über die Menschen und über die Welt, sie lacht über sich selbst. Sie lacht so laut und so heftig, dass ihr Herz sich dabei immer weiter öffnet. Die Stille erfüllt nun auch sie, und es ist so vieles, das ungestillt in ihr wartet.
Endlich kommt es, denkt Oma Bolle noch einmal, während sie lacht und lacht, endlich ist alles gut.
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