November
Ich bin von der Kopfkino-Gruppe hierher verwiesen worden, weil meine Geschichte zu wenig Kopfkino hat. Nun, urteilt selbstIch gehe Durch die Stadt und halte die Augen offen. Sehe nicht nur die Reklame und das Licht der Schaufenster. Schaue genauer hin.
Da, scharf außerhalb des Lichtkegels sitzt eine Frau auf einer Bank. Es ist November, es ist neblig und kalt. Diese Art Kälte, die Dir das Leben entzieht wie ein Vampir.
Die Frau ist nicht mehr ganz jung. Das Leben, der November und das Warten haben Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen. Diese Frau ist auf diese Entfernung nicht wirklich schön und ganz zu schweigen von interessant. Die Leute gehen achtlos vorüber. Die Leute gehen achtlos an anderen Leuten vorüber und keiner hat ein Gesicht. Die Stadt im November. Die Geschäfte verbreiten hektische Weihnachtsfröhligkeit, das Fest der Liebe wirft einen langen schweren Schatten in den November.
Ich stehe jetzt nur noch ein paar Meter entfernt hinter der Bank und der Frau. Die auf die Uhr schaut, schon wieder. Ihr Blick tastet den Weg der Passanten vor sich ab. Ich sehe ihre Schultern unter dem dunkelgrauen Mantel etwas nach vorn sacken. So rinnt Hoffnung aus einer Frau. Sie schlingt kurz ihre Arme um sich und ich spüre förmlich ihr Frösteln, das von innen kommt und diese böse Kälte von außen trifft. Seit wann mag sie schon hier sitzen und warten? Zu lange.
Ich setze mich zu ihr. Auf die Bank daneben. In unserem Land setzt man sich nicht auf die gleiche Bank neben einen Fremden. In unseren Bahnen sieht man allenthalben alle Abteile belegt, mit jeweils zwei Leuten. Der Rest steht. Außer im Berufsverkehr.
Sie hat blondes Haar, wirklich blondes Haar, nicht, weil sie es sich wert ist. Sie ist blass und ihr Mund ist nur um Nuancen dunkler, dabei hat er diesen schönen Schwung, wenn man genau hinsieht. Leider kerbt etwas zwei dunkle Linien von den Nasenflügeln zum Kinn hinab und die Mundwinkel liebäugeln mit dieser Richtung. Wie mag dieser Mund ausschauen, wenn er lächelt, gar lacht?
Ihre Augen liegen im Schatten und ich sehe nur das Schimmern angelaufenen Silbers. Dabei sind ihre Brauen dicht und haben noch nie eine Pinzette gesehen, auch wenn sie über der Nasenwurzel fast zusammenstoßen. Zwei klassische Bögen, unverstellt.
Sie schaut wieder auf die Uhr, wendet mit einem Seufzer den Kopf in meine Richtung. Sie schaut durch mich hindurch und ich erkenne endlich den Grund, warum ich hier sitze und fasziniert genug bin, um nicht zu merken, dass ich friere: Ihre Augen. Ich kann nicht sagen, welche Farbe, ich kann nur sagen: ich sehe diese lebendige Traurigkeit, ich sehe sehr viel Kraft und auch Verzagtheit. Der Moment vergeht. Sie hat mein Lächeln nicht bemerkt.
Sie steht auf, unschlüssig. Ihre Haltung erzählt die Geschichte von Hoffnung und Enttäuschung, Wut und Resignation. Sie tritt mit ihren kleinen Stiefeln das Mosaikpflaster, rammt ihre Hände in die Manteltaschen. Kommt auf mich zu. Nicht direkt, nur so ungefähr. Sie hat ihren Atem vor dem Gesicht, ein kleines weißes Wölkchen, wie ein Stück Seele, die keinen Platz mehr findet. Dann bleibt sie zwei Schritte vor mir stehen, dreht sich um; ihre Augen wandern ruhelos von einem Passanten zum nächsten.
„Vielleicht ist was dazwischen gekommen“, sage ich - aus einer Laune heraus? Sie wendet mir den Kopf zu, taxiert mich mit kaltem etwas verärgertem Blick.
