T R A U M F E L L
Drei Tage waren es, die ich kürzlich auf der Schwäbischen Alb verbrachte. Ich hatte mich in einem einsam gelegenen, aber lauschigen und sehr gemütlichen Gasthof einquartiert, um in aller Ruhe und in der Abgeschiedenheit dieser kargen und dennoch so reizvollen Landschaft mein neues Buch zu überarbeiten. Man kann nicht immer nur stundenlang über einem Manuskript sitzen und dann noch einen klaren Kopf bewahren. So unternahm ich immer wieder ausgedehnte Spaziergänge und genoss die herrliche Luft, ließ mir den Wind ins Gesicht blasen und durch die Haare fahren – und hing meinen Gedanken nach. Das Buch war nicht leicht zu schreiben, denn es ging um ein heikles Thema – um einen fairen und liebevollen Umgang der Geschlechter miteinander.
Nein, nicht was Sie jetzt vermutlich denken: Aha, ein Frauenbuch also. Es ging um beide Seiten, um Frauen und Männer. Aber das ist eine andere Geschichte …
Bei einem dieser Spaziergänge ruhte ich mich für einen Augenblick aus. An einen herrlichen, alten Baum gelehnt, ich glaube, es war eine Eiche, die am Wegesrand stand und mich wie magisch angezogen hatte. Mag sein, dass ich ein wenig eingenickt war, denn irgendwann blickte ich auf und sah, dass mir gegenüber ein alter Mann auf einem mit Moos bewachsenen Baumstumpf saß. Ihm zu Füßen ein prachtvoller Hund, so ganz nach meinem Geschmack. Einer dieser seltenen Hunde, die fast aussehen wie Wölfe und mich immer wieder aufs Neue beeindrucken.
Nun will ich mich nicht über Hirtenhunde auslassen und meine geneigten Leser mit hier unangebrachten Schwärmereien langweilen.
Der alte Mann bemerkte wohl meinen bewundernden Blick auf das herrliche Tier, das scheinbar ruhte und – den Kopf auf seine Pfoten gelegt – mich dennoch hellwach und sehr aufmerksam im Auge behielt.
„Ja so ist es“, sagte der Mann und kramte umständlich in einem Beutel, bis eine alte Pfeife zum Vorschein kam. „Tiere sind besser als Menschen.“ Dann zündete er die Pfeife an, die offenbar schon gestopft gewesen war, und tat zwei, drei genüssliche Züge. „Ach, ist das herrlich, nach Jahren mal wieder ein Pfeifchen zu schmauchen.“ Und dann tätschelte er seinem Hund den Hals.
„Sie rauchen demnach sonst nicht?“, fragte ich ihn verwundert.
„Schon“, gab er zur Antwort, „doch ich komme derzeit so selten dazu.“
Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf und hoffte sogleich, er habe das nicht bemerkt. Keinesfalls wollte ich ihn kränken. Aber seine Aussage verwunderte mich schon sehr, wenn ich auch nicht den Mut fand, ihn weiter zu befragen. Stattdessen gab ich mich leutselig und ging auf seine Aussage über Tiere und Menschen ein: „Manchmal scheint es so. Ob es aber wirklich so ist?“
„Glauben Sie mir, es ist so“, sagte er mit einer erstaunlichen Bestimmtheit. „Ich muss es schließlich wissen.“
„Darf ich höflich fragen, wie Sie mit solcher Entschiedenheit darauf kommen?“
„Aber sicher. Wissen Sie, ich brenne förmlich darauf, Ihnen eine Geschichte erzählen zu dürfen, eine wahre Geschichte, die sich hier zugetragen hat, und die Ihnen zeigt, dass ich das richtig sehe. Und wenn Sie mögen, Sie sind ja schließlich Schriftsteller, schreiben Sie meine Erzählung auf und bringen sie unter die Leute.“
„Na dann, lassen Sie mal hören!“ Für gute Geschichten bin ich immer zu begeistern. Und selten genug hat man die Gelegenheit, von alten Menschen all diese Erzählungen zu hören, die in bestimmten Gegenden überliefert wurden. Ob wahr oder unwahr, meist sind es überaus interessante Begebenheiten, von welchen man erfährt. Aber woher konnte der alte Mann wissen, dass ich in der Tat Schriftsteller bin? Und wieder fand ich nicht den Mut, ihn danach zu fragen, etwas hielt mich davon ab.
