Wa(h)re Weihnachten im Wahrheitsbazar ...
Ich hatte die Nase voll. Weit weg von zuhause, kurz vor Weihnachten, bin ich den ganzen Tag wieder mal überall nur angelogen und betrogen worden. Händler hielten mich mit Ausflüchten hin oder zogen mich mit Halbwahrheiten über den Tisch, und Klienten erfanden ganze Romane, um nichts tun zu müssen.
Wär ich doch bloß einfacher Seelenklempner geworden, da würde mein Honorar wenigstens mit jeder Märchenminute mitklettern, und manchmal wäre es bestimmt dazu noch amüsant.
Aber als Projektmanager werde ich jedoch mehr für‘s Lösungen finden gebucht und weniger um zuzuhören, warum immer die anderen Schuld seien.
In der Hoffnung, meinen Ärger runterzuspülen und auf andere Gedanken zu kommen klapperte ich nun einige Bars ab. Bis ich sie entdeckte, eine üppige rothaarige Versuchung.
Mit einem geheimnisvollen Lächeln, fragte ich sie, ob ich ihr etwas spendieren dürfte, wenn ich erriete,
was sie gerne mag. Sie grinste frech zurück und sagte: „Ich mag es nicht, wenn man mich anlügt.
Und ich trinke gerne trockenen Rotwein“ Volltreffer. Diese Frau wurde mir heute Nacht vom Schicksal zugespielt. „Prima, ich mag es auch nicht, wenn ich hinterher feststelle, dass etwas nicht die Wahrheit war.“ stimmte ich ihr begeistert bei und bestellte für uns zwei Gläser vom besten Roten.
Sie erwiderte daraufhin sofort mit skeptischer Miene:
„Verwechselst Du da etwa gerade, 'nicht die Wahrheit' sagen 'mit lügen'?“
Ich war verblüfft, und fragte mit einer dumpfen Befürchtung: „Wie, ist das denn nicht dasselbe?“
Und sie antwortete mit einem alles vernichtenden Blick: „Mitnichten“. Treffer.
Jetzt war ich verwirrt und mein Denkvermögen im Begriff zu sinken.
„Ob man die Wahrheit sagt oder nicht, soll also nichts mit lügen zu tun haben?“
versuchte ich mich rhetorisch über Wasser zu halten, „hast Du mir vielleicht ein Beispiel dazu?“
„Ja. Da gab es den Fall eines Psychotikers J. C. Jones, der glaubte er sei Napoleon Bonaparte. Was zeigte der Lügendetektor wohl an, als er im Test gefragt wurde „Sind sie Napoleon Bonaparte?“ und er mit „Nein, wie kommen Sie darauf? Ich bin J. C. Jones.“ geantwortet hat. Richtig, das Gerät zeigte diese Lüge korrekt an.“ „Dann wäre Wahrheit also relativ subjektiv und ziemlich veränderlich?“ „Stimmt ziemlich genau.“ und sie lächelt schon wieder, „Und wozu lügen die Leute?“
„Na um sich eigene Vorteile zu verschaffen, oder um sich vor Selbstverantwortung zu drücken, wenn man Fehler gemacht hat, oder manchmal einfach um des lieben Friedens willens zum Wohl des Belogenen.“
Und ich kam wieder in meiner Fahrwasser.
„Wunderbar mein Lieber“ Pause. Sie: „Und jetzt mal angenommen, Du wärst verheiratet, wen würdest Du dann belügen und warum? Ich grinse: "Zum Beispiel Dich, um meine Chancen auf tollen Sex heute Nacht zu erhöhen, und meine Frau damit sie nichts mitkriegen würde.“ Sie süffisant: "Ist das wirklich wahr?"
Irgendwie nicht dachte ich mir. Zu Hause lebe ich doch sowieso nur noch in einer Art geschwisterlicher Zweckgemeinschaft, da lüge ich mir doch schon so lange etwas vor. Und vermutlich bin ich nur zu bequem um noch etwas daran zu ändern. Aber Achtung, diese offensichtlich interessierte Barbekanntschaft mochte keine Lügen. So war dann auch meine überzeugte Antwort: „Dann belüge ich mich doch nur noch selbst.“ und mein Gedanke gleich danach, na prima und dafür bestrafe ich mich jetzt sogar schon vorher. Als ich das nächste Glas Wein bestellen wollte, meinte meine neue Bekannte, komm lass uns lieber noch etwas bummeln gehen, der Abend ist noch jung. Und ich durfte sie gleich Arm in Arm eingehakt, an festlich beleuchteten Schaufenstern entlang begleiten.
Dann kamen wir an eine Art Markthalle vorbei. Über dem Tor hing ein altes vergilbtes Email-Schild mit angenagter Aufschrift: „Lügen- & Wahrheitsbasar“. Witzig dachte ich, und sagte: „Da müssen wir jetzt aber unbedingt auch noch rein.“
Ein schrill gekleideter Marktschreier pries seine Waren lauthals an: "Bei uns gibt‘s die besten Lügen!
Feine glatte Lügen und grobe faustdicke, aller reinstes Lügengespinst,
neue ungeprüfte neben alt bewährten und getesteten Lügen,
freche, klare Lügen und in allen Schattierungen eingefärbte Lügen,... im Dutzend billiger."
Gleich daneben präsentierte eine ältere Frau in einem seriösen blauen Kleid Wahrheiten in unterschiedlichsten Verpackungen und Größen. Halbe, allgemeine, relative, statistische, objektive Wahrheiten,
mehr oder weniger unbequeme, bittere Wahrheiten, überall auf dem Boden lagen verstreute Körnchen von Wahrheiten, versteckt in der Ecke hinter einem Vorhang gab es auch eine nackte Wahrheit,
nebeneinander lagen ausgebreitete geschminkte und ungeschminkte Wahrheiten,
Bücher mit Worten der Wahrheit, und Wahrheitskriterien die wie kleine Prüfwerkzeuge aussahen,
neben schön verdrehten Wahrheitsteilchen.
Ich wollte gleich bei meiner Begleiterin punkten und fragte die Verkäuferin nach reiner und ganzer Wahrheit, quasi lupenreine hochkarätige Wahrheit. Mit mürrischer Miene schätzte sie mich ab und schickte mich dann zu einem älteren Herrn in grauem Anzug mit Brille, dem ich meinen Wunsch wiederholte.
Zögernd bemerkte er „Aha“ und fragte nach. „Verzeihen Sie mein Herr, aber kennen sie den Preis dafür?“
Ich war bereit alles dafür zu bezahlen, koste es was es wolle, die ganze Wahrheit zu besitzen war es mir wert, eher aus Gewohnheit fragte ich höflich:“ Nein. Wie teuer ist sie denn?“.
„Wenn sie sie gleich mitnehmen,“ erwiderte der „ist der Preis der, dass sie nie wieder in Frieden leben werden.“
Ich war geschockt, mir lief es eiskalt über den Rücken, und meine Beine wurden wie Pudding.
Ohne meine Begleiterin, wäre ich im Boden versunken, und so machten wir kehrt und verließen
gemeinsam schweigend den Wahrheitsbasar. Und ich wurde traurig, als mir bewusst wurde,
dass ich wohl nie bereit sein würde für die absolute Wahrheit,
dass ich wohl immer noch ein paar Lügen bräuchte, bei denen ich mich erholen kann,
ein paar Mythen und Schönfärbereien, in die ich mich flüchten könnte,
ein paar Ausreden, um mich nicht mit mir selbst konfrontieren zu müssen …
irgendwann, vielleicht ein andermal, dachte ich mir später.
Übrigens, meine Begleiterin hätte sehr gerne noch die restliche Nacht mit mir verbracht,
wenn ich denn die 1000.-€ gehabt hätte, die sie ungelogen als Hostess von mir verlangte.
Und ich bin sehr glücklich, dass ich immer noch eine Ehefrau habe,
die sich verständnisvoll und tolerant zeigt, wenn ich sie belüge,
und die mich bestraft, wenn ich ehrlich bin.