Graue Schnauze
Weihnachten. - Er mochte diese Zeit nicht. Für ihn bedeutete es jedes Jahr Abschied. Abschied von seinen Kumpels und Kumpelinen, die er über das Jahr oder mehreren Jahren kennengelernt hatte. Ok, auch zwischendurch hieß es hin und wieder Abschied nehmen, aber nie war es so schlimm wie an Weihnachten.
Mehrfach am Tag kamen die Futtergeber und nahmen einen seiner Freunde mit. Wenn er auf der Hütte am Ende des Geheges lag und den Hals lang machte, konnte er noch einen letzten Blick von ihnen erhaschen, wenn sie von Badeschaum bedeckt, zehn Meilen gegen den Wind nach Frische rochen. Danach verlor sich ihr Duft für immer.
Er war und blieb der Dienstälteste. Graue Schnauze, dazu noch schwarzes Fell, glatt, Schlappohren und ohne jeden Reiz - keiner zeigte Interesse, unvermittelbar. Selbst die Futtergeber übersahen ihn meistens wenn sie zur Streichelrunde kamen. Ok, er war auch kein Schleimerhund, der sich ihnen anbiederte. Andererseits ließ er es sowieso nicht zu, dass man ihn streicheln konnte. Er machte um jede Hand einen Bogen, bis auf eine, die von seinem Lebensretter. Aber die Zottelkollegen hatten es definitiv einfacher sich einzuschmeicheln und auf sich aufmerksam zu machen. Sie blieben nie lange, maximal bis Weihnachten. Es waren viele tolle Kumpels dabei. Den einen oder anderen kannte er noch von der Straße, als sie gemeinsam um die Häuser zogen von Bukarest.
Irgendwann wurde es dann düster auf den Straßen. Blutüberströmte Kollegen, manche schon steif und ohne Leben, andere, die der Wind des Todes schon umwehte. Zweibeiner mit irrem Blick und Knüppeln bewaffnet, machten Jagd auf die Streuner. Das Leben auf der Straße war nicht mehr die endlose Freiheit. Die, die totgeschlagen oder überfahren wurden, hatten es vergleichbar noch gut, weil deren Tod schneller eintrat. Schlimmer traf es diejenigen, die stunden- oder tagelang von ihren Peinigern traktiert wurden, um zum Schluss als lebende Fackel bis zum Zusammenbruch auf der Straße zu stehen. Das alles und noch viel mehr hatte die 'Graue Schnauze' gesehen. Dagegen war das Leben jetzt im Gehege einfacher. Es gab zu fressen ohne das man jagen musste, nicht immer ausreichend, aber hier war er sicher vor dem Mob der Straße.
Viel Abwechslung gab es nicht. Das Gehege lag weit ab der großen Stadt, da wo man das Bellen, Winseln und Jaulen nicht hörte, wo sie keinen Menschen störten. Sie hatten Glück, hörten sie immer wieder, dieses Shelter, wie das Gehege eigentlich hieß, wurde von deutschen Tierschützern mehr schlecht als recht gefördert. Dadurch waren sie noch am Leben, auch die 'Graue Schnauze'. In den staatlichen Sheltern wurden die eingefangenen Hunde schnell getötet. Es gab eine Prämie für jeden toten Hund vom Staat, EU gefördert. 'Graue Schnauze' wusste nicht, was eine Prämie ist und auch nicht was Staat und EU bedeutet. Er hatte Glück im Unglück, damals in der Nähe der kleinen Kirche...
Knapp entging er den brutalen Schlägern, die seine Julischka, seine Streunergefährtin mit den blauen Augen, auf dem Gewissen hatten. Er ließ sie allein als er zur Futtersuche aufbrach. Ungern, aber sie musste doch regelmäßig etwas essen, sie trug doch ihre gemeinsamen Kinder unter ihrem Herzen. So ließ er sie zurück in der Mulde unter einem großen, Schatten spendeten Baum nahe der kleinen Kirche. Die Glocken hörte sie so gerne, wenn die Kleinen in ihrem Bauch ihr den Schlaf raubten. Als er mit einem Hasen in der Schnauze zurück kam, stieg ihm schon der Geruch des Todes in die Nase. Er lief schneller... und schneller... und ließ den Hasen fallen...
Was er noch von ihr vorfand, seiner süßen kleinen Julischka, schleicht sich seitdem jede Nacht in seine Träume und lässt ihn nicht mehr schlafen. Dann setzt er sich auf und heult sein Leid in die Nacht - jede Nacht seit drei Jahren.