„Hier lebte mal vor vielen Jahren“, begann er, „es mag sicher an die fünfzig Jahre her sein, vielleicht auch mehr ….“, – er ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen und murmelte: „Welches Jahr haben wir eigentlich?“ –, doch auf eine Antwort wartete er nicht, sondern fuhr einfach fort, während ich noch verwirrt überlegte, was diese Frage wohl zu bedeuten habe: „Jedenfalls lebte seinerzeit hier ein alter Schäfer. Ein herzensguter Mensch. Aber die Verbitterung hatte sein Herz versteinern lassen. Binnen weniger Jahre hatten rätselhafte Krankheiten alle ihm anvertrauten Herden dahingerafft, und so ging es ihm immer schlechter. Außerdem glaubten die Bauern, es läge ein Fluch auf ihm, keiner mehr wollte ihm seine Schafe zum Hüten geben. Mehr und mehr wurde er misstrauisch beäugt und irgendwann begann man, schlecht über ihn zu reden. Sogar das höchst eigenartige und absurde Gerücht kam auf, die Schafe würden gar nicht krank, sondern von seinem Hund gefressen werden, der von den meisten als Wolf bezeichnet wurde und vielen nicht geheuer war. Tauchte der Schäfer mal in einer Gastwirtschaft auf, um in Ruhe sein Pfeifchen zu rauchen und ein Bier zu trinken, was selten genug vorkam, mieden die Leute ihn und seinen Hund immer auffälliger. Nun gut, er war ohnehin nicht sehr gesprächig, doch die Abneigung der Menschen blieb ihm auf Dauer nicht verborgen. Und man setzte ihm mit der Zeit immer heftiger zu. So beschloss er eines Tages, entweder die Gegend zu verlassen und irgendwo neu anzufangen – oder aber seinem Leben ein Ende zu setzen.“
Der Erzähler warf mir verstohlen von der Seite einen Blick zu, als wolle er meine Reaktion prüfen. Dann zündete er seine Pfeife, deren Glut offenbar erloschen war, ein weiteres Mal an, doch sie wollte wohl nicht mehr so recht brennen. Also legte er sie beiseite und blickte mir nun fest in die Augen. „Sie fragen sich nun, was das alles mit meiner Aussage zu tun hat?“
Ich nickte und spürte mit Freude, dass sein Hund mich zu mögen schien. Fest schmiegte er sich an meine Beine, während er seinem Herrn offenbar ebenfalls aufmerksam zuhörte. Und ich konnte nicht anders, als mich zu ihm zu beugen und sein Fell zu streicheln.
Noch niemals hatte ich solches Fell bei einem Hund gefühlt. Es war einfach traumhaft, dieses Tier zu berühren, sein Fell zu spüren. Und es war ein verzauberter Augenblick, ein magischer Moment, der mir wohl für immer im Gedächtnis bleiben wird.
„Nun gut“, fuhr der Mann währenddessen fort, „der Schäfer hatte einen ihm treu ergebenen Hund. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Hund ihm seit jeher der beste Freund gewesen war. Doch jetzt, in seiner Verbitterung und Not, sah der Mann in dem Tier nur ein unnötiges Anhängsel, das ihm zur Last fiel. Zudem war der Hund bereits recht alt und nicht mehr allzu gut zu Fuß.“
Er schluckte, und es fiel ihm auf einmal sichtlich schwer, weiterzuerzählen. Ich hatte den Eindruck, die Geschichte ging ihm doch sehr ans Herz. „Nun ja, er entschied eines Tages, seinen Hund beiseite zu schaffen. Nicht weit von hier schien ihm ein geeigneter Platz zu sein.
Am Albrand, dort drüben in etwa einhundert Metern“ – und mit diesen Worten wies er nach rechts – „waren ihm einmal zwei, drei Schafe an einem steilen Felshang abgestürzt, bevor sein Hund die Herde von dort hatte wegtreiben können. Also begab er sich mit seinem Tier auf den Weg dorthin. Oben angekommen, blickte ihm Ragnar, so war der Name des Hundes, erwartungsvoll an und wartete wohl auf einen Wink seines Herrn. Welche Aufgabe würde er hier, so nah am Abhang, ohne Herde und so ganz allein, für ihn haben? Welche auch immer, er würde sich bemühen, sie wie immer treu und zuverlässig zu erfüllen. Aufkommende Tränen ließ der alte Schäfer nicht zu, sondern verschloss sein Herz, so fest er nur konnte, als er niederkniete. Trotzdem beschloss er plötzlich, dass ein Sturz hier die Felsen hinunter für seinen alten Freund ein unwürdiger Tod wäre – und ließ von seinem Vorhaben ab.