„Reden Sie mit mir?“
„Ich meine ja nur. Vielleicht ist mal wieder eine Bahn ausgefallen und er sitzt irgendwo fest.“
„Wovon reden Sie eigentlich? Lassen Sie mich in Ruhe!“ Sie wendet sich ab. Dann, einer Eingebung folgend, fährt sie mich an:
„Was sind Sie, ein blöder Spanner, der andere Leute belauscht?“
„Auf jeden Fall nicht der, der sie hier versetzt hat. Sie müssen nicht gleich ausfallend werden.“
Ich steh auf, wende mich zum Gehen.
„Blöde Kuh“, entschlüpft es mir.
„Das habe ich gehört!“, ruft sie mir empört nach. Ich drehe mich im Gehen zu ihr um.
„Na und? Ich wollte nur freundlich sein und Sie…“
Dann kriege ich einen derben Schlag ins Kreuz und schlage lang hin. Das Pflaster rast auf mich zu und zerstiebt in einem grellen Blitz.
„Pass doch uff, du Idiot!“
Weg ist er, der Radfahrer. Füße trappeln auf dem feuchten Stein. Ich rappele mich auf. Etwas läuft mir von der rechten Augenbraue ins Auge: Blut.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt eine Frauenstimme erschrocken und mit dem linken Auge sehe ich das entsetzte Gesicht der Frau mit dem zum O geformten Mund.
„Wonach sieht es aus?“, erkundige ich mich und setze mich auf. In meinem Hinterkopf höre ich noch eine verstimmte Version der Freiheitsglocke.
Sie reicht mir ein Zellstofftaschentuch und ich drücke es gegen die Platzwunde über der Braue. Ich wäre gern etwas mannhafter, aber mir ist schwindelig und es tut weh. Ich mache eine Grimasse.
Sie hat ein Handy in der Hand.
„Ich rufe die Feuerwehr“, sagt sie. Ich schüttele den Kopf. Die frische schwere Novemberluft klärt meine Sinne. Ich stehe wieder und eigentlich auch ganz sicher.
„Rufen Sie lieber diesen Typen an, der Sie hier warten lässt!“, entfährt es mir ärgerlich. Ich lasse mich auf die Bank fallen, auf der sie eben noch gesessen hat.
„Geht nicht!“, entgegnet sie wütend und reißt temperamentvoll die Arme hoch.
„Mailbox. Schon die ganze Zeit.“ Das klingt nur noch traurig.
„Es tut mir leid“, sage ich. Das vollgeblutete Taschentuch fliegt in Richtung Papierkorb, prallt vom Rand ab und rollt davon. Könner! Ich fange das Stück Zellstoff ein und befördere es in den Müll.
„Wieso? Sie können ja nix dafür!“, sagt sie.
„Die blöde Kuh“, sage ich mit einem schiefen Grinsen.
„Ach so. Ja, schon vergessen. Mir tut es auch leid. Das da ...“, sie deutet auf die Blessur auf meiner Stirn.
„Radfahrer …“ sage ich, verdrehe kurz die Augen. Das tut weh. Mir ist plötzlich kalt.
„Wollen wir nicht irgendwo hingehen, wo es warm ist?“
Ich erhebe mich und deute in Richtung der lichtüberfluteten Menschenmenge vor der Passage. Das kommt sehr spontan und ohne irgendwelche Hintergedanken. Sie zögert, wirkt irritiert.
„Na das ist doch Schwachsinn, hier in der Kälte zu hocken und zu warten. Sie haben ein Handy, er hat auch eins und wenn er es einschaltet, wird er Sie auch finden! Kommen Sie! Auf den Schreck haben wir uns einen Kaffee verdient!“
Ich laufe los. Drei oder vier Schritte später hat sie mich eingeholt.
„Conny“, sage ich und halte ihr meine Rechte hin. Sie versteht erst beim zweiten Zufassen.
„Corinna.“ Sie fasst kurz meine Hand an. Naja.
