Rotes Rauschen
Manchmal ist der Preis, den man zahlt, sehr hoch.Sein Herz setzte einen Moment lang aus, dann hörte er nur noch das laute Rauschen seines Blutes. Es schwoll an, wie die Meeresbrandung am frühen Morgen, wenn noch niemand unterwegs ist.
Der Schmerz, der ihm kurz darauf in die linke Brust schoß, raubte ihm fast die Sinne. Ihm blieb die Luft weg. Panisch begann er, zu zählen: einundzwanzig, zweiundzanzig, dreiundzwanzig...
Endlose Sekunden vergingen, dann endlich war es vorbei. Die Welle war über ihn hinweg gerollt.
Er zitterte, kalte Schweißperlen auf seiner Stirn, versuchte, regelmäßig zu atmen und sich zu beruhigen. Diese verdammten Herzrhythmusstörungen. Er bekam sie nicht unter Kontrolle, hatte sich und seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle.
Es half alles nichts: Er hatte diese Situation nicht mehr im Griff.
Ich bin dominant!
Er erinnerte sich daran, das gesagt zu haben, bevor sie sich das erste Mal liebten.
Schon zu dem Zeitpunkt war er völlig überwältigt von den Gefühlen, die sie in ihm auslöste. Er rang mühsam mit sich, aber er konnte sie nicht zurückhalten, sie strömten einfach aus ihm heraus.
Zuerst war es nur ihr Mund. Diese Weichheit, diese absolute Hingabe. Wie er das liebte.
Als sie das erste Mal vor ihm lag, in all ihrer üppigen Pracht, die Beine leicht gespreizt. Der weiche Bauch wölbte sich ein wenig oberhalb ihrer Scham, die im Schatten lag. Diese Flut von Haaren, wie ein Fächer auf dem Kissen ausgebreitet. Die weichen Lippen gerötet von den Küssen der letzten Stunden. Wie sie lächelte.
Sie sah so entspannt aus, wie sie da so lag, so dahin gegossen.
Dabei wußte er, dass sie im höchsten Maße erregt war. Lange waren sie auf der Couch gewesen, eng umschlungen, eine Stunde oder zwei, bis ihre Küsse immer atemloser und drängender wurden, ihr Seufzen lauter. Bis er den Nektar wahrnahm, den sie verströmte, noch bevor er sie auch nur berührt hatte.
Nun endlich war er hier, mit ihr. Eine fleischgewordene Phantasie, zum Greifen nah.
Und wie sehr hatte er sich das gewünscht, wie oft hatte er davon geträumt, all die Wochen zuvor.
Er hatte Spuren gelegt und sie gelockt, seine fiebrigen Sehnsüchte in blumige Worte gegossen. Sie waren vorsichtig umeinander gekreist wie zwei Tänzer, die sich unweigerlich näher kommen mußten. Schließlich hatte er entschieden, dass es Zeit war, sie zu treffen.
Alles schien so natürlich, war so folgerichtig. Es konnte einfach nicht falsch sein.
Das erste Mal war sonst immer wie ein Sprung vom Zehnmeterbrett. Zuerst das vorsichtige Herantasten. Versuch und Irrtum, bis es passt und du springst.
Mit ihr war nichts so, wie er es gekannt hatte, früher, in einem anderen Leben, an das er sich kaum erinnern konnte. Mit ihr war alles so leicht.
Ihre Hände schienen sich schon immer zu kennen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich berührten, erstaunte ihn. Jeder Zentimenter ihrer Hand, ihrer Haut – alles an ihr war erotisch, elektrisierte ihn, trieb das Blut in seinen Adern an, beschleunigte seinen Herzschlag.
Irgendwann kommt immer der Moment, in dem man die Hosen herunter lassen muß.
Sie hatte damit offensichtlich kein Problem. Als sie in das kleine Schlafzimmer gegangen waren, zog sie sich einfach aus, mit schnellen, nachlässigen Bewegungen. In ihrem ganzen Ausdruck, ihren Gesten sah er das Mädchen, das sie immer noch war, auch wenn sie nur ein paar Jahre jünger war als er selbst.
Er sah ihr zu, wie sie sich bäuchlings aufs Bett fallen liess, betrachtete ihren Po, weich und rund und weiss, und all die zarte Haut.
„Möchtest du nicht dein T-Shirt ausziehen?“
„Ich bin dominant! Ich entscheide, wann ich mich ausziehe.“
Er war noch nicht soweit. Er war noch nicht bereit, sich zu entblößen.
Er liess seinen Blick über ihren weichen Körper schweifen hinab zu ihrer Scham. Sog den süß-herben Geruch ein, den sie verströmte.
Er hatte sie lange warten lassen. Jetzt war sie mehr als bereit.
Gleich würde er die Hand ausstrecken, um sie zu berühren, endlich, dort, an ihrer empfindlichsten Stelle. Und er war sich sicher, sie würde es nicht mehr lange aushalten, wenn er sie jetzt tief und langsam penetrierte, um sie dann ganz auszufüllen. Sie in Besitz zu nehmen.
Er wollte sie ganz in seiner Hand haben. Das war genau nach seinem Geschmack.
Lange Zeit konnte er die Illusion aufrecht erhalten, dass der Sog von ihm ausging.
Dass er sie mit sich zog in einen Strudel von Exstase, in ein Meer von Emotionen und Begierde, wie er es seit sehr langer Zeit nicht mehr erlebt hatte.
Dass er derjenige war, der das Geschehen lenkte, der sie führte.
Und nun sass er hier, an seinem Schreibtisch, strich langsam mit der Hand über die glatte, kühle Oberfläche. Dachte an die Textur ihrer Haut. An das Vibrieren, wie sie sich ihm entgegen wölbte. Das war wunderbar, ja, das war es.
Auch wenn es das Letzte war, was er sich selbst und vor allem ihr gegenüber eingestehen würde.
Er hatte es niemals im Griff gehabt mit ihr, die ganze Zeit nicht. Das war ein Trugschluß gewesen, eine gefährliche Fehleinschätzung seinerseits. Eigentlich hatte er das die ganze Zeit gewußt.
Gerade deshalb mußte er jetzt diese Entscheidung treffen, auch wenn es ihn schmerzte.
Wie er es auch drehte und wendete: Der Schnitt war überfällig.
Er stand auf, und plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen.
Da war wieder diese Leere in seinem Kopf, wie ein schwarzes Loch, in das er unversehens stolperte. Er blinzelte ein paar Mal. Nur ein kleiner Schwindel, das hat nichts zu bedeuten.
Es geht vorbei, wie alles im Leben.
Auch wenn der Preis dieses Mal hoch sein würde. Sehr hoch.
(C) IntoTheWild63