Auf dem Rückweg durch den Wald gelangte er an einen Bach, den es wohl nicht mehr gibt, denn es muss irgendwo hier gewesen sein. Sein Hund und er nahmen beide einen Schluck von dem klaren Wasser. Als der Schäfer sich auf einen Baumstumpf setzte, um nachzudenken, was nun zu tun sei, entdeckte er einen großen Stein. Ächzend erhob er sich und holte ihn. Nur mit Mühe konnte er den Stein heben und trat hinter Ragnar. Der hatte im Bach noch ein erfrischendes Bad genommen, schüttelte sich gerade und sah seinen Herrn verwundert an. ‚Was für ein Spiel soll das denn werden?’, dachte er vermutlich.
Da warf der alte Mann den Stein mit aller Kraft auf den Kopf des Hundes. Er konnte noch den fassungslosen Blick von Ragnar sehen, dann hörte er ein letztes Jaulen und wandte sich rasch ab.
Plötzlich wurde er doch von Tränen übermannt. Torkelnd drehte er sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Tier, das ihm stets treu ergeben gewesen war. Irgendwie drängte es ihn, sich doch noch mit einer kleinen Zärtlichkeit zu verabschieden, mit einem letzten Streicheln über den Kopf. Doch da stolperte er, konnte sich nicht mehr fangen und fiel in den Bach. Hart schlug sein Kopf auf einem Stein auf, und er verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, lag sein Kopf nicht mehr im Wasser. Und direkt neben ihm lag Ragnar, tot, und den Ärmel seiner verschlissenen Jacke noch im Maul. Offenbar hatte der schwer verletzte Hund in den letzten Sekunden seines Lebens seinen Herrn aus dem Wasser gezerrt, bevor er starb. Vielleicht können Sie sich ausmalen, was in diesem Augenblick in dem alten Schäfer vorging.“
Ich nickte und konnte nur mit Mühe an mich halten, um nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen.
„Tja, mein Lieber“, sagte der Mann, „so war das damals. Übrigens sollte ich vielleicht noch erwähnen, dass der Schäfer daraufhin seinen toten Hund auf die Arme nahm und sich weinend zu dem Abgrund da drüben schleppte. Und dort, so sagt man, habe er sich wohl, seinen Hund fest an sich gedrückt, hinuntergestürzt. Man hat ihn allerdings nie gefunden, das Gelände ist wohl zu unwegsam und voll von dichtem, nahezu undurchdringlichem Gestrüpp. Und in den Jahren danach verirrte sich nur selten ein einsamer Wanderer an diesen Ort.“
Versonnen und zutiefst betroffen blickte ich vor mich hin und merkte nicht, wie der Erzähler sich erhob. Ich hörte wie aus weiter Ferne noch „Danke fürs Zuhören“, und wie er seinen Hund zu sich rief. Dann war er verschwunden.
Irgendwann erhob ich mich und schüttelte und streckte meine Glieder, um mich auf den Weg zurück in das Gasthaus zu begeben, in dem ich ein Zimmer gebucht hatte. Dort fragte ich die Wirtsleute, ob sie etwas von einem alten Schäfer und seinem Hund wüssten, der vor vielen Jahren hier gelebt habe und eines Tages verschwunden sei.
Sie schüttelten den Kopf, doch die Frau sagte: „Einen Moment“ und ging ans Telefon. Nachdem ich mir etwas zu essen bestellt hatte und gerade das Manuskript aus meiner Tasche hervorkramte, trat sie an meinen Tisch und meinte, die alte Suse aus dem nächsten Ort wisse davon. Es sei der alte Georg gewesen, ein komischer Kauz, den man Pfeifenkopf genannt hatte. Der Grund dafür wäre gewesen, dass er in den Jahren vor seinem Verschwinden als Schäfer völlig versagt und zugleich immer eine Pfeife im Maul gehabt habe, und so einen nenne man hier in der Gegend auch heute noch einen Pfeifenkopf. Keiner wisse, was aus ihm geworden sei, er und sein Hund Ragnar seien eines Tages verschwunden gewesen. Ob ich noch mehr wissen wolle?
