Die runde Flamme
Langsam schwebte Juri durch den Raum. Seine weißen Socken berührten kaum den Boden, er fühlte sich leicht und schwer gleichzeitig. Leicht deshalb, weil es ihm seine Umgebung so einfach machte, schwer aus dem Grunde, weil er heute, am Heilig Abend, allein sein würde. Manchmal brachte das der Job nun mal mit sich. Das war ihm bereits klargeworden, als er sich für diesen Beruf entschied. Trotzdem, an solchen Tagen war es dennoch schwer, allein zu sein. Ohne Familie. Mit den Kollegen, die er sehr mochte, war es dennoch nicht das Gleiche.
Routiniert überflog sein Blick den Bildschirm des Laptops vor ihm, die Anzeigen und Daten waren unauffällig, alles war in Ordnung. Das eintönige Grau der Wand mit den unzähligen Kabeln, Steckern und Schaltern wurde durch metallisches Silber und etwas Blau hier und da unterbrochen. Ein wenig Farbe zu Weihnachten, wenn man es so sehen wollte. Schmücken durften sie hier an ihrem Arbeitsplatz nicht. Dafür hatte Juri nur für sich etwas geplant. Er wollte wenigstens heute ein heimeliges Gefühl. Eine Kleinigkeit nur, doch hier in der Einsamkeit bedeutete es ihm sehr viel.
Schnell noch ein Blick auf die Bildschirme und er seufzte erleichtert auf, dass alles so reibungslos verlief. Nun konnte er endlich Feierabend machen und löschte das Licht, soweit es möglich war. Er zog sich ein paar dicke, selbstgestrickte Socken über, die ihm seine Babuschka überreicht hatte, kurz bevor er sich auf Dienstreise begab.
Er erinnerte sich nur zu genau an ihre Tränen, die sie verheimlichen wollte, doch rollte eine der feuchten Perlen über ihr faltiges Gesicht und die Feuchtigkeit ließ ihre vom Alter wässrig-blauen Augen schimmern. Juri versprach ihr damals, dass er bald wieder zurück sein und auf jeden Fall an Weihnachten an sie denken würde. Seine immer sanfte Babuschka bestand darauf, Weihnachten nach alter Tradition des Väterchen Frost am 7. Januar zu feiern. Juri erlaubte es sich inzwischen, auch das christliche Weihnachten zu feiern, da er mit seinen Kollegen zusammen war, die nun mal am 24. Dezember Heiligen Abend feierten. So hatte er eben ein wenig länger von diesen besinnlichen Tagen. Ihn störte dies nicht. Für ihn gehörten sowieso alle Menschen zusammen.
Juri erreichte das Fenster, hinter dem der dunkle Nachthimmel samtig aller Zeit trotzte. Er griff in seine Hosentasche, zückte das Feuerzeug und zog das kleine Teelicht hervor. Vorsichtig klebte er das Teelicht mit dem Klebe-Pad, das er noch zu Hause daran befestigt hatte, auf einen sicheren Untergrund und mit einem letzten Blick auf seine Uhr wartete er auf den richtigen Zeitpunkt.
Dort war sie. Tief atmete Juri ein. Es bewegte ihn immer wieder, sobald sie in sein Blickfeld trat. Die Erde. Der blaue Planet. Scheinbar einsam im All und doch nicht wirklich allein in den Weiten des Universums.
Das Blau seines Heimatplaneten erinnerte ihn an die Augen seiner Babuschka. Ein leichtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er wieder an sie dachte.
Allerdings war die Erde nun schwarz. Nicht ganz schwarz, denn nachts überzogen die dunkle Erde Lichter, die wirkten wie Nervenleitbahnen und Synapsen im Gehirn. Zumindest stellte sich Juri dies genauso vor. Die großen Metropolen waren helle Knotenpunkte, die Informationen über das riesige Areal sandten. Es war wundervoll anzusehen.
Friedlich und ruhig erschien es von hier oben. Sein Blick auf das Dasein und das Miteinander der Menschen hatte sich seit seinem Einsatz hier oben verändert. Wüssten doch die Menschen, wie wundervoll ihr Heimatplanet aussah, wie groß und doch so verloren klein er in der unendlichen Weite wirkte. Juri empfand die Erde als verletzlich und wünschte sich nichts mehr, als dass die Menschheit bald begriff, nur eine einzige Heimat zu haben, die gehütet und nicht zerstört werden sollte.
Er legte seine Hand auf die Scheibe, hinter der die Unendlichkeit waltete und wollte am liebsten die Erde umfassen, festhalten, beschützen.
Diese Wünsche sandte er hinaus während er beobachtete, wie sich der Kontinent in sein Blickfeld schob, auf dem seine Familie nun an ihn denken würde. Jetzt war es soweit.
Juri nahm das Feuerzeug und entzündete das kleine Teelicht.
Kurz schloss er die Augen, rief sich die Gesichter seiner Lieben in Erinnerung, schluckte den Kloß im Hals hinunter, dann bannte ihn erneut die Aussicht und das kleine Licht.
Es war faszinierend. Hier auf der ISS gab es also doch zu Weihnachten einen kleinen Weihnachtsschmuck für ihn.
Die Flamme der Kerze leuchtete kugelrund.