New York im Winter
New York im Winter
(c) 2016 by TRB
Frierend bog ich von der Henry in die Clark Richtung Fort Stirling Park. Ich fror wie ein Schneider, aber den Kragen des ehemals schwarzen Parka konnte ich nicht höher ziehen. Schneeflocken und Kälte krochen mir den Hals herunter und die Knie herauf. Meine Eier fühlten sich an, als hätte die Leichenstarre schon eingesetzt und mein Gesicht war starr. Links ein japanisches Restaurant. Reiche Leute delektierten sich an California Rolls, Maki-Rollen und Wasabi-Sauce. In dezenten Anzügen, farbenfrohen Kleidern, aufgespritzten Lippen und dementsprechenden Puppengesichtern. Zwei Dinge konnte ich nie begreifen. Zum Einen, warum Männer auf Frauen standen, in deren Gesichtern keine einzige Regung mehr zu erkennen war, deren Titten so natürlich wirkten, als hätten sie ein transparentes Dirndl an und meine Nemesis: Tattoos. Und zum Anderen, warum diese Frauen sich dem Dogma fügten. Irre Welt. Sie hatte es verdient, zu sterben.
Gegenüber ein weiteres japanisches Restaurant. Pearl Harbour war in die Hose gegangen, die Japaner versuchten es jetzt nicht mit Bomben, sondern mit Sashimi und Tempura. Klingt auch wie Giftgas. Ich stapfte weiter durch den Schnee und fror. Noch eine Meile, dann war ich in meinem Versteck. Wenigstens windgeschützt. Unter meinem Mantel hatte ich die Beute versteckt und sie wurde mit jedem Schritt schwerer. Heute schon der dritte Sack mit Feuerholz. Kurz vorm Park, nach der Ecke Clark Street / Willow Street, nach dem illuminierten Kreuz der Danish Seamen Church, war eine Leuchtreklame angebracht. Ganz unauffällig. „Millers“ stand da in Neonrot, mehr nicht. Durch die beschlagenen Scheiben konnte ich nicht viel sehen, außer, dass der Laden wohl leer war und das Licht gerade ausreichte, die Theke mühsam zu beleuchten. Das Wort „Spelunke“ kam mir in den Sinn.
Mein Körper hatte die Entscheidung allein getroffen. Bevor es mir bewusst war, hatte ich die Klinke der Tür schon in der Hand. Im Nu saß ich auf dem uralten Drehstuhl mit dem abgenutzten Lederbeschlag. Der Barmann war wohl damit beschäftigt, den Bierhahn auszukratzen und bemerkte mich nicht. Oder wollte mich nicht bemerken. Es konnte ihm egal sein, Bier gab es heute nur aus Flaschen.
„Hallo, mein lieber Lloyd“, imitierte ich Jack Nicholson aus „Shining“.
„Hallo, Mister Torrance“, stieg „Lloyd“ direkt ein und ich freute mich. Den Sack Feuerholz ließ ich unter meinem Parka langsam zu Boden gleiten, „Bier?“
„Nein. Jack bitte.“
„Lloyd“ taxierte mich. Wollte wohl herausfinden, ob ich zahlen konnte. Mit steifen Fingern nestelte ich einen Andrew Jackson aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.
„Ben Franklin ist aus“, lamentierte ich. „Lloyd“ sah mich staunend an. Ich war obdachlos, aber weder blöd noch arm.
„Einen Woodrow Wilson hätte ich ihnen auch nicht zugetraut“, lachte er. Wilson, der 28ste Präsident, der es auf den 10 000 Dollarschein geschafft hatte.
Während „Lloyd“ mir das Glas auf einen Filzdeckel stellte und den Whisky eingoss, öffnete sich erneut die Tür. Ein Schwall kalter Luft ließ mich die Schultern einziehen und ich stellte einen Fuß auf meine Holzscheite.
Der Mann, der dort herein kam, war groß. Mindestens Einmeterachtzig. Er trug einen Farmerhut. Schwarz, mit herabhängenden Seiten. Der Schnee hatte den Hut fast weiß gefärbt. Sein Gesicht war hinter dem zum Kinn spitz zulaufenden, bereits weißen Bart kaum zu sehen. Als er den Hut abnahm, waren die Augen das Auffälligste an diesem Mann, den ich durch die verspiegelten Regale hinter dem Tresen gut sehen konnte. Schwungvoll entledigte er sich seiner Jacke, hängte sie auf und setzte sich neben mich.
„N´aamd“, grummelte er und erinnerte mich an einen mundfaulen Farmer aus dem Mittelwesten und er sah genau so aus.
„Hallo“, erwiderte ich und bestaunte das Outfit des Mannes. Grauer Drillich, ein einfaches Leinenhemd, das schon bessere Zeiten sah und breite, abgetragene Hosenträger. Das erstaunlichste aber war das Messer, das in einer Lederscheide an seiner linken Seite vom Gürtel hing. Eine 38 cm lange Bowie-Klinge mit doppelter Blutrinne.
„Sie sind nicht von hier?“, fragte er und bedeutete dem „Lloyd“, dass er das gleiche haben wollte, wie ich.
„Mein Dialekt hat mich verraten, was?“
„Yeah. Seit Arnold Senator war, kennt jeder die Deutschen.“
„Arnold ist aber Österreicher“, bemerkte ich.
Der Mann drehte sich herum und sah mich an. Ich war entsetzt. Solche Augen hatte ich noch nie gesehen. Mir wurde flau im Magen, als ob Millionen Maden an den Darmwänden knabbern würden. Es waren alte Augen. Sehr, sehr alte Augen. Den Ausdruck darin konnte man nur mit kalter Glut beschreiben. Ein mühevoll unterdrücktes Feuer von archaischer Kraft.
„Ich war eine Zeitlang in Nürnberg, s´ lange her“, grummelte er und drehte sich wieder zur Theke.
„War nicht gut in Deutschland?“
„Kann ich nicht sagen. War anstrengend.“
„Tom“, sagte ich und reichte ihm meine Hand.
„Kain“, raunte er und schlug ein. Fester Händedruck, raue Haut. Der Mann war arbeiten gewohnt. Wenn der viele Schnee nicht wäre, könnte man meinen, ein Farmer hätte das hart erarbeitete Gut seiner Hände zum Verkauf her gebracht und würde sich jetzt einen genehmigen.
„Wo ist Abel?“, scherzte ich. Das kam aber wohl nicht gut an.
„Abel ist im Himmel, Freund.“
„Das hat er sich auch verdient, nicht wahr?“, versuchte ich, einzulenken.
Wiederum drehte er sich zu mir herum.
„Was weißt du denn davon?“
„Nur, dass Kain Abel umgebracht hat.“
Kain nickte bedächtig.
„Und das allein reicht, in den Himmel zu kommen?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Klar, war ja nicht seine Schuld.“
„Und wenn doch?“
„Was?“
„Wenn das, was in der Bibel steht, Quatsch ist, was dann?“
„Naja, das kann ja keiner mehr bezeugen, oder?“
„Genau wie andersrum, kann auch keiner bezeugen.“
„Stimmt allerdings.“
Er orderte wortlos Nachschub für beide.
„Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Dauert auch nicht lange. Okay?“
„Legen sie los“, sagte ich und prostete ihm zu.
„Adam und Eva. Sie hatten zwei Söhne, stimmts? Die Geschichte mit dem Apfel und meiner Tante schenken wir uns.“
„Nee, Moment. Tante? Wie jetzt?“
„Adams erste Frau Lilith. Meine Tante, wenn man so will.“
Verdammt Axt, der Typ ging in seinem Namen echt auf.