Wir tauchen in die Menschenmenge ein, die wie ein Gezeitenstrom durch die Glastüren des Centers hinein und hinaus strömt. Lachen, Kinderweinen, Gesprächsfetzen, eine Ansage aus dem Center, die Welt fällt etwas über uns her.
Rolltreppen; eine Siebzehnjährige im Outfit einer Bordsteinschwalbe mit einem iPhone am Ohr spricht ungerührt in diesem schrecklichen Gassenjargon mit einer Freundin über eine andere Freundin. Bis wir oben sind, ist diese zur „beschissenen Tussi“ herabgestuft worden, was vermuten lässt, dass es heute Abend in einer Community noch heftig zur Sache gehen wird.
Wir flüchten an einen kleinen Tisch in einem Café. Zwei Kännchen Kaffee, nein, ich brauche keinen Arzt, nur diesen Kaffee. Sie hat ihren Mantel über die Stuhllehne gelegt, dieses tuffige Schalgebirge vor ihrem Busen allerdings nicht. Sie trägt einen bordeauxroten Pullover mit halblangen Ärmeln und ich kann nur ahnen, dass dieser einen etwas weiteren runden Ausschnitt hat. Beim Hinsetzen registriere ich ein kleines Bäuchlein, das die schwarze Hose ausfüllt und schelte mich, meine Augen bei mir zu behalten. Sie kramt in ihrer mausgrauen Handtasche. Frauenhandtaschen sind Mysterien. Sie bergen jede Menge nützlicher Schätze, die mit Langmut darauf warten, zur genau richtigen Gelegenheit ans Licht gebracht zu werden: Kugelschreiber, Eukalyptusbonbons, Pflaster.
Sie lächelt ein wenig verlegen und dann sehe ich endlich, was mit diesem Gesicht geschieht: es beginnt ein wenig zu leuchten, um die Augen und den Mund.
„Besser als nichts, oder?“
Ich nehme das Pflaster und finde den Grund für ihr Lächeln: Benjamin Blümchen. In mir steigt ein Lachen hoch. Ich reiche das Pflaster zurück.
„Wären Sie so freundlich?“ Sie ist es. Ich rieche ihr Parfüm und ein wenig Traurigkeit.
Wir trinken Kaffee. Ich sehe den Passanten hinterher. Im Hintergrund läuft auf einem Flachbildfernseher ein Fußballspiel ohne Ton.
„Wie lange sind Sie schon in der Stadt?“, will ich dann wissen. Das Schweigen wird ein wenig lästig.
„Wieso? Ich meine …“
„Sie sprechen nicht wie die Leute hier.“
„Wie sprechen die denn?“
„Manche meinen ja, es wäre ein Dialekt, aber das glaube ich nicht. Es ist so eine Art von sprachlicher Nachlässigkeit. Schnoddrigkeit als Ausdrucksform sozusagen.“
„Aha.“
Was für ein Stuss!
„Und wie spreche ich?“
„Als kämen Sie aus Niedersachsen“, klopfe ich auf den Busch. Ich kenne außer Exkanzler Schröder und Lena niemanden aus Niedersachsen.
„Ich bin aus Chemnitz. Tut mir leid.“ Da ist wieder dieses kleine Amüsement um ihre Augen.
„Wenn also jemand Erfahrung mit sprachlicher Nachlässigkeit hat, dann wohl ich. Mir Sachsen lassen doch angeblich nur laufen.“
Den letzten Satz sagt sie in unverkennbarem Sächsisch, das man mit der Muttermilch aufsaugen muss. Alles andere ist nur antrainiert.
„Sind Sie beim Radio, Fernsehen oder beim Theater?“
„Ganz langweiliger Bürojob im Bezirksamt“, erklärt sie kopfschüttelnd.
Das Gespräch plätschert dahin, gerät ins Stocken. Sie schaut wieder auf die Uhr.
„Ich fürchte, er kommt nicht mehr. Tut mir leid.“
Sie wendet den Kopf weg und doch sehe ich, wie sie mit den Tränen kämpft. Ich reiche ihr nun meinerseits ein Taschentuch. Sie tupft sich die Augenwinkel, aber es hilft nichts. Eine Träne zieht ihre Bahn über die linke Wange. Sie schnäuzt sich. Das Lächeln ist ein Zwitter aus Trotz und Trauer.
„Er hatte es fest versprochen, wissen Sie“, beginnt sie mit dieser kehligen, tränenschwangeren Stimme. Sie schaut auf ihre Finger, die nervös das Taschentuch zerfasern.
„Ach, was erzähl ich ihnen das alles? Was gehe ich Ihnen mit meinen lächerlichen Sorgen auf die Nerven!“, fährt sie auf. Eine weitere Träne ist auf dem Weg in ihre halb volle Kaffeetasse. Ich reiche ihr stumm ein weiteres Taschentuch. Schweigen.
„Wir haben uns vor acht Jahren auf Mallorca kennen gelernt. Naja, Sie wissen schon.“ Ich weiß nicht, aber das sage ich nicht. Ich kenne Mallorca nicht.
„Ich hatte gerade das Studium hinter mir und ein tolles Jobangebot in einer guten Kanzlei in Chemnitz. Nach dem Urlaub sollte ich anfangen.“
Man sagt in solchen Fällen gern einmal: eine banale alltägliche Geschichte. Man sagt auch: Der See ist im Schnitt nur einen halben Meter tief. Trotzdem ist die Kuh ertrunken.
Der Typ ist so ein aufstrebender Managertyp, erfolgreich, ausnahmsweise mit guten Manieren. Er hat eine Agentur in Berlin. Ist von Düsseldorf dorthin übergesiedelt. Wegen der connection.
Sie verlebt mit ihm zwei Wochen wie im Rausch und als sie ins Flugzeug nach Deutschland steigt, hat er ihre Zusage, mit ihm nach Berlin zu kommen. Sie sagt der Kanzlei ab, kündigt ihre Wohnung, fährt mit Schmetterlingen im Bauch in ihren fünf Jahre alten Golf in die Hauptstadt.
Er hat ihr ein kleines Apartment im Friedrichshain besorgt. Er hat ihr versprochen, sie in seine Firma zu holen. Stattdessen vermittelt er sie an einen windigen Anwalt in Neukölln, der ihr beim Vorstellungsgespräch eindeutige Angebote macht, was die Zusammenarbeit in der Kanzlei betrifft. Das Ganze endet in einem Eklat und ihr Gönner ist nicht amüsiert. Es sollen Sätze wie „Ich wusste nicht, dass Du so prüde bist…“ gefallen sein. Dann ist er für drei Monate in Übersee und ihr fällt die Decke ihres „goldenen Käfigs“ auf den Kopf. Sie findet das Jobangebot vom Bezirksamt und wird genommen.
„Als er aus den Staaten zurück war, wollte er so tun, als wäre nichts gewesen. Er kam zu mir, brachte Blumen und Champagner mit und vögelte sich das Hirn raus, als gäb’s kein Morgen.“ Oh, das klingt so bitter! Ich bin ganz still geworden. Seit Jahren habe ich nicht mehr das Gefühl gehabt, unbedingt eine rauchen zu müssen.
„Das ging zwei Jahre so. Und dann, von einem Tag auf den anderen Funkstille, nichts mehr.“
Ich hasse mich, dass ich in solchen Sachen immer Recht haben muss.
„Eines Tages bekomme ich Post von einer Anwaltskanzlei, die mir mitteilt, dass ich die Wohnung zu räumen hätte, weil diese als Bestandteil der Insolvenzmasse veräußert werden müsste.“
Die Wahrheit kommt scheibchenweise aber für Corinna wie die Wellen eines Tsunami über sie.
Konkursbetrug, Steuerhinterziehung, Unterhaltsschulden für seine Frau und seine zwei Kinder in sechsstelliger Höhe. Die Brühe eines schmutzigen fremden Lebens schwappt hoch und beschmutzt die Illusion von Liebe und Erfolg.
„Drei Jahre später steht auf einmal dieser Kerl wieder vor meiner Tür. Er bringt Blumen mit – nicht von der Tanke aber aus dem Supermarkt –, Sekt – kein Faber aber auch kein Brut – erklärt ihr wortreich, es tue ihm unendlich leid, was passiert wäre, bla bla bla. Der Versuch, sich das Hirn raus zu vögeln, scheitert glorios und sie schmeißt ihn in selber Nacht aus ihrer Wohnung. Aber er lässt nicht locker. Das amüsiert sie anfangs, später nötigt es ihr Achtung ab, schließlich bekommt sie etwas Angst. Und er kommt ans Ziel. Sie lässt ihn in ihr Leben zurück und in ihr Bett. In der ersten Nacht liegt er in ihren Armen und weint bitterlich, kotzt ihr seine drei Jahre Knast auf den Bettvorleger.
Ein Ausrutscher. Passiert nie wieder. Er ist so einer, der immer wieder auf die Füße fällt. Neues Spiel, neues Glück. Die Autos, in denen er sie abholt nach der Arbeit, sind bald nicht mehr alt und schon bald geleast auf eine Firma mit Sitz in London. Er residiert in einer geräumigen Vierzimmerwohnung über der Stadt mit Blick auf den Spreebogen. Sie ist selten dort. Zu kalt, zu ungemütlich.
„Dann kommt er, diesmal mit einem Arm voller dunkelroter Rosen, Moët & Chandon. Sagt, er habe ein Angebot aus Madrid, das er nicht ausschlagen könne. Ich sollte ihn doch begleiten. Madrid! Ich müsste mich schnell entscheiden. Ich bin geblieben.“ Ihre Tränen rollen jetzt ungehindert und sie wischt sich die Nase mit dem Handrücken. Ich habe unseren Kaffee gegen „Absolut“-Wodka eintauschen lassen. Sie hat am ersten noch genippt. Die anderen beiden ging auf ex. Ich bin vorsichtiger.
„Zuerst war alles ganz ok. Er kam alle zwei Wochen herüber und wir macht die Wochenenden zu Orgien aus Schampus und Sex.“ Ein bitteres Lächeln vertieft die harten Linien in ihrem Gesicht.
„Er war begeistert von Madrid, von seinem neuen Job, von der Firma und überhaupt von sich selbst. Ich war halt die Büromaus aus dem Bezirksamt. Ich habe oft genug überlegt, ob ich sein Angebot nicht annehmen sollte und raus aus dem Mief, dem Alltag. Er hat es aber nie wiederholt.“ Sie seufzt und dreht das leere Wodkaglas in ihren Fingern. Die verweinten Augen sind geschwollen und das Gesicht sieht müde und irgendwie unscharf aus.
Das Ende vom Lied ist schnell erzählt: Er kam immer unregelmäßiger, war oft mürrisch und abwesend, unaufmerksam und grob zu ihr. Die Finanzkrise hatte nicht nur Madrid sondern auch seine Firma erreicht. Außerdem drohte seine Frau, eine sehr wohlhabende und einflussreiche Blondine aus dem Londoner Finanzbezirk mit Scheidung. Nach dem Ehevertrag wäre er dann pleite.
Sie hat ein paar Gläser zu viel Rotwein intus und beginnt ihn zu verhöhnen, schleudert ihm aufgebracht und mit unsicherer Stimme ihren Frust entgegen. Der Streit droht zu eskalieren. Sie wirft ihn raus.“
„Das war vor elf Monaten. Vorgestern rief er aus Mühlheim an der Ruhr an. Er würde sich gern mit mir treffen. Er habe so viel wieder gut zu machen. Ob er kommen könne.“ Der Kellner stellt den Kaffee vor sie hin.
„‘OK‘, sage ich, ‘aber nicht bei mir‘. Wir treffen uns vor dem Center. Ich sitze auf der Bank bei den Fahrradständern‘. Wo Du, wo Sie mich gesehen haben. Er hat versprochen, dass er kommt.“ Ein Mops kam in die Küche.
Jetzt schaue ich auf die Uhr. Auf sky spielen sie immer noch Fußball. Immer noch ohne Ton. Es ist etwas ruhiger geworden ringsum. Die Menschenströme werden zu Bächen.
