Neuland Fortsetzung die Sechste
Ihr aufmerksamer Blick tastet sich über die gewölbten Buchdeckel. In Reih und Glied stehen die Bewahrer unzähliger Gedanken vor ihr, stramm wie Soldaten. So unterschiedlich ihre Uniform auch ist, sie sind ein Heer, die Kampftruppe der Intellektuellen. Carla liebt diese Ordnung, sie braucht diese Übersichtlichkeit. Carla ertappt sich des Öfteren dabei das ihre Handfläche prüfend über Buchreihen gleitet, jede Unregelmäßigkeit wird sofort geahndet, sofort ins Glied zurück geschoben oder nach Vorne gezogen. Wie ein Feldwebel achtet sie auf Disziplin in der literarischen Truppe. Sie weiß, Markus beobachtet sie manchmal dabei und schüttelt im Stillen grinsend seinen Kopf.
Seine Ordnung sieht anders aus. Er will Bücher nach Themen geordnet wissen. Belletristik hat nichts neben Kunstbildbänden verloren usw. Ob die Bücher dann liegen oder stehen scheint ihm egal zu sein. Hauptsache er findet den gesuchten Titel rasch. Da es in ihrer gemeinsamen Bibliothek sehr viele Interessensüberschneidungen gibt, stehen sie oft ratlos suchend vor dieser vermischten Ordnung.
Da Carla nicht zielgerichtet nach einem Buch sucht, sondern sich inspirierend vorwärts tastet, bleibt ihr Blick zufällig auf dem Rücken eines Taschenbuches hängen. Sie legt ihren Kopf mit dieser typischen Geste zur Seite, die jedem eifrigen Bibliotheksbesucher vertraut ist.
„Paglia: Die Masken der Sexualität“
Auf Zehenspitzen balancierend zieht sie es aus der Reihe. Das Buch wiegt schwer in ihren Händen. Sicher an die achthundert Seiten schwer. Ein richtiger Schinken, wie man in Österreich zu sagen pflegt. Das Buch ist Carla nicht unbekannt, sie hat schon öfters darin gelesen, aber beileibe nicht ausgelesen. Dazu fehlt ihr einfach die Zeit, aber auch die Geduld, sich über gewisse Passagen darüber zu kämpfen. Da es eigentlich ein Sachbuch ist, gibt es Bereiche darin, die vor Fremdwörtern und Fachbegriffen nur so strotzen. Viel an Nachschlag-Arbeit ist von Nöten.
Im Grund gehört dieses Buch ja Markus. Er hat es von seiner besten Freundin geschenkt bekommen. Elisabeth, selbst Schriftstellerin, wusste um das Interesse von Markus, um die Verschlingungen von Sexualität, Erotik, den Krieg der Geschlechter.
Dieses inhaltsschwere Werk begleitet Markus und Carla schon etliche Jahre. Vor allem Markus. Er beschäftigt sich immer wieder mit dieser Thematik. Sexualität in all seinen Fassetten war und ist eines seiner Hauptthemen, die er als Maler und Fotograf zu durchleuchten versucht.
Seine umfangreiche Gemäldeausstellung mit dem Arbeitstitel: „Maskierung und Entblößung“ legt beeindruckend Zeugnis ab über sein Suchen und Aufzeigen zum Thema Sexus. Da die meisten dieser Arbeiten großformatige Fotoübermalungen sind, hat er Carla mitgenommen auf diesem Weg. Carla ist seine Muse, seine Inspiration, seine Weggefährtin. Unzählige Stunden haben sie gemeinsam an dieser Ausstellung gearbeitet. Carla meist in der Rolle der Agierenden vor der Kamera. Um dieser Rolle aber gerecht zu werden musste Carla sehr oft Neuland betreten. Es genügt Markus und ihr auch nicht, bloß zu posieren, vor der Kamera. Markus will gelebte Situationen und Gefühle darstellen. Die Wahrhaftigkeit des gelebten zeigen. Trotz Carlas ausgeprägter Neigung zum Exhibitionismus, stieß und stoßt sie noch heute an ihre Grenzen, immer wieder aufs Neue gilt es diese Grenzen zu überschreiten und zu erweitern. Sie will es und Markus will es. Viel Mauern des Unverständnisses, auch aus dem engsten Freundeskreis, gilt es niederzureißen. Nicht aufgeben im Ringen um persönliche Freiheit.
Wenn ich mir nur die Kapitelübersicht des Buches ansehe, denkt sich Carla, wird mir wieder bewusst, wie faszinierend dieses Buch und die damit verbundene Selbsterfahrung ist.
Auszug aus dem Kapitelverzeichnis:
Sexualität und Gewalt - oder: Natur und Kunst
Apollon und Dionysos
Heidnische Schönheit
Wiederkehr der großen Mutter
Amazonen, Mütter, Geister - Von Goethe zum Schauerroman
Sexus: gefesselt und entfesselt - Blake
Der Dämon als Vampir-Frau - Coleridge
Kult um Sexus und Schönheit - Balzac
Der schöne Knabe als Zerstörer - >Das Bildnis des Dorian Gray
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Carla muss sich eingestehen, dass nur der Anflug des Erinnerns reicht, um ein gewisses Herzflattern bei ihr hervorzurufen.
Bilder steigen auf.
Die Silhouette einer Frauengestalt. Diagonal von links oben ragt sie in den erdschweren dunklen Raum. Nasser schwarzer Leinenstoff verhüllt nur notdürftig den Leib. Ein Torso, entstiegen den Untiefen des Urschlamms. Die Falten des Gewebes erinnern an das Gewürm, dass im Untergrund sich windet.Verlockung und Grauen zugleich. Geburt und Tod. Die Endlose Wiederkehr der Großen Mutter. Eine gewaltige Woge des Chthonischen springt einen an. Auf den ersten Blick wirkt dieses Bild der Romantik verhaftet, wie eine Arbeit so um 1830. Bei längerem und intensiverem Einlassen tritt immer mehr das Dionysische in den Vordergrund, die das Ineins sein von Lust und Schmerz bedeutet.
Elisabeth, die Schriftstellerin sagt in einem Vorwort des Kataloges zu einer Ausstellung folgendes über Markus: Er ist als Maler für mich ein astreinerSymbolist. Immer und überall finden sich Codes, Botschaften, Aussagen versteckt, und zwar auf eine Weise versteckt, dass sie rational eigentlich nicht entschlüsselt werden können. Nur das Irrationale, nur das Gefühl gilt für den Symbolisten. Carla empfindet dies etwas diferenzierter. Marcus schwört auf die Gesamtheit von Körper, Geist und Seele. Nicht so wie Rousseau und Wordsworth, die die Natur als gütige Mutter feiern, die so betrachtet ein gefährlicher Gast ist. Er sieht, empfindet, dass die Unterordnung unter die Natur Kreuzigung und Zerstückelung bedeutet. Eins sein mit der Natur dem Universum, bedeutet für Markus, mit ihnen kämpferisch zu treiben. Sich hingeben der in uns wohnenden Schöpferkraft. Was für ihn auch bedeutet manchmal gegen den Strom zu schwimmen.
Beide, Carla und Markus sehen die Sexualität nicht nur als etwas Lustvolles, nein Schmerz und Lust vereint, sowohl im Körperlichen wie auch im Seelischen, bewirken oder sind die Ekstase.
Fortsetzung folgt
lg michael