Regen
Durch die offene Tür hörte sie die Regentropfen auf die Holzdielen des Balkons aufschlagen, vereinzelt erst, dann immer schneller werdend, vereinigten sie sich zu einem rhythmischen Trommeln. Den typischen Geruch nach feuchtem Laub und Erde, der dem Regen voraus gegangen war, hatte sie zwar wahrgenommen, aber ausgeblendet. Es war Ostern und vor ein paar Tagen hatte sie noch in der Sonne gesessen und die frühlingshafte Wärme genossen. Doch seit drei Tagen war es unerwartet frostig geworden, die Temperaturen waren um knapp 10 Grad gesunken, einfach so und ohne Ankündigung.
Sie lauschte dem Regen und ihren Gedanken, und kam zu dem Schluss, dass alles, was geschah, nