Lutum I
Lutum(c) 2008 by Th.R.B.
Die Sonne geht unter. Kaum merklich verschwindet der Glutball hinter den Föhren, die auf angenehmste Art den Lärm der Autobahn fernhält.
Erst, wenn der Lärm der Stadt schwindet, kommt er zurück. Nachts. Er kommt immer nachts. Und dringt in meine zerbrechliche Festung der Ruhe ein.
Daran kann dann weder Sonne noch Föhre etwas ändern. An guten Tagen besteht die Geräuschquelle aus einem steten Rauschen. Einem Wasserfall nicht unähnlich.
Das würde mir nicht viel ausmachen, denn ich liebe Wasserfälle. Aber ich WUSSTE, es war kein Wasserfall, das war der Unterschied.
Wasserfälle..... ein stetiger Strom des Lebens. Er fließt, wie das Leben in eine Richtung, stürzt über die Klippe ins Bodenlose, wo alle anderen gefallenen Tropfen warten. Quasi die Hinduistische Variante eines Flusses...
An Tagen wie diesen, ein Glas Scotch in der Linken, Ballistol in der Rechten, schweifen meine Gedanken allzu oft ab. Ich denke nach über mein Leben. Welches Leben? War das der Sinn meiner Existenz? Über die Existenz nachzudenken und Tagsüber psychisch kranken Menschen zu helfen? Die Antwort würde ich hier nicht finden.
All die Mühe, all der Enthusiasmus, all die Entbehrungen..... ein viel zu kleines, karges Zimmer als Student, wenig zu essen, fragwürdige „Freunde“ und kiffende Kommilitonen, die bereits zu Beginn ihrer Karriere am Ende waren. Kaum einen meiner so genannten Kollegen konnte ich ernst nehmen. Denn wer sich mit der Psyche der anderen beschäftigt, musste beinahe zwangsläufig eine Macke haben.
Wie sagte schon ein wohl bekannter Philosoph: Schaue nie zu tief in den Abgrund, denn nach einiger Zeit schaut er auch in dich!
Was aber wenn der Abgrund schon in einen gesehen hat, bevor ich wusste, dass einer da ist?
Trübe Gedanken, trübe Musik und trübe Geräusche. Ich sollte schlafen gehen.
Ich hasste mein Leben. Und wenn ich nicht immer das kleine Schwein von Helferleinsyndrom wie einen Goldschatz pflegte, ich vermute, mein Antrieb würde versagen.
Die letzten Klänge von Leonard Cohen´s „Bird on a wire“ verstummten, und ich schaltete aus. Selbstmordmusik. Wenn einer labil wäre und dieses Lied hörte, es wäre beinahe eine Aufforderung, den letzten Schritt zu machen. Nun war es wirklich an der Zeit, schlafen zu gehen, bevor mich die Musik einholte...
Montag. Einer wie jeder. Praxis öffnen, Kaffee machen, Post aus dem Kasten holen, Anrufbeantworter abhören, Terminkalender durchgehen, die Mädchen begrüßen. Wie üblich beinhaltete diese Routine, dass mein Kaffee in der Tasse nur noch lauwarm war. Dies wiederum würde mich in kurzer Zeit veranlassen, den Kaffee in die Toilette zu tragen.
Wie bereits gesagt, immer das Gleiche Schema. Keinerlei Aufregungen, keine Absonderlichkeiten. Dachte ich Anfangs tatsächlich, dass ich meine Berufung darin finden würde, in die entlegensten Abgründe des menschlichen Geistes vordringen zu können? Dachte ich wirklich, ich könnte bahnbrechende Neuigkeiten ans Tageslicht zerren?
Statt dessen förderte ich Selbstvertrauen, diagnostizierte leichte Psychosen und war einfach nur ein guter Zuhörer mit ein paar mehr oder weniger guten Ratschlägen. Die Menschen rennen heutzutage wegen jed
em Blödsinn zu Psychologen und Therapeuten.
Früher war die Familie für derlei Dinge da. Was mich zwangsläufig zu der Annahme trieb, dass unsere Gesellschaft vor die Hunde ging. Und damit verdiente ich meinen Lebensunterhalt, ich konnte es schon lange nicht mehr fassen.
Gegen 9 Uhr der Erste Patient. Ein Kosovo- Albaner, in Deutschland geboren. Moslem. Eher Zwangsweise., wie er angibt. Mansur hieß er. Die Gedanken ließen ihn nicht mehr los.
Gedanken an was?
An das Paradies.
Paradies?
An die Versprechungen, die vom Imam gemacht worden sind. Nur Gläubige, Gute Menschen dort, Jungfrauen nur für ihn.
Ich sah ihn scharf an. Seine Augen waren unstet, offensichtlich war es ihm aufgrund seiner westlichen Erziehung schwerlich möglich, die nächste Frage zu stellen. Doch ich schwieg, die Entscheidung musste aus ihm kommen. Dennoch zweifelte ich erheblich daran, ob eine Diskussion über Religion hierher gehörte.
Aber wenn das Paradies aus Jungfrauen bestünde, also aus Sex, worin unterschied sich Allah´s Welt von der Westlichen?
Nun war es heraus und seine Oliv- farbene Haut nahm einen eher grauen Ton an.
Und weiter? Ich nahm mir vor, mich nicht in eine religiöse Diskussion einzulassen.
Der Imam forderte , dass wir den Koran ernst nehmen. Besonders hier in der Welt der Ungläubigen.
Was soll das heissen?
Er würde wieder und wieder Sure 9 zitieren und versprach, dass die Familien hier gut versorgt werden würden, wenn sich wahre Gläubige finden würden.
Gut, soweit ich wusste, lautet Sure 9: Tötet die Ungläubigen, wo immer ihr sie findet.
Ich schwieg einen Augenblick, um mir darüber klar zu werden, was er eigentlich wollte.
Die Antwort kam von ihm selbst. Seine Freunde. Roberto, ein Halbitaliener, Patric, ein Portugiese. Seine Besten Freunde, beide Christen, also Ungläubige. Laut dem Imam sollten sie unreine Wesen sein, nichtswürdig und dreckig. Ihr Verlust wäre weder eine Schande noch ein Verlust. Mansur kannte sie nun aber seit 17 Jahren und hielt sie nicht für schlechte Menschen, das war sein Konflikt.
Nun, das war leicht zu lösen.
Mansur. Zunächst, Im Paradies erwartet dich, liest man den Koran richtig, keine Jungfrau, sondern DEINE verjüngte Frau. Ebenso, wie DEINE Frau, mit der du im Paradies vereint sein wirst, einen verjüngten Mann bekommt. Denn Allah verspricht keine Jungfrau, sondern ewige Jugend, das ist ein Unterschied und wird sehr oft manipuliert. Aber es gibt noch viel mehr dort.
Wenn ein Moslem von dieser Welt scheidet und das Wohlgefallen Allâhs erlangt hat, dann wird er danach die frohe Botschaft haben von allem, was gut ist. Wenn er ins Paradies eingeht,
wird er Wonnen und Vergnügen haben, die kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört hat
und was in keinem Herzenswunsch eines Menschen vorhanden war. Er wird alles, was er
sich wünscht, auf beste Art und Weise haben. Alles, worum er bittet, wird ihm gewährt,
und alles, wonach er sich sehnt, wird er bekommen. Ihn wird niemals irgendetwas
verärgern oder stören, weil er unter der Fürsorge des Barmherzigen ist, so wie Allâh sagt. Hey, ist das nichts? Es klingt beinahe wie das Paradies der Christen!
Sein Blick klärte sich kurz auf, um sich danach wieder zu verdüstern. Ob es denn noch eine Frage gäbe, fragte ich, wissend, dass da noch mindestens 2 waren.
Hieße das, er könnte sich ohne schlechtes Gewissen von der Hisbollah abwenden? Diese Entscheidung konnte und wollte ich ihm nicht abnehmen. Ich gab jedoch zu bedenken, dass westliche Gläubige sich deswegen nicht selbst in die Luft sprengten, weil es ich ihnen an Glauben mangelt. Und das wäre gut so, denn was fanatischer Glaube anrichtet, liest man in den Geschichtsbüchern. Glaube kann eine Menge bewirken, aber es sollte kein Lebenskern sein, sondern immer nur eine Hilfestellung. Im übrigen: Wenn dein Imam SO gläubig wäre, wie er es von euch forderte, warum macht ER nicht den ersten Schritt auf die Jungfrau zu?
Sprachlos sah er mich an. Offenbar hatte er erfasst, dass die religiösen Führer entweder Manipulatoren waren oder selbst Zweifel hatten.
Mit dieser Denksportaufgabe ließ ich ihn ziehen und holte mir einen Kaffee. Ein paar Notizen und ein Fluch auf die Ärztliche Schweigepflicht. Denn ich kannte seinen Imam....
Ich nahm mir für den Abend vor, eine ausführliche Email an meinen Kollegen zu senden, in denen die Worte Terror, Bombe, Attentäter und Terrorzelle mehrfach vorkamen. Bestimmt würde ich dann bald Besuch bekommen von Männern in Trenchcoats und Aktenkoffern.
Die Erste Patientin litt unter Verfolgungswahn. Nun, nicht wirklich. Die Tatsache, dass sie sich Nachts alle 5 Meter umdrehte und hinter sich sah, lag an ihrem Graskonsum, der ihre Ganglien veranlasste, allmählich das Weite zu suchen. Von wegen Cannabis sei harmlos. Noch stritt sie den Konsum ab und es würde wohl noch ein paar Sitzungen dauern, bis sie sich offenbarte. Habe ich schon erwähnt, dass es Zwei Berufsgruppen gibt, die von ihren „Kunden“ grundsätzlich belogen wurde? Nein? Therapeuten und Anwälte.
.....wird fortgesetzt....