With a little help of my friends
Jedes Jahr senkt sich eine erwartungsvolle Stille über das Land, wenn am 24. Dezember die Geschäfte in den Städten und Dörfern schließen und die hektische Betriebsamkeit der Erleichterung über die beendeten Weihnachtsvorbereitungen weicht. Der vorfreudige Weihnachtsverkehr beginnt, Omas und Opas werden abgeholt und zu Kindern und Enkeln chauffiert. Wie eine warme Decke hüllt die beginnende Dunkelheit die leeren Felder, Seen und Wälder ein. Man hat den Eindruck, selbst Tiere und Pflanzen verstehen, dass heute ein ganz besonderer Tag ist.
Die große Buche mitten im Wald ruht wie immer in sich und beherbergt allerhand Getier an ihren Wurzeln. Die kleine Wühlmaus und der Maulwurf sagen sich Gute Nacht, der Regenwurm rollt sich zusammen und flüstert „Schlaft alle gut!“. Das Reh hat mit seiner Sippe eben das Futter, das der Förster in der Krippe bereitgestellt hat, genossen und freut sich auf die lange Nacht in der Kuhle aus Laub. Diese Nacht soll ja magische Kräfte haben.
Doch es ist noch nicht so weit, in seine Nase drängt ein fremder Geruch. Witternd hebt das Reh den Kopf. Der Duft, der sich in seine Nase schmeichelt, hat nichts Gefährliches, also wartet es ab, was wohl noch kommt. Der Duft kommt näher, beinhaltet eine Spur Angst, jedoch genauso viel Neugier und das Reh spürt den Drang, sich zu erheben und dem Duft entgegenzugehen.
Drüben an den Dolomitsteinen, die in eigenartiger Formation mitten im Wald stehen, scheint ein kleines Licht zu leuchten, das mit dem Geruch zu tun haben muss. Hier treffen sich zu den Sonnwendnächten Menschen, die seltsame Zeremonien aufführen, um die Sonne als Schöpferin des Lebens zu ehren. Doch heute ist hier kein Mensch. Der menschliche Geruch ist drei Tage alt, doch der Lichtschein ist da. Ein kleines rotes Licht irrlichtert durch die Zweige, und eine große Gestalt streift auf allen Vieren an den Steinen entlang. Sie scheint es etwas zu suchen.
Da der Geruch der Angst immer stärker und hilfesuchender wird, fasst sich das Reh ein Herz. Es heißt ja, dass in der Weihnachtsnacht alle Tiere sprechen können (Maus, Maulwurf und Regenwurm haben den Test ja schon gemacht), und so verlässt es lautlos die Deckung und steht plötzlich bei der Felsformation. Die Gestalt scheint sie jetzt auch gewittert zu haben; sie dreht sich herum und beide erschrecken zutiefst. Das Reh sieht sich einem Tier gegenüber, das anderthalb mal so groß ist wie es selbst und zudem noch Hörner hat, die in dieser Gegend völlig unbekannt sind. Das fremde Tier ist ungefähr so groß wie der Hirsch, der hier den König des Waldes spielt, die Hörner sind von ähnlichem Ausmaß, ähneln aber Löffeln unterschiedlicher Größe, die zusammengebunden einem Geweih gleichen.
Das Fremdtier sieht sich seinem vagen Ebenbild in klein gegenüber, allerdings ohne Geweih. Auch der Kopf Kopf und die Gliedmaßen sind feiner gezeichnet.
Nach der üblichen Schnupperphase will es das Reh wissen. „Wer bist du? Wovor hast du Angst? Was war das für ein Licht?“ Die Erleichterung, dass in diesem finsteren, magischen Wald, an diesen mystischen Steinen ein weiteres Lebewesen zu finden ist, das er auch noch versteht, ist unübersehbar. „Ich bin aus Schweden geflohen. Dort wurde ich gefangengenommen und in einen Wildpark gebracht. Das hatte mit den unendlich großen Wäldern meiner Heimat nichts mehr zu tun, so dass ich nur noch traurig umherirrte. Irgendwann hat mir jemand einen Job am Nordpol angeboten: Ich solle einmal im Jahr einen Mann in einem Schlitten mit vielen Geschenken in die Dörfer und Städte ziehen und ansonsten könne ich leben wo ich will.“
„Das hört sich gut an. Aber was machst du heute hier?“ „Ich habe mich verlaufen. Ich habe zwar eine kleine rote Positionslampe, aber sie hat nicht genügend Licht, um diese Steine hier zu erkennen. So bin ich mit dem Schlitten hängengeblieben und suche die Geschenke, die aus dem Schlitten gefallen sind. Wenn ich nicht bald mit der Suche fertig bin, ist Weihnachten für die Kinder im Dorf dieses Jahr eine Enttäuschung.“ „Und wo ist der Schlittenfahrer?“ „Er kriecht im Dorf mit den verbliebenen Geschenken durch die Kamine ins Haus und legt die Geschenke ab. Ich habe schon eine Abmahnung von ihm bekommen – aber was kann ich dafür, wenn aufgrund des Klimawandels kein Schnee mehr liegt, der das wenige Licht reflektieren könnte?“ Und er bricht in bitterliches Weinen aus.
Das Reh denkt nach. „Warte hier, ich hole meine Sippe. Wir helfen dir.“ Gesagt – getan: Nach wenigen Minuten sind die Geschenke am beschädigten Schlitten aufgehäuft. „Mir fällt ein Stein vom Herzen. Aber wie soll ich die Geschenke jetzt zu den Kindern bringen?“ Und wieder fängt das Schluchzen an.
Das Rudel berät. Ein leises Raunen geht durch den Wald, als jedes Reh vor sich hin murmelt, wie man helfen könne.
Rudi rät: „Wir fragen den Schreiner Siegfried im Ort, ob er den Holzschlitten reparieren kann.“ Doch der Schreiner ist alt und nicht mehr in der Lage, seine geliebte Arbeit auszuführen.
Randolf meint: „Wir fragen den Autohändler Achmed, ob er uns den Jeep leiht.“ Doch der Autohändler ist zum Skifahren im Zillertal.
Richard erklärt: „Wir sagen den Kindern, sie sollen ihre Geschenke im Wald abholen.“ Die Rehe sehen sich an, nicken bedächtig mit dem Kopf und wollen fast schon zustimmen, da erklingt die Stimme des kleinen Kitzes Renate: „Ich will keine Menschen hier im Wald haben. Wenn wir das machen, kommen sie jedes Jahr, bringen Glühwein mit, singen komische Weihnachtslieder und mit unserer Ruhe im Wald ist es vorbei.“
Jetzt macht sich gemeinschaftliche Ratlosigkeit breit. Man berät weiter, schaut zum schluchzenden Fremdtier, bringt es zur Futterkrippe, damit es nicht vom Fleisch fällt, denn etwas Futter braucht jeder. Auf dem Weg dorthin kommt dem kecken kleinen Kitz Renate die Idee: „Da hat doch neulich ein Kind einen ferngesteuerten Spielzeughubschrauber hier liegen gelassen. Direkt auf den Dolomitsteinen liegt er. Wir leinen den Schlitten am Hubschrauber an und dann kann das Fremdtier die restlichen Geschenke ausliefern wie geplant.“ Das ist DIE Idee! Doch erst wird gefuttert und Renate gefeiert.
Frisch gestärkt (Der Förster hat die Krippe tatsächlich nochmal aufgefüllt) gehen alle gemeinsam zurück und beginnen Reparatur und Flugtauglichmachung des Schlittens, obwohl das mit den Rehhufen nicht so einfach ist. Sie sind für die Flucht gemacht und nicht für Handwerk. Doch wo ein Wille ist… ihr wisst schon, liebe Kinder.
Endlich ist der Schlitten fertig; das Fremdtier hat viele neue Freunde und das Rehrudel einen einzigen (dafür großen) gewonnen. Nach der Verabschiedungstour (Nase an Nase stupsen, anschließend mit Nase an Hintern schnuppern) kann es losgehen. Der Schlitten erhebt sich geräuschlos (Elektromotor). Das Fremdtier winkt noch einmal und
schwupps ist es weg.
In den Häusern ist mittlerweile das Festtagsessen zu Ende. Die Menschen haben auch gut gefuttert (der Förster heißt für sie meistens „Mama“) und jeder wundert sich, wo die Zeit geblieben ist. Das war dieses Jahr aber extrem, wie sie verflogen ist. Jetzt liegen die Geschenke im Wohnzimmer unter dem Christbaum (haben da nicht die Glöckchen am Baum geklingelt, ohne dass ein Luftzug ging?) oder am Kamin und die Kinder freuen sich über den schönsten Tag des Jahres. Sie spielen selig und in der Nacht träumen sie seltsame Dinge von sprechenden Rehen in Wäldern, von Hubschraubern, fliegenden Schlitten und dicken Männern in Kaminen.
Jetzt wisst ihr, liebe Kinder, wieso der Weihnachtsmann manchmal durch den Kamin kommt und manchmal mit dem Schlitten über die Dächer fliegt, obwohl Schlitten das ja eigentlich nicht können.
Und wie das Fremdtier den dicken Mann, seinen Arbeitgeber, aus dem Kamin rettet, erzähle ich euch vielleicht nächstes Jahr.
Ach ja: Das Fremdtier hat seinen Job noch, ist belobigt worden für seine Kreativität, hat eine Incentivereise zu den Druidensteinen spendiert bekommen, dort seine Freunde wieder getroffen und verbringt jetzt die warmen Sommer am Nordpol und die warmen Winter (bis auf einen Tag) bei seinen Freunden am Druidenstein.