„Ich langweile Sie, oder?“
„Sehe ich gelangweilt aus?“
„Ich sollte jetzt lieber nach Hause gehen.“
„Ist es weit? Ich kann Ihnen ein Taxi rufen.“
„Sehe ich so aus, als könnte ich mir ein Taxi leisten?“ Sie klingt etwas auf Krawall gebürstet.
Ich regle zwischen durch das mit dem Kellner und dann stehen wir auf der Straße. Sie ist etwas kleiner als ich und sieht zu mir hoch.
„Tut’s noch weh?“ fragt sie und deutet auf meine Stirn mit Benjamin Blümchen. Ich schüttle nur den Kopf.
„Hab‘ dich zugetextet, was?“
Ich schüttle noch einmal den Kopf. Ich stehe da, habe die Hände in den Taschen meiner Lederjacke und sehe ihr in die Augen.
„Hat‘s Dir die Sprache verschlagen?“
Ich schüttle nicht den Kopf.
„Taxi oder Bahn?“ will ich stattdessen wissen.
„Geht die Frage nicht anders? Zu mir oder zu Dir?“ fragt sie und das klingt kokett und gar nicht nach drei doppelten „Absolut“.
„Du hast die Wahl.“
„Taxi.“ Sie grinst.
Wir sitzen im Fond, zwischen uns ein leerer Sitz und eine Bucht voller Fremdheit. Schweigen. Ich überlege, was ich hier eigentlich mache. Darf man so etwas tun? Die emotionale Ausnahmesituation einer Frau ausnutzen? Ach, komm tue doch nicht so scheinheilig! Sie gefällt Dir und Du fühlst diesen Beschützerinstinkt, der eigentlich das Feigenblatt für ganz etwas anderes ist.
Es ist nicht weit bis zu ihrer Wohnung. Ich gebe dem Fahrer ein gutes Trinkgeld. Dann stehen wir in der schmalen Straße zwischen sanierten Altbauten. Gelbes Licht in den Fenstern, hier und da blinkert bereits ein bunter Weihnachtsstern wie eine Christkindelmarktreklame. Die Straßenlaternen haben einen Hof aus grauem Griesel.
„Hier sind wir nun also“, sage ich unnötigerweise. Sie sieht zu mir hoch und ihre Augen tanzen über mein Gesicht, als nehme sie mich erst jetzt in dieser dämmrigen Straße richtig wahr.
„Komm, mir wird kalt.“ Sie nimmt meine Hand. Ich bin einen Moment überrascht und folge ihr.
Schlüsselklappern, ein hoher stiller dunkler Hausflur. Im Hintergrund glimmen die Augen von Lichtschaltern. Das ist wie ein Déjà Vu aus meiner Jugend. Ich nehme die Frau in den Arm und sie kommt mir entgegen. Wir schmecken noch immer ein klein wenig nach „Absolut“ und Kaffee.
Sie lehnt ihren Kopf gegen meine Brust und hat beide Arme auf meinen Schultern. Ich weiß, dass sie jetzt mit ihren Zweifeln Zwiesprache hält. Ich kann nicht verhindern, dass ich mich etwas verkrampfe. Es kann jetzt innerhalb einer Sekunde vorbei sein. Ich wappne mich.
„Komm“, sagt sie wieder, etwas heiser. Wir steigen im trüben Licht der Treppenbeleuchtung zwei Stockwerke hinauf. Das Treppenhaus wirkt sauber und alt. Sie schließt die Tür links auf, daneben das Schild: “C. Schm…“ Mehr kann ich nicht lesen. Ein Flur in einer Berliner Altbauwohnung, zwei Kandelaber verbreiten sanftes Licht neben der Flurgarderobe mit dem frauhohen Spiegel. Corinna nimmt mir die Jacke ab. Ich habe einen Moment Zeit, sie zu betrachten. Ich hatte Recht, was den Ausschnitt des Pullovers angeht und auch damit, was der Schal verdeckte. Ich schelte mich selbst, dass es in mir zu prickeln beginnt. Sie meidet meinen Blick, führt mich ins Wohnzimmer, bittet mich um Entschuldigung und verschwindet. Ich sehe mich um. Das Zimmer ist groß aber behaglich. Ein fast deckenhohes Regal mit Büchern zur Linken. Davor ein gemütlicher Sessel mit Hocker mit terrakottafarbenem Mikrofaserbezug. Ein Deckenfluter mit Leselampe dahinter. Ein kleines Scherentischchen links daneben. Darauf ein paar Zeitschriften, eine Paperbackausgabe von „Bag of Bones“ im englischen Orginal.
Weiter hinten eine Sitzgruppe, Dreisitzer, Zweisitzer, Sessel um einen ovalen Couchtisch. Darüber eine schlichte vierflammige Lampe mit weißen Kugeln. Auf den Fensterbrettern Blumen, eine kleine zierliche Figur aus weißem Ton, ein hauchzartes Glasgebilde, dessen Form ich nicht entziffern kann.
Sie kommt herein, trägt ein schwarzes Jerseykleid mit rundem Ausschnitt und schmalen Trägern. Es umspielt die kleine Gestalt sehr reizvoll und ich halte kurz den Atem an. Sie hat eine Flasche Wein in der Hand und einen Korkenzieher. Beides drückt sie mir in die Hand.
„Kann Du die aufmachen?“
„Kann ich. Soll ich auch?“ Sie holt gerade Gläser aus dem Glasteil mit der blauen Beleuchtung und dreht sich überrascht zu mir um. Ihre Augenbrauen sind etwas zusammen gezogen. Ich beiße mir auf die Lippen, tue, worum sie mich gebeten.
„Magst Du überhaupt Rotwein?“ fragt sie, während ich die Gläser fülle. „Ich habe leider nichts anderes im Haus.“
„Rotwein ist ok“, sage ich, weil mir im Augenblick auch ein Glas Leitungswasser recht wäre. Im normalen Leben bin ich kein Fan von Rotwein und von trockenem schon gar nicht. Wir prosten uns zu. Dieser hier ist sehr trocken.
Wir sitzen auf dem Dreisitzer und diesmal ist die Bucht zwischen uns nicht so breit. Zwei Wandleuchten werfen bordeauxfarbene Lichtblitze in die Gläser.
„Wer bist Du?“ fragt sie in die Stille, die ich nicht als unangenehm empfunden hatte.
„Conny. Eigentlich Conrad Cornelius Stiller. Geboren in Pankow, aufgewachsen in der Schönhauser Allee. Lehrer für Deutsch und Geographie an einem Gymnasium. Eigentlich Schriftsteller, aber davon kann man nicht leben, wenn man so schlecht ist, wie ich.“
Sie schmunzelt, nippt am Wein, lässt mich nicht aus den Augen.
„Was hast Du da am Center gemacht?“
„Ganz ehrlich? Ich war auf der Suche nach einer Idee, einer Inspiration. Das mache ich manchmal: Ich gehe ziellos durch die Stadt und beobachte. Dann sehe ich ein Gesicht, eine Situation und da hakt sich meine Fantasie fest.“
„Und heute hast Du Dich an mir festgehakt?“
„Nein, mit Dir war das anders.“ Was nicht stimmt.
„Welche Geschichte hast Du Dir ausgedacht über mich, als Du da auf der Bank gesessen hast?“ Ertappt.
„Du hast mich gesehen? Ich dachte, Du wärst zu sehr beschäftigt mit… Deiner Enttäuschung.“
„Deshalb ist man ja nicht blind. Ich hab‘ schon gemerkt, wie Du mich beobachtet hast.“
Ich muss noch eine Menge lernen, merke ich gerade.
Die Bucht zwischen uns ist nunmehr zu einem schmalen Rinnsal verdampft. Ich nehme ihr das Glas aus der Hand und stelle es zu meinem auf den Tisch. Sie lässt es geschehen. Plötzlich knistert Spannung auf. Ich ziehe Sie etwas zu mir heran und küsse sie. Ihre Lippen sind weich und öffnen sich bereitwillig. Ich spüre die Formen ihres Körpers an meinem, ich spüre Wärme durch den dünnen Kleiderstoff. Meine Rechte ertastet ihre Brust. Sie hat keinen BH drunter und ich spüre die Brustwarze fest werden. Oh, mein Gott, das geht alles viel zu schnell!
Sie nestelt mit fliegender Hand an meinem Gürtel, öffnet Knopf und Reißverschluss. Ich halte den Atem an. Sie hält inne.
„Komm mit“, sagt sie mit tiefer und heiserer Stimme. Sie zieht mich mit sich. Ich muss Acht geben, dass ich meine Hose nicht verliere, aber eigentlich noch mehr, was den Verstand angeht. Wir landen wider Erwarten nicht im Schlafzimmer sondern im Bad. Statt Neonlicht schimmern hier Teelichter auf Borden und Regalen. Sie beginnt, mir das Hemd aufzuknöpfen und zerrt es mir über den Kopf. Ich habe am Rande etwas Angst, sie reißt mir dabei das linke Ohrläppchen ab. Später wird nicht ganz klar sein, wie ich den Rest meiner Kleider verloren habe. Wir stehen eng umschlungen in der Badewanne unter einer sehr heißen Dusche und atmen uns voller Rausch in einem nicht enden wollenden Kuss. Mein Glied ist wie eine glühende Stange an ihren Bauch gepresst. Ich will sie nicht los lassen aber ich will auch jeden Zoll ihres Körpers mit den Händen erkunden. Sie reißt sich plötzlich los und hat so ein fast diabolisches Lächeln im Gesicht. Wasser läuft ihr die Schläfen herunter und rinnt als Bächlein zwischen ihren Brüsten herab. Was für ein Anblick. Sie geht in die Knie und ergreift mein Glied. Ich will protestieren, aber es geht nicht, etwas presst allen Atem aus mir heraus.
„Das geht nicht! Das geht nicht! Das geht …“ Wie ein Mantra echot der Satz in mir wieder. Endlich befreie ich mich.
„Was ist?“ fragt sie, schaut von unten zu mir herauf und der Anblick hinterlässt auf meinem Augenhintergrund quasi ein Brandzeichen.
„ich will Dich!“ keuche ich und hebe sie an den Armen zu mir hoch. Sie stellt ihr rechtes Bein auf den Wannenrand, ergreift mich und führt mich ein. Ich habe augenblicklich das Gefühl, in Flammen aufzugehen. Wir sind wie entfesselt. Ihr Becken bewegt sich und treibt mich immer weiter in sie hinein. Ich höre sie keuchen, stöhnen, weinen, fluchen, lachen, schreien, verlöschen und kann nicht anders, ich schreie auch…
Heißes Wasser trommelt noch eine Minute lang auf unsere verschlungenen Körper, bevor wir uns lösen. Sie hat sehr rote volle Lippen und ein Strahlen um den Mund. Das Gesicht ist wunderschön.
Ich sage es ihr und meine Stimme klingt fremd. Sie stellt die Dusche ab, steigt aus der Wanne. Ich fange ein cremefarbenes Handtuch auf, rubble ihr den Rücken, die Hüften, die Beine ab. Gerate zwischen ihre Schenkel und höre sie leise aufatmen.
„Los komm!“ sagt sie wieder, gefolgt von einem leisen Lachen hinten in der Kehle.
Im Morgengrauen werde ich wach und sehe ihre Silhouette dunkel vor dem Lichtschein des Fensters. Sie sitzt auf der Bettkante und ich höre, dass sie leise weint.
Wir sind zurück in die Zeit getreten und erinnern uns der Gemeinheiten, die das Leben an uns austeilt. Ich bin ratlos und außer Stande sie trösten. Ich verfluche den Kerl in Madrid und den Kerl neben ihr im Bett. Sie hat wohl beide nicht verdient.
Sie legt sich zu mir, schmiegt ihren Körper dicht an meinen Rücken. Ich spüre, wie Tränen auf meinen Hals tropfen und herunter rinnen. Ich verschränke meine Finger mit den ihren und eine Flut von Geborgenheit breitet sich aus.
Dies wird ein neuer Tag.