Paria
Paria© 2000 by Thomas R. Buntock
Mein Name ist Robert R. Trencks. Ich bin 34 Jahre alt und ein Mörder. Ich habe 434 Menschen „moralisch replaziert“ wie es bei uns im Büro hieß.
Missmutig betrete ich das unauffällige Gebäude im Süden des DKB- Metroplexes. Vor ca. 150 Jahren bestand der Metroplex aus den Städten Düsseldorf, Köln und Bonn. Aber im Laufe der Zeit wuchsen diese monströsen Städte immer mehr zusammen, so dass die Grenzen der einzelnen Städte verschwammen. Nach den Gen- Kriegen 2051 wurden die Städte strikt getrennt und nach den Sittenkriegen 2089 explodierten sowohl die Bevölkerung als auch der Drang, zu Sitte und Moral zurückzukehren. Die Städte wurden daraufhin zusammengelegt, weil ohnehin jeder die Orientierung verloren hatte. Das Ergebnis war ein Monster.
Nach dem Verfall der Sitten und des darauffolgenden Bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung wurde eigens ein Ministerium gegründet, das unabhängig von der Judikative des Staates Zentraleuropa exekutive Vollmachten besaß.
Das Ministerium für Moral und Sitte, kurz: MfMS wurde im DKB- Metroplex ansässig, weil dort ein relativ zentraler Punkt in Zentraleuropa zur Verfügung stand. In diesem unauffälligen Gebäude residierte also mein direkter Vorgesetzter, Dr. phil. Monteleone Cassinari. Ich sah ihn nur selten, und das war gut so. Jedesmal, wenn wir uns sahen, glich auch die einfachste Frage gleich einem hochnotpeinlichen Verhör. Man fühlte sich in höchstem Maße unbehaglich in seiner Gegenwart. Aber nichts desto trotz gab er hier die Anweisungen und war allein dem Senatsvorsitzenden des Staates Zentraleuropa unterstellt. Nun, ich lief ihm ja nicht jeden Tag unter die Augen und das war gut so, denn ich mochte ihn eigentlich nicht.
Ich betrat mein kleines, karges Büro im 26ten Stockwerk und schloss die Tür hinter mir. Ein Stuhl, ein überladener Schreibtisch und ein mittelgroßer Aktenschrank, dann ein kleiner Spiegel und eine Kommode, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, zierte das in grau gehaltene Büro. Auf dem Schreibtisch stand ein recht ordentlicher Computer, der an das zentrale Netzwerk angebunden war und ununterbrochen Daten sammelte.
Ich zog meine Jacke aus und hängte sie über den Stuhl. Ein kurzer, prüfender Blick in den Spiegel; alles klar, hager wie immer. Das Haar schon leicht schütter an den gewissen Stellen, kleine Augen und eine viel zu große Nase, wie ich meinte. Flugs wandte ich mich meiner Arbeit zu, weil allzu offensichtlich dargestellte Eitelkeit moralisch nicht opportun war. Und gerade ich als ausführende Instanz musste als Vorbild gelten. Ich wusste aus zuverlässiger Quelle, dass die neueste Generation Mikrominiaturkameras in jedem Büro angebracht war, sogar im Büro von Cassinari. Danach zu suchen war sinnlos, denn die Kamera bestand ausschließlich aus einem optronischen Energiefeld und war somit gänzlich unsichtbar. Man konnte in ganz seltenen Fällen das Auge sehen, und zwar wenn sich das Sonnenlicht durch das Fenster brach und direkt auf das komprimierte Energiefeld schien. Früher war das einfacher. Als es noch Menschen gab, die sich mit Nikotin bewusst vergifteten, die sogenannten Raucher (ich kenne sie nur aus Büchern und Infoclips).
Sie hatten sogenannten Tabak in feines Papier gerollt, zündeten ein Ende an und inhalierten den giftigen Qualm. Bei vollem Bewusstsein! Aber der ausgeatmete Rauch enthüllte das optronische Energiefeld, deswegen wurde diese Art Sucht nach den Sittenkriegen verboten. Meine Kollegen aus dieser Zeit hatten eine Menge Arbeit. Sie brauchten insgesamt 6 Jahre, um auch den letzten Raucher aufzuspüren und zu replazieren.
Ich sah auf den Monitor, klickte das Logfile an und sah, was der Rechner in der letzten Nacht alles gesammelt hatte. Insgesamt waren 26 moralisch anrüchige Worte in Emails aufgespürt worden, 3 Verstöße gegen das Sittliche Moralitäts- Statut und ein echtes Delikt, das der Verfolgung bedurfte. Innerlich freute ich mich ein wenig, denn das hieß Außendienst. Die 26 anrüchigen Worte waren altbekannt, ich regte mich nicht weiter darüber auf denn das kam jeden Tag vor. Doppeldeutigkeiten mit sexuellem Kontext. Die 3 Verstöße waren in hellblau hinterlegt. Ich klickte sie an und lud sie herunter, obwohl ich für die leichten Fälle eigentlich nicht zuständig war. Fall Eins zeigte eine Werbeseite mit eindeutig Menschenverachtendem Inhalt. Der Initiator dieser Kampagne würde mit ziemlicher Sicherheit vor Gericht landen, weil er in seiner Werbung ältere Menschen denunzierte. Skandalös! Wie können die behaupten, Alte Leute würden nicht Linienkonform sein, weil sie „die alten Zeiten“ noch kennen würden und demzufolge auf neue Produkte mit Ablehnung reagieren?? Wo doch jeder weiß, das mit Erscheinen einer neuen Werbung die alten Produkte aus den Regalen der Verteilercenter verschwanden? Infam, das ganze!
Fall Zwei zeigt eine verschlüsselte Email, in der eindeutig beschrieben wird, wie eine Frau ihre Nachbarin traktiert, in dem sie ihr kleine schmutzige Zettel unter die Tür schiebt und per Email ihrer Freundin davon erzählt. Dumm nur, dass sie sich wohl im Verschlüsselungs- Algorithmus vertan hat. Unser Netzwerk kennt sie alle. Das ist bekannt und irgendwie verstand ich nie, dass es immer noch Menschen gab, die es versuchten. Dumm... auch sie landet zumindest vor einem Anhörungsgremium. Dann wandte ich mich gespannt dem blinkenden roten Tag zu, der mich betraf.
Ein junger Mann hatte mit einer nichtlizensierten Spraydose: „Fickt Euch ALLE“ an die Wand eines Magnetbahnschachtes gesprüht! Mir wurde schlecht... da war es wieder, dieses Wort! Das F- Wort, wie wir es nannten. Wegen diesem Wort gab es 2089 den Sittenkrieg. Nicht zu fassen... meine Gedanken wurden wirr. Ich wusste, was das Wort beinhaltete. Nichtlizensierter Geschlechtsverkehr ohne schriftliches Einverständnis der Kirche und des Ministeriums für Familienplanung. Unglaublich.
Ich stand hastig auf und rannte durch die selbstöffnende Tür ins Bad. Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, weil ich eine hektische pulsierende Röte in meinen Wangen bemerkte. Nach der dritten Ladung kalten Wassers ging es mir ein wenig besser. Ich hasste meinen Job. Jeden verdammten Tag wurde man mit diesem Dreck bombardiert und konnte sich nicht dagegen wehren.
Ich ging zurück zum Büro und versuchte, mich zu sammeln. Dann sah ich mir das Bild an. Eine recht verschwommene Aufnahme eines ca. 30 jährigen Mannes in Jagdgrüner Jacke.
Ich startete das Bildbearbeitungsprogramm, lud das Bild und begann, das Gesicht herauszuzoomen. Dann Kanten glätten, schärfen und interpolieren. Heraus kam eine brauchbare Fotografie, die ich durch den Personenscanner laufen ließ. Das konnte ein wenig dauern und ich widmete mich den abgeschlossenen Fällen, um sie abzulegen.