Das genüge mir, antwortete ich freundlich und dankbar und gab an diesem Abend besonders reichlich Trinkgeld. An meinem Manuskript konnte ich allerdings nicht mehr arbeiten, mir ging die Geschichte einfach nicht mehr aus dem Kopf. Und so verbrachte ich eine seltsam unruhige Nacht, träumte von alten Schäfern und ihren Hunden, von einem alten Mann, der Pfeife rauchte und Geschichten erzählte und seinem wundervollen Hund. Mitten in der Nacht saß ich nach einem dieser Träume auf einmal hellwach im Bett: Ich hatte diesen etwas sonderbaren und sehr plötzlichen Abschied des Erzählers noch einmal geträumt. Und dabei war mir etwas eingefallen. Erst im Traum merkte ich eine Kleinigkeit, die mir am Tag zuvor entgangen war. Also stand ich auf, machte mir ein paar Notizen und einen Spaziergang, bei dem ich die aufgehende Sonne genoss.
Gleich nach dem Frühstück machte ich mich auf den Weg zu diesem Platz, an dem ich eingenickt war und den Erzähler getroffen hatte. Tatsächlich lag auf dem Baumstumpf, fast völlig von Moos zugewachsen, eine uralte und beinahe verrottete Pfeife, die mir gestern gar nicht aufgefallen war. Ich konnte mich lediglich daran erinnern, dass der alte Mann eine Pfeife geraucht und neben sich gelegt hatte. Und es war gut möglich, dass er sie hier vergessen haben könnte. Auch das war eine alte Pfeife gewesen, aber kein Vergleich mit dieser hier. Und sie wäre gewiss nicht nach nur einem Tag schon beinahe zugewachsen.
Im Gestrüpp neben dem Baumstumpf fanden sich, wenn ich mich nicht sehr irre, auch die Spuren eines alten, längst ausgetrockneten Bachlaufs beziehungsweise das, was davon übrig war. Und weil mir die urplötzliche Erkenntnis aus meinem Traum zu verblüffend war, um sie einfach zu ignorieren, beschloss ich, den besagten Abhang zu suchen. Da stand ich nun, blickte hinunter und fragte mich, was hier wohl einst geschehen sein mochte. Konnte es sein, dass die Geschichte sich tatsächlich so zugetragen hatte?
Auf einem weiten Umweg wollte ich nun unbedingt zu der Stelle gelangen und mich dort durch das dicht wuchernde Gestrüpp kämpfen, wo vermutlich ein Mensch und ein Hund liegen würden, wenn sie von diesem Abhang stürzten. Ohne begründen zu können, warum ich mir da so sicher war, wusste ich, dass ich dort die Überreste von zwei Skeletten finden würde. So war es dann auch. Ich sprach ein inbrünstiges Gebet und ließ sie dort ruhen, für immer vereint.
Übrigens: Mir war das leider zunächst nicht aufgefallen, doch als der Erzähler sich bei mir fürs Zuhören bedankt, sich verabschiedet und nach seinem Hund gerufen hatte, konnte ich laut und deutlich vernehmen: „Komm, Ragnar, wir müssen weiter. Es geht zurück nach Hause. Endlich haben wir es jemandem erzählen können.“ Die weiteren Worte hatte ich nicht verstanden, sie waren vom Wind verweht worden ...
(Diese Geschichte wurde bereits veröffentlicht. Ich stelle sie mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages in dieses Forum und unsere Gruppe. Erschienen ist sie in der lesenswerten und berührenden Anthologie "Tierisch gute Geschichten", hrsg. von Tamara Pirschalawa im Belletris-Verlag. Ein ganz besonderes Buch!
Und übrigens eine Anthologie des Internetforums "Literaturloge.de"
Ich wollte mal das Experiment wagen, wie eine derartige Story hier bei uns im Joyclub aufgenommen und beurteilt wird.
Viel Freude beim Lesen wünscht der Antaghar)