Isabelle
Es war ein wunderbarer Sommertag. Ein paar Schäfchenwolkchen standen auf der Himmelskoppel, die Vögel zwitscherten als gäbe es kein Morgen mehr und in der Luft lag ein Potpurri von unzähligen Blütendüften.Isabelle saß auf der Wiese im Garten. Ihre kleinen blonden Löckchen spiegelten jeden noch so kleinen Sonnenstrahl wieder und in ihrem weissen Kleidchen wirkte sie wie ein Zitronenfalter, der sich vom anstrengenden Flug erstmal auf der Wiese ausruhte. Es war ein Anblick, den Kinkade nicht besser hätte malen können.
Sie hielt eine Margarite in der Hand und zupfte mit einem leicht schmollenden Blick das erste Blütenblatt ab. "Sie liebt mich.", entglitt ihr dabei leise über die süssen kleinen Lippen und während das weisse Blatt vom Wind zu Boden getragen wurde, folgte auch schon ein: "Sie liebt mich nicht." Isabelle hielt dieses Blatt etwas länger in der Hand und betrachtete es von allen Seiten. Alles nur wegen diesem doofen Benny. Benny hier, Benny da...Benny Benny Benny
Mit einer ausgestreckten Zunge liess sie nun auch dieses Blatt fallen und zupfte sogleich das nächste heraus. "Sie liebt mich." Sagt sie immer. Hab dich lieb, mein Schatz. Na und?
Es folgt wieder ein:"Sie liebt mich nicht." Und auch hier hielt Isabelle wieder etwas länger inne. Sie hat gesagt, wir spielen gleich was zusammen. Und was ist? Nichts ist! Sie hats einfach vergessen. Benny vergisst sie nie. Der braucht ja nur zu schreien, dann springt sie. Ihr Gesicht wurde ernster und das Blütenblatt hatte nicht die leiseste Chance gegen ihren Daumen und Zeigefinger. Es wurde einfach zerquetscht. Das nächste Sie-liebt-mich-Blatt wurde kommentarlos gerupft und weggeworfen, um Sie-liebt-mich-nicht schnellst möglich Platz zu verschaffen. Bevor es diesen Hosenscheisser gab, war es viel schöner. Papa hat auch schon gesagt, daß er es satt hat. Hab ich selbst gehört. Aber sie hört ja nur wenn Benny schreit. "Sie liebt mich." Pah, sie liebt Benny!
Mit einem verächtlichen Blick legte sie das Blatt weg, so wie ihr Vater Bennys beschissenen Windeln in die Tonne warf, mit rümpfender Nase und den Arm weit von sich gespreizt. Dabei fiel ihr Blick aufs Haus. Genauer genommen auf ein ganz bestimmtes Fenster. Da liegt sie grad mit Plärrbaby und hält Mittagsschlaf und dabei wollte sie mit mir was machen. Eine Träne huschte über Isabelles Wange und etwas in ihr tat weh, einfach nur weh, doch sie schüttelte dieses Gefühl ab und widmete sich dem nächsten Sie-liebt-mich-nicht. Ihr war es sogar egal, als Papa meinte, er geht, wenn sich nichts ändert. Das kann ihr doch nicht egal sein. Ja, sie hat ja Benny. Und ich? Isabelle legte dieses Blatt behutsam auf ihr Knie und fuhr mit dem Zeigefinger langsam über die Oberfläche. Ich hab Papa! Und die beiden braucht keiner! Sie pustete das Blatt weg und beobachtete wie es davongetragen wurde, als plötzlich ein Aufschrei im Haus Kinkades Bild durchschnitt. Isabelle sprang auf, sah zum Haus und lief wie ein Reh auf der Flucht über die Wiese zum Hintereingang. Sie rannte durch die Küche, ihr Herz raste, irgendetwas fiel hinter ihr auf dem Boden, doch sie drehte sich nicht um, sie rannte weiter, bis sie im Flur stehenblieb, mit weit aufgerissenen Augen und gelähmt von dem Anblick, der sich ihr bot. Ihre Mutter lag dort auf dem Boden. Die Beine streckten sich über ein paar Stufen der Treppe aus, während ihr Oberkörper am Treppenansatz Platz gefunden hatte. Der Kopf und die Arme waren verdreht und aus der Nase tropfte etwas Blut. Isabelle starrte ihre Mutter stillschweigend an und sie starrte ebenso zurück. Minuten schienen zu vergehen, bis daß das eingefrorene Lockenköpfchen bemerkte, daß irgendwas unter der Bluse ihrer Mutter zuckte. Ganz vorsichtig näherte sie sich und hob mit zwei Fingern den Stoff etwas hoch, um einen Blick darunter erhaschen zu können. Eine kleine braune Pfote streckte sich ihr abermals zuckend entgegen. Isabelle schrie auf. "Wuschel! Oh nein, nicht Wuschel!". Schnell schob sie ihre Mutter beiseite und befreite verzweifelt einen kleinen Hundewelpen von der Last. Isabelle weinte bitterlich und drückte ihren Wuschel, der just in diesem Moment den Todeskampf verlor, an sich. Sie schrie sich das Herz aus der Seele, als ihr klar wurde, daß es nie wieder einen Wuschel geben würde und ihre Tränen rannen wie kleine Bäche ihre Wangen hinab. Ihr Klagen verstummte, als sie ein anderes Geschrei vernahm. Es war Benny.
Isabell legte ihren geliebten Wuschel neben ihrer Mutter ab und sah wütend die Treppe hinauf. "Ich hasse dich Benny, hörst du? Ich hasse dich! Das ist alles deine Schuld!" Benny antwortete mit Gebrüll.
Was mach ich jetzt? So war das alles nicht geplant. Mein armer Wuschel. Bei dem Gedanken an ihren kleinen Hund liefen ihr wieder die Tränen. Die Schnur! Ich muss erstmal die Schnur wegmachen und dann Papa anrufen. Oder soll ich rüber zu Tante Lullu rennen? Ich renn rüber! Aber erstmal die Schnur! Isabelle krakselte am Körper ihrer Mutter vorbei, ging bis zur vorletzten Stufe die Treppe hinauf und entfernte dort einen kleinen Draht, den sie gespannt hatte, während Benny immer noch nach seiner Mama schrie. "Das werd ich dir noch heimzahlen!", giftete Isabelle zurück und fragte sich, warum Mama nicht Benny auf dem Arm hatte, wie sonst immer, dann stieg sie die Treppe wieder runter, streichelte noch einmal ihren Wuschel und rannte zu Tante Lullu.
LG Ivy