„Okay, gebongt. Eva war Adams zweiter Versuch.“
„Nein, es war Gottes zweiter Versuch. Vater war ein… einfach gestrickter Mann. Tante Lilith war, als der Herr sie schuf, Adam vollkommen ebenbürtig und gleichberechtigt. Pa mochte das aber nicht. Sie trennten sich und Tante Lilith verzog sich. Man munkelt, sie hätte sich als Schlange verkleidet an Eva rangemacht und meiner Mutter eine Quitte aufs Auge gedrückt.“
„Äh Moment, war das nicht ein Apfel?“
„Apfel? Nein, gab es damals noch nicht.“
„Oh.“
„Genau. Meine Eltern bekamen zwei Kinder. Abel und mich. Und wie das bei Brüdern so ist, streiten die sich auch einmal. Einmal war es besonders schlimm und Abel rannte fort. Ich weiß nicht einmal mehr, worum es ging. Drei Tage lang war er weg und wir machten uns Sorgen. Wir suchten und suchten über Pischon, Tigris, Euphrat und Gihon hinweg. Er war aber weg. Eines Tages stand er wieder vor der Tür. Von einem Augenblick auf den Anderen. Es war alles wie zuvor, aber auch nicht. Abel war anders, er hatte sich verändert. Schweigsam war er und eigenbrötlerisch. Er hütete die Herde und bewegte ich immer weiter weg vom Haus. Da ich für den Acker zuständig war, konnte ich das nicht. Eines Tages folgte ich ihm. Das war ein Fehler. Ich erwischte Abel, wie er das Blut einer Ziege trank. Er war vollkommen verzückt und seine Augen waren glühend rot. Er lachte mich aus und bot mir das Herz der Ziege an. Mir wurde klar, dass mein Bruder nicht allein zurück gekommen war. Ein Dämon hatte Besitz von ihm ergriffen. Voller Stolz verriet er mir seinen Namen. Azazel. Ich drohte, ich flehte, ich bettelte, meinen Bruder in Ruhe zu lassen, aber nichts half. Azazel war ein Teufel. Abels unsterbliche Seele war verloren. Ich hatte unter dem Gewand den Bronzeschaft, mit dem ich den Pflug schärfte. Den wollte ich dem Dämon ins Herz rammen, aber der lachte nur. Denn Abel würde mit ihm sterben und beide in die Hölle fahren. Azazel schlug vor, dass er Abel nur in Ruhe lassen würde, wenn er einen Ersatzkörper bekäme. Ich bot ihm meinen an, und so geschah es. Azazel fuhr in mich und ich verlor die Kontrolle. Ich bekam wachen Geistes mit, wie ich den Bronzeschaft nahm und den vollkommen überraschten Abel erschlug. Damit wurde ich zum allerersten Mörder der Geschichte. Abel allerdings kam in den Himmel. Und ich bin verdammt in alle Ewigkeit. Gebrandmarkt als der Vater des Mordes.“
„Aber das stimmt doch nicht!“ entrüstete ich mich, „wenn das stimmt, ist Azazel der Mörder!“
„Für die, die es wissen, ja. Aber für jeden, der von außen zusieht, ist Kain ein Mörder. DER Mörder. Und bei aller Liebe, nach so vielen Tausend Jahren bin ich mit Azazel verschmolzen. Ich bin jetzt beide. Und ich habe mehr Menschen umgebracht, als jeder andere.“
Er sah mich an. Seine Augen waren schwarz, umrahmt von feurig-roter Lohe. Es lag eine urwüchsige Kraft darin, aber auch Tausend Jahre Qual.
„Warum erzählen sie mir das alles?“
„Weil Gott es so wollte. Mach deine Jacke auf. Siehst du den dunklen Fleck auf deiner Schulter? Vorn am Schlüsselbein?“
„Das ist ein Muttermal. Das hatte meine Mutter mal.“, versuchte ich einen billigen Scherz.
„Nein, Bruder, das ist ein Kains-Mal. Das bekommt jeder, der Menschen umbringt. Jeder. Ich weiß, warum du dich hier versteckst, leugne es nicht. Ich sehe deine Augen. Der Tod treibt in dir sein Unwesen.“
Ich winkte Lloyd. Und er ließ die Flasche gleich da.
„Okay, erzähls mir.“