Ein helles „Ping“ machte mich darauf aufmerksam, dass der Scan abgeschlossen war. Mal sehen...
Christian Kund, Kardinal- von- Röhmstrasse 2334... aha. Trefferwahrscheinlichkeit 84,2 %. Genug, um ihm einen Besuch abzustatten. Ich machte einen Fall daraus, in dem ich eine neue Akte anlegte. Dann informierte ich meinen Vorgesetzten und zog mich an; ging an den kleinen Schrank und legte eine Hand auf die Metallplatte, die in die Wand eingelassen war. Nachdem ein leises Schnarren erklungen war, nahm ich die Hand zurück. Die Metallplatte öffnete sich und ein Teleskoparm erschien, mit einer Retina- Abtasteinrichtung am Ende. Ich hielt ein Auge in Richtung Scanner und wartete. Die Abtasteinheit suchte mein Auge, scannte es und wartete auf die Authentifizierung.
„ Delta Alpha Drei Drei Null „ sagte ich laut. Wiederum ertönte ein leises Schnarren und links neben der Wand erlosch das Hologramm, das die Wand tarnte. Dahinter kam der Schrank mit der Waffe zum Vorschein. Da war sie... meine Waffe. Ein Sturm- Ruger Impulslader mit Lifesign- Signatur. Hass- Liebe. Das war es, was ich jedes Mal aufs neue empfand, wenn ich sie in Händen hielt. Einerseits spürte ich die enorme Macht, die sie ausstrahlte, andererseits die tödliche Kälte, die diese Waffe ausstrahlte. Da ich einer von 50 Fugatoren war, war ich berechtigt eine Waffe zu tragen. Und zu benutzen. Wir Fugatoren waren die einzigen Personen, die eine Waffe trugen. Das Militär war seit 23 Jahren weltweit abgeschafft, die Ordnungsinstanzen trugen nur Schockwaffen. Wir waren weltweit die einzigen, die tödliche Waffen trugen. Allein das machte uns zu etwas besonderem.
Langsam und bedächtig nahm ich die Waffe aus dem Halfter. Meine Fingerkuppen strichen beinahe zärtlich über das kühle Stahlplastik. Ich entnahm die Energiezelle und prüfte den Ladezustand. 92 %... mehr als ausreichend, um einen 30 jährigen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Ich entnahm dem Schrank noch die Zieleinrichtung und wartete, bis sich das Holofeld wieder aufgebaut hatte. Dann legte ich das Halfter an und begab mich zum Lift.
Im Zwölften Stockwerk betrat ich die Vergabestelle für Individual- Fahrzeuge, füllte den Anforderungsbogen aus und wartete. 3 Minuten später teilte mir die sympathische Computerstimme mit, dass ich das Fahrzeug auf Rampe 4 in Empfang nehmen könne. Ich begab mich in aller Ruhe zu Rampe 4 und öffnete den Hangar. Dort stand er... der Schweber. Stromlinienf örmig und Pfeilschnell, ein Relikt aus der Zeit, wo Verurteilte tatsächlich noch versucht hatten, zu entkommen. Das alles war mir egal... er war einfach nur schön. Meine Blicke tasteten die silbergraue Oberfläche des Schwebers ab... welche makellose Hülle. Er strahlte Kraft und Eleganz zugleich aus. Ich näherte mich dem Schweber, trat seitlich an ihn heran und ließ meine Hand über die kühle Oberfläche streichen. Wie unglaublich glatt sie war. Dann trat ich vor das Fahrzeug und legte meine Hand auf den Öffnungs- Sensor. Die Frontseite teilte sich mittig und ermöglichte mir so den Zugang. Ich trat in den Schweber, setzte mich auf das Sitzfeld aus komprimierter Energie und wartete, bis die Bio-
Elektronik mich abgetastet hatte. Nach nicht ganz einer Minute ertönte die Stimme des Schwebers:
"Hallo Robert... wohin fliegen wir?" Ich nannte die Adresse des "Kunden" und lehnte mich zurück, um den Flug zu genießen. Es war immer wieder faszinierend zu beobachten, mit welch traumwandlerischer Sicherheit das Fahrzeug sich durch die engen Strassen der Stadt schlängelte. Die Bio- Elektronik des Schwebers funktionierte einfach perfekt. Besser als es jemals ein Mensch könnte.
