Weihnachten in der Fremde
Ich liebe meine High Heels. Im Schneegestöber auf dem Brückengeländer zu der Musik zu tanzen, die sich nur im meinem Kopf befindet. Gloria Gaynors „I will survive“ hört sich nur laut in meinem Kopf gut an. Ich singe laut mit und höre dennoch das magische klack klack der Heels auf dem Geländer. „I“ – klack- „will“- klack „survive“-klack.
Nach dem halben Song ist das Ende der Brücke erreicht. Ein aufstampfen, klack klack. Eine Umdrehung. Mein rotes Kleid dreht sich mit, mein Mantel dreht sich mit. Weiter geht es.
Das Schneegestöber sehe ich kaum. Einige Menschen mit prall gefüllten Einkaufstaschen, die mit Weihnachtsmotiven versehen sind, rennen auf mich zu. Ich höre sie nicht. Ich höre nur Gloria, die von Edith Piaf abgelöst wird.
Die Hummeln im Hintern tanzen, mein Körper dazu.
Ich singe weiter. Lache sie alle an. Wische eine Haarsträhne aus meinem Gesicht, breite die Arme aus.
Wieder habe ich das Brückengeländer überquert. Wieder eine Umdrehung. Klack, klack, klack.
Ich sehe das Auto nicht. Ich höre die Stimmen nicht, die mir etwas sagen, später brüllen. Die vielen Schneeflocken. Sie lassen mich noch lauter singen. Gleichzeitig versuche ich sie mit der Zunge zu fangen. Ein Schritt nach links, einer nach rechts. Sie fliegen an mir vorbei.
Plötzlich spüre ich etwas warmes am rechten Schienbein. Ich will danach treten, doch meine Heels machen nicht mit. Ich rutsche ab und falle. Nicht in das tiefe Wasser. Auf die andere Seite. Auf einen Menschen in einer blauen Uniform. Was will er von mir? Was sagt der andere, hinter ihm stehende? Ich höre nichts. Mein Kopf hat wieder auf Gloria umgeschwenkt. Sie höre ich. Mehr nicht.
Ich bin in einem Auto. Halte die Augen geschlossen. Wenn ich nicht für einen Moment schweige, so singe ich. Ein Blick trifft mich. Nicht vorwurfsvoll. Anders.
In der Weihnachtszeit mag ich mein Lithium nicht. Ich will spüren, ich will leben, ich will tanzen. Ich will klack klacks erzeugen, die sich nicht nur in meinem Kopf abspielen. Ich will laut sein, ich will singen, ich will auf dem Seil meiner Lebenskurve tanzen. Ich will meine Heels tragen, mein rotes Kleid am Körper spüren, ich will mich spüren, ich will die Welt spüren, ich will die Männer spüren.
Ich will so vieles und lande hier.
Meine Füße sind kalt. Mein Körper ist warm. Wo sind die Schneeflocken? Wo sind Gloria und Edith?
Ich rufe nach ihnen. Ich rufe nach meinen High Heels. Wie soll ich ohne sie tanzen? Der Versuch mich hoch zu beugen ist zum Scheitern verurteilt. Meine Arme sind fixiert, meine Beine sind fixiert.
Das Gesicht des Pflegers kommt mir bekannt vor. Habe ich etwa die Tage mit ihm gevögelt? Oder war er es, der mich im vergangenen Jahr überzeugte meine Kleidung wieder anlegen, nachdem ich nackt auf einem ebensolchen Bett landete?
Ich weiß es nicht mehr.
„Bitte, meine Schuhe. Ziehen Sie mir meine Schuhe an!“
„Bitte.“
Nun sind auch meine Füße wieder warm. Doch wo ist das klack, klack?
Gloria ist noch da, aber meine Stimme reicht nicht mehr aus, um laut zu brüllen:
„I will survive“.
Der Piecks in meinem Arm lässt mich später noch leiser singen.
Und denken: „The same procedure as last year“