Tage wie diese
Es gibt solche Tage, da sollte man den PC erst garnicht einschalten, dachte Erwin. Allein schon, um nicht Gefahr zu laufen, die wenigen Emails von Bedeutung zu beantworten, die man aus dem mit Werbung zugemüllten Postfach gefischt hat. Weil an solchen Tagen Kommunikation Glückssache ist, und schrecklich daneben gehen kann. Er hätte das Handy besser auf stumm gestellt und neben den schweigenden PC gebettet, während er selbst schon über alle Berge wäre, sinnierte er weiter, am besten schon gleich nach dem Kaffee kochen. Er hätte darauf verzichten sollen, sich nach dem Aufstehen mit seinem scheinbar um Jahre gealterten Spiegelbild zu konfrontieren. Er hätte gleich den Rucksack über die Schulter halftern und mit dem Fahrrad ab durch die Mitte oder mitten in den Wald fahren sollen. Immer weiter und weiter, eine Stunde oder zwei, immer geradeaus, ohne an irgendetwas zu denken. Irgendwann wäre er schon angekommen, am Fluss oder an einem See.
„Das hätte ich mal machen sollen,“ dachte Erwin, hatte er aber nicht. Stattdesse las er sich stundenlang quer durch die neuesten Meldungen, sortierte Spam aus und verfasste Nachrichten und Kommentare im Überfluss. Die meisten wurden in den nächsten Stunden entweder garnicht beantwortet oder auf eine Weise, dass er sich fragte, ob die Empfänger eigentlich den Inhalt tatsächlich gelesen hatten. Oder diesen nur zum Anreiz nahmen, um ihn ihrerseits mit ihren Geschichten und Nicklichkeiten zu überfluten, wie Babuschka-Puppen, die im ewigen Kreislauf immer neue Puppen gebären. Wozu hatte er sich eigentlich die Mühe gemacht und die Zeit genommen, wenn seine Nachrichten nur in einzelne Sinnstücke filetiert wurden, in die dann frei von der Leber weg etwas völlig anderes hinein interpretiert wurde? Er war frustriert. Das war alles so sinnfrei und überflüssig wie sein eigenes, altersschwaches Lebenskarussell.
Schon am frühen Nachmittag war er zutiefst deprimiert. Vor dem Fenster strahlend blauer Himmel und Sonnenschein, und Vögel, die übermütig um die Wette zwitschern. Erwin erinnerte sich an das Schwimmbad, das zu dieser Jahreszeit schon sein Außenbecken geöffnet hatte. Dachte eine Weile darüber nach, dass er dort hinfahren könnte und dass er das Becken um diese Zeit wahrscheinlich ganz für sich ganz allein hätte. Sicher wären wie immer einige paar alte Damen dort, die niemals ihre Stammplätze in vorderer Reihe direkt am Schwimmbecken aufgaben. Dort harrten sie den ganzen Tag aus, um bewegungslos jeden Sonnenstrahl aufzusaugen, während ihre Haut immer dunkler und runzliger wurde wie die eines Nilkrokodils. Okay, das war jetzt nicht fair, zensierte er sich, aber bitte, die Welt war unfair! Vor allem heute, vor allem zu ihm! Man missverstand ihn, und zwar gründlich und in jeder Hinsicht.
Die Stunden verstrichen. Erwin ging nicht ins Schwimmbad. Statt dessen saß er den ganzen Tag vor dem Bildschirm und ärgerte sich. Zudem beging er den Fehler, wie er später konstatierte, ans Telefon zu gehen. Seine Freundin rief an und sagte die Verabredung für den Abend ab, und dass, obwohl sie sich seit Wochen nicht gesehen hatten. Sie sagte ihm, sie sei so müde und ausgelaugt, dass sie endlich einen Abend für sich haben müsse. Aber doch nicht heute! Nächste Woche bin ich weg, dachte Erwin, für einige Wochen aus der Stadt. Hätte sie ihren „freien Abend“ nicht auf nächste Woche legen können...? Doch er fragte sie nicht. Stattdessen legte er beleidigt auf.
Der Staffelhindernislauf ging weiter in Form von zwei Telefonverkäufern, die nacheinander versuchten, ihm einen Handyertrag, ein Tablet und einen Turbo-Router anzudrehen. Das hohe Stimmklangbild des zweiten Verkäufers war absolut unerträglich für sein gebeuteltes Gemüt. Erwin liess den Mann nicht mehr ausreden und zog ohne Ankündigung oder Abschiedswort den Stecker des Telefons aus der Dose. Nachdem ihm der Postbote dann eine Ankündigung seiner Versicherung an die Tür brachte, den Beitrag demnächst kräftig zu erhöhen sowie eine exorbitante Steuerschätzung des Finanzamts, fragte er sich, was das heute für ein vermaledeiter Tag war. Waren ihm vielleicht zwei Köpfe gewachsen? Hatte er plötzlich ein Kainsmal auf der Stirn, das jedem schon von weitem signalisierte: „Zum Abschuss freigegeben“?
Der Kühlschrank war leer bis auf eine Dose Sauerkraut, die ihn schon seit Tagen anklagend anstarrte, und so machte er sich gegen Abend auf in den nächstgelegenen Supermarkt. Als er auf sein Fahrrad stieg, fing es an, zu regnen. Mit eingezogenem Kopf und zusammen gebissenen Zähnen schaffte er es gerade noch zum Discounter kurz vor Ladenschluss. Beseelt von seinem plötzlichen Schwung, legte er, ohne darüber nachzudenken, Gemüse in den Einkaufskorb, das er sonst nie aß, wie zum Beispiel Süßkartoffeln, die ihm bislang zutiefst suspekt gewesen waren.
Als er auf die Straße trat, hatte es aufgehört, zu regnen. Die Abendsonne beschien den kleinen Platz mit dem Springbrunnen, auf dem sonst immer Obdachlose mit ihren Hunden herum lungerten. Kurzentschlossen ging er in das Café gegenüber, in dem er noch wie war, wischte einen der regennassen Stühle trocken und setzte sich in die Sonne. Es war ungewohnt still an diesem Abend, der Regen hatte die belebte Straße leer gefegt. Erwin legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf in die hohen Kastanienbäume, nahm dieses helle junge Grün der Blätter in sich auf, als ob er es zum ersten Mal sehen würde. Von den Ästen fielen ein paar Regentropfen direkt auf sein Gesicht. Der ganze Ärger dieses Tages schien plötzlich wie weggewischt. Entspannt lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, und genoss den Anblick des Abendhimmels. Im selben Moment zeigte sich zwischen den Häuserschluchten in zarten Farben ein schillernder Regenbogen.