Ich geriet ins träumen... dachte nach... schweifte ab. Die vorbeifliegenden Häuserschluchten taten ein übriges, um mich die Realität vergessen zu lassen.
Ich musste in letzter Zeit immer wieder daran denken, als ich das erste mal die Unmenge an Infoclips sichten musste, in denen erklärt wurde, was das schöne an unserer Gesellschaftsform war. Die "neue" Form, wie unser Instruktor es nannte, verneinte alles amoralische, sittenwidrige und für die Allgemeinheit negative. Und merzte diese Dinge in aller Konsequenz aus. Eigentlich begann alles mit den Gen- Kriegen 2051, als die Genetik-Labors ein Wundermittel gegen Krebs entdeckten. In der Folge, und vom Erfolg ihres Mittels angestachelt, entwarfen sie ein Medikament gegen die Bovine Spongiforme Enzephalopathie, kurz BSE. Diese Krankheit entstand aus übermäßigem Bedarf an Fleisch, dass damals aus lebendigen Tieren gewonnen wurde. Mich schauderte bei dem Gedanken, dass die Barbaren damals Tiere töteten, um sie zu essen. Dummerweise war das Mittel, das sie designten, bei regelmäßigem Gebrauch noch tödlicher als BSE. Die Menschen starben wie die Fliegen, und als man den Grund lokalisieren konnte, waren allein in Zentraleuropa fast 2 Millionen Menschen tot. Ihnen waren einfach die Gehirne geplatzt. Als bekannt wurde, wer diese Katastrophe ausgelöst hatte, gingen die Menschen auf die Strasse. Sie wollten protestieren, sich erheben gegen den Hochmut und die Fahrlässigkeit der Gen- Labors, hatten aber nicht mit deren Macht gerechnet. Die Manager der Labors schickten ihre privaten Wachleute, um den Mob zu stoppen. Dieser Konflikt eskalierte und die damaligen Ordnungshüter schritten ein. Man nannte sie damals Polizei. Die wollte den Mob auseinander treiben, hatte aber nicht mit der Wut der Masse gerechnet. Es kam zu einer Straßenschlacht, die über 300 Leben kostete. In den anderen Ländern brachen daraufhin ebensolche Kämpfe aus. Das führte so weit, dass das Militär hinzugezogen wurde. Die damalige Republik Frankreich wurde als erste in den Ausnahmezustand versetzt. In kurzer Folge kamen die anderen Europäischen Länder hinzu, dann China, Russland und schließlich auch der gesamte Amerikanische Kontinent.
Als sich die Unruhen nach 4 Monaten legten, lag die halbe Welt in Schutt und Asche. Man zählte 6 Millionen Opfer der Auseinandersetzungen. Der Sachschaden ging in die Trilliarden. Es dauerte über 12 Jahre, um die überlebenden Gesellschaftsformen einigermaßen wieder mit Lebensmitteln versorgen zu können. Die Zahl der an Hunger gestorbenen betrug mehr als die in den Auseinandersetzungen ums Leben gekommenen. Genaue Zahlen sind bis heute nicht bekannt. Als Folge der krankenden Industrie und dem Misstrauen der Menschen gegen jede Form der Chemo- Industrie und in Labors hergestellten Lebensmittel lehnten die Menschen alles ab, was irgendwie künstlich erzeugt worden ist. Da die damals entstandene Gesellschaft aufgrund der parallelen Geschehnisse sich konform entwickelte und sich zudem relativ schnell wieder aus den Wirren des Chaos befreite, kam man zu einer Art "neuen Freiheit" wie Historiker es beschreiben. Die Menschen wurden freier, offener und experimentierfreudiger. All das führte zu einem rasanten Verfall der Sitten. Die Historiker reden noch heute von der "Sodom und Gomorrha"- Periode. 2089 eskalierte auch diese Periode der Menschheit, als die sogenannten Sittenwächter das Dekret der Moralität erließen. Diese hatte als erstes Dokument
weltweite Gültigkeit. Aber es schien damals, als würden die Menschen sich den Teufel um die neue Moralität scheren. Wieder gingen sie auf die Strasse und protestierten. Aber die Oberen waren vorbereitet und schlugen mit aller Härte zu. Wieder Tausende von Opfern, Millionenverluste an Sachschäden.
Aber die Menschen wollten sich nicht so ohne weiteres gängeln lassen. Also wurde auf jedem Kontinent ein Organ geschaffen, um diesem entsetzlichen Treiben Einhalt zu gebieten. Dieses Organ war mein Ministerium. Das allein reichte nicht aus, um den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, also wurde eine globale Exekutive geschaffen, die dem Dekret zur Durchsetzung
verhelfen sollte. Die Senatsmitglieder der jeweiligen Kontinente einigten sich in Monatelangem Disput und schufen die Fugatoren, die den amoralischen einen Riegel vorschieben sollten. Seit 2089 sind Dinge wie Sex, Drogen, Waffen, Promiskuität, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Fleisch und etliche Dinge mehr unter Androhung von Strafe verboten. Die damals allein in dem neugeschaffenen Zentraleuropa 6000 Fugatoren leisteten hervorragende Arbeit. Innerhalb kurzer Zeit wurden die amoralischen aus dem Verkehr gezogen und replaziert. Das heißt, sie bekamen die Chance, neu anzufangen. Ihr
gesamtes Leben neu aufzubauen und von vorn anzufangen, um diesmal alles richtig zu machen. Ja... sie konnten alles neu anfangen... im nächsten Leben... und die Fugatoren sorgten dafür, dass sie in die nächste Daseinsform kamen... Das ist heute meine Aufgabe. Das Ziel meiner Befreiungsaktion hatte ich unmittelbar vor Augen, als der Schweber landete. Ich schaltete die Systeme des Schwebers auf Stand by und stieg aus. Ging ein paar Schritte geradeaus und hörte hinter mir, wie die Bordelektronik das Schirmfeld aufbaute.
Ich sah mir diese monströse Stadt nur sehr ungern aus der Bodenperspektive an. Zuviel Dreck, zuviel Schatten, zuviel dunkle Ecken in denen das Elend lauerte. Das war die Schattenseite der unglaublich vielen Hochhäuser, die in den letzten 100 Jahren hier entstanden waren.
Aber all das interessierte mich wenig in diesem Moment und ich wandte mich in die Richtung, in der ich die Residenz des Verdächtigen vermutete. Denn Hausnummern und Namensschilder suchte man hier vergeblich. Vorsichtshalber zog ich die Interplex- Zielvorrichtung aus der Tasche und setzte sie auf. Sie sah aus, wie ein Stirnband mit einem kleinen Glasfenster vor dem rechten Auge. Im Inneren dieser Scheibe konnte ich allerdings wie auf einem Monitor alles sehen. Hausnummern, Infrarot- Signaturen, Persönliche Infos von den angezielten Menschen und ich konnte sogar durch dünne Wände sehen. Diese Zielvorrichtung in Verbindung mit meiner Signaturwaffe war ein mehr als tödliches Instrument, denn wenn ich eine bestimmte Person als Ziel eingegeben hatte, lenkte die Elektronik der Zielvorrichtung die vom Emitter der Waffe ausgesandte Ladung direkt ins Ziel. Auch wenn ich meterweit danebenzielen sollte, wurde ausschließlich die anvisierte Person getroffen. In völliger Übereinstimmung mit dem Moralitäts- Statut selbstverständlich.
Ich schaltete die Zielvorrichtung ein und bekam die ersten Informationen. Oh... zwei Häuser zu früh. Ich ging langsam weiter und betrat den Eingang eines sehr alten Hauses. Dann öffnete ich die Tür und rümpfte die Nase. Was für ein furchtbarer Gestank hier herrschte! Eine Mischung aus orientalischen Gewürzen und verbranntem Fleisch, schrecklich. Ich versuchte, flach zu atmen, um diesen Gestank nicht zu tief in meine Lungen dringen zu lassen, was mir aber nicht sonderlich gut gelang. Da musste ich durch, ob ich wollte oder nicht. Das war einer der Nachteile, wenn man im Außendienst ist. Ich ging direkt nach vorn zum vorsintflutlichen Lift und musste den Kopf schütteln. Die modernen Aufzüge bestanden aus mehrpoligen Prallfeldern und ich musste mich überwinden, mich dieser altertümlichen Technik aus mechanischen Komponenten anzuvertrauen. Christian Kund "residierte" im achten Stock und ich beschloss, die Treppen zu nehmen. Der Aufzug war mir doch zu suspekt.
Ich betrat das Treppenhaus. In den Ecken lag jede Menge Müll, der erbärmlich stank. Fassungslos hastete ich die Stufen hinauf, musste aber feststellen, dass ich dem Gestank nicht entrinnen konnte. Es war fast, als ob jemand diesen Dreck sorgsam im ganzen Haus verteilt hätte. Nach endlosen Minuten erreichte ich endlich den achten Stock. Ein Blick in mein Display... nach rechts in den Korridor. Vierter Eingang auf der linken Seite.
Dann stand ich endlich vor dem "Domizil" des Christian Kund, dem Mann mit der illegalen Spraydose. Ich schaltete die Zielvorrichtung auf IR- Scan und versuchte, ein Infrarot- Bild aus der Wohnzelle zu empfangen. Im Display erschien alles in rötlichen Farben, nur die Wärmequellen erschienen grün. Je wärmer die Quelle, desto intensiver das grün der Abbildung. Ich schwenkte den Kopf, um die gesamte Wohnzelle zu erfassen. Ja... er war zu Hause. Ein grünlich irisierender Körper schien in entspannter Haltung auf einem Bett zu liegen. Na ja... auch eine Methode, um 11:35 Uhr vormittags den Tag zu beginnen... schlafen.
Vorsichtig nahm ich meinen Phasenkoordinator in die Hand und öffnete geräuschlos die Tür. Dann schlich ich in die Wohnzelle und sah mich um. Der Korridor war seltsamerweise weder dreckig noch unaufgeräumt. Ganz im Gegensatz zum Rest des Hauses. Dann näherte ich mich dem Schlafraum... langsam und auf Zehenspitzen, um nur ja kein Geräusch zu verursachen. Das Schlafzimmer war, ebenso wie der Rest der Wohnzelle überaus sauber und aufgeräumt. Diese Diskrepanz zwischen der Wohnung und dem überaus dreckigen Haus verwirrte mich einen Moment, aber dann dachte ich an meinen Auftrag. Ich trat neben das Bett und schaltete das Zielgerät aus. Dann klappte ich das Visier hoch, damit ich beide Augen frei hatte, um Christian in die Augen sehen zu können, wenn er aufwachte, und mich sah.
Ich setzte mich vorsichtig auf den Bettrand und wartete. Im Dunkel des Schlafzimmers waren die Umrisse des Körpers mehr zu erahnen, denn ernsthaft zu erkennen. Da.. jetzt rührte sich etwas. Der Körper bewegte sich räkelnd... schlaftrunken schien Christian sich erheben zu wollen. "Du ahnungsloser Engel, Du" dachte ich bei mir, als die Person sich erheben wollte. Als er schon halb oben war, knallte ich ihm meine Hand auf die Brust und drückte ihn
unbarmherzig zurück in seine Laken.
"Licht!" rief ich laut und augenblicklich wurde das Schlafzimmer von diffusem Licht erhellt. Dann sah ich Christian das erste Mal von Angesicht zu Angesicht. Mein Mund klappte wahrscheinlich bis zu den Kniekehlen, als ich feststellen musste, dass es sich hier wohl um eine Christiane handelte...