Diese Geschichte wurde der deutschen Fotografin erzählt, die im Spätsommer in das Shelter kam, um eine Fotostrecke über diesen Ort für eine deutsche Zeitschrift zu machen. Durch den deutschen Tierschutz wurde sie auf dieses Shelter aufmerksam. Nun sprach sie mit dem Hundepfleger, der damals die abgemagerte 'Graue Schnauze' neben seiner toten Familie fand und ihn mitnahm.
Auch seine Nächte waren kurz seit diesem Tag und nicht nur durch das Heulen des Hundes sah er jede Nacht dieses schreckliche Bild, dass sich in seinen Kopf festsetzte, als er den extrem abgemagerten, heulenden Hund vor der kleinen Kirche fand. So etwas Grausames hatte er noch nie vorher gesehen und er schämte sich zutiefst zu der Rasse Mensch zu gehören, die zu so etwas Abartigem fähig war. Die Einzelheiten brachte er nicht über die Lippen, er weinte nur und so bekam jeder Zuhörer eine leise Ahnung dessen, was der Hundepfleger und die 'Graue Schnauze' erlebt haben mussten.
Emma, die Fotografin aus Deutschland, legte ihre Hände mitfühlend auf die des Pflegers und drückte diese. Dann nahm sie Ihre Kamera und suchte die 'Graue Schnauze' im Gehege. In der hintersten Ecke wurde sie fündig. Emma ging in die Hocke, da 'Graue Schnauze' flach im Staub lag. Sie sprach ganz leise zu ihm, dann bot sie ihm ihre Hände zum Beschnuppern an. Vorsichtig kam seine feuchte Nase näher. Mh, sie duftete ein ganz klein wenig wie seine Julischka oder waren es ihre blauen Augen, die sie an seine geliebte Freundin erinnerte? Er leckte ihr zweimal leicht über ihre Finger und zeigte ihr damit, dass er ihr vertraute. Emma wusste es. Sie begann nun ihn zu fotografieren. Besonders seine bernsteinfarbenen, traurigen Augen, die von seiner tiefen Trauer erzählten. Sie verabschiedete sich mit den Worten "ich verspreche dir, auch für dich wird es noch in diesem Jahr ein neues Leben geben, alter Freund!" Sie entfernte sich und er hing wieder seinen alten Erinnerungen nach. Hin und wieder erinnerte er sich an die freundliche Frau aus dem Spätsommer, besonders an ihre blauen Augen, wie die von Julischka.
Der Alltag kehrte wieder ein im Hundeasyl. An die Fotografin erinnerte man sich bald nicht mehr, der Alltag hatte die Leute wieder fest im Griff. Jeden Tag mussten sie sich um Neuaufnahmen kümmern und waren froh, wenn sie Paten im Ausland für einige von ihnen fanden. Dann wurden diese Hunde gebadet, vom örtlichen Tierarzt untersucht, bekamen einen länderübergreifenden Pass und wurden mit einem Tiertransport in die neue Heimat geschickt. Nach wie vor gab es mal mehr, mal weniger zu essen für die Tiere. Aber die Pfleger freuten sich über jede Spende und wenn es nur trockenes Brot war für die Tiere. Einen offiziellen Leiter gab es schon lange nicht mehr. Der hatte das Handtuch geschmissen, seine Nerven hielten das viele Leid auf Dauer nicht mehr aus. So führte der Pfleger, der damals die 'Graue Schnauze' fand leidlich das Shelter weiter. Auch er vergaß schnell die freundliche Fotografin aus Deutschland.
Dann eines Tages brach es wie eine Riesenwelle über ihnen ein. Was da auf einmal über sie hinweg rollte, hätten sie nie für möglich gehalten. Als erstes fuhr ein riesengroßer Truck vor und lud Baustoffe ab, Zäune, Pfähle, Holz, Fliesen, Dämm-Material. Danach folgten Einrichtungsgegenstände wie eine große Zubereitungsküche, eine medizinische Ausstattung, Möbel, Decken, Näpfe. Der Truck wurde von einem kleinen Bus begleitet, wo freiwillige Helfer aus Deutschland ausstiegen, um das Shelter in ein richtig schönes Tierasyl zu verwandeln. Teils schüchtern standen die überforderten Pfleger und Pflegerinnen vor den Deutschen und wussten nicht, was sie dazu sagen sollten. Einer von den Deutschen, der wohl der Leiter dieses Überfallkommandos war, drückte dann dem verdutzten Pfleger eine Eigentumsurkunde in die Hand, worin stand, dass das Grundstück, wo das Shelter drauf gebaut war und alles umliegende Land diesem Tierheim nun gehörte. Dann gab es eine Ernennungsurkunde für den Pfleger, der sich in den vielen Monaten um die Leitung bemühte und nun war er ganz offiziell der Direktor dieser Einrichtung.
Auch den Hunden blieb die Geschäftigkeit, die sich auf einmal auf ihrem Platz breit machte, natürlich nicht verborgen. Selbst 'Graue Schnauze' spürte die Unruhe, auch wenn es ihm immer wieder gelang sich in eine ruhige Ecke zu verziehen. Er sah fremde Leute, die die Zäune erneuerten, die größere Gehege bauten, das Haus dämmten. Die Zellen abrissen und stattdessen schöne Aufenthaltsräume für die Hunde drinnen bauten, warme Liegeplätze mit Körbchen und Decken in ausreichender Anzahl für alle. Draußen entstanden viele neue Hütten und schattige Plätze. Er sah die Futtergeber, die in dem neuen Vorratsraum Dosen und Säcke stapelten. In dieser Zeit gingen auch viele Kumpels von ihm weg, obwohl es noch nicht Weihnachten war. Ihm wurde der Trubel bald zu bunt und er legte sich in den äußersten Winkel des neuen Geheges und kam auch zum Fressen nicht mehr zum Futterplatz. Die Futtergeber brachten ihm sein Essen in einem schönen Napf, in einem zweiten sogar Wasser, was eigentlich immer rar war in der Vergangenheit.
Und dann, als endlich wieder Ruhe im Shelter eintrat, in der Weihnachtszeit, kam sein Lebensretter mit einer großen dicken Fleischwurst und gab sie ihm. "Hier mein Freund, die hast du dir verdient. Das schöne Tierheim haben wir allein dir und der deutschen Frau zu verdanken!"
In der Tat. Als Emma wieder in Deutschland war, bot sie ihre Fotostrecke und die Geschichte von 'Graue Schnauze' einer großen seriösen Zeitschrift an, die diese in ihrer nächsten Ausgabe im November druckte und somit eine Riesenwelle der Hilfsbereitschaft auslöste. Anfragen von Patenschaften und Adoptionswilligen wurden an das Shelter weitergeleitet. Auch für 'Graue Schnauze' kamen viele Anfragen, die aber allesamt vom neuen Direktor abgelehnt wurden. Die Pfleger verstanden es nicht und waren empört. Er lächelte nur leise und beschwichtigte sie mit seinen Händen. Und dann, am Heiligen Abend, fuhr ein großer Geländewagen aus Deutschland vor. Die Gäste wurden auf das Herzlichste von ihm begrüßt. Es war Emma mit ihrer Familie. Während ihr Mann und ihre beiden Kinder beim Direktor in der warmen Stube blieben und versuchten sich mit Händen und Füßen zu unterhalten, ging Emma derweil in das neue Gehege.
Es war ein kalter, aber trockener Tag. Die Sonne strahlte vom Himmel, so als wüsste sie, dass jetzt etwas ganz besonders Schönes passierte. Es waren noch gut zwei Dutzend Hunde im Gehege, nicht Hunderte, wie bei ihrem ersten Besuch. Diese tollten auf der mit wenig Schnee bedeckten Wiese oder leckten die Reste aus den Futterschüsseln heraus. Emma schaute sich um und sah, wie damals, in der hintersten Ecke 'Graue Schnauze' liegen. Emma hatte ein Hundegeschirr mit einer Leine dabei und als sie das Gehege queren wollte, standen die vorher noch um sie herum wuselnden Tiere links und rechts des Trampelpfades und bildeten eine Gasse, so als wüssten sie, dass es heute ein ganz besonderer Tag für 'Graue Schnauze' werden sollte.
'Graue Schnauze' hob den Kopf und sah die Frau mit den blauen Augen vor sich stehen. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr und er stand auf, ließ sich bereitwillig das Geschirr überstreifen und ging an der Seite der Frau nach unten. So kam es, dass 'Graue Schnauze' sein eigenes, besonders schönes Weihnachten erlebte, denn noch am gleichen Tag ging es für ihn in die Fremde - seinem neuen Leben entgegen.
Für diese wundervolle Geschichte bekam
Lady_SanftMut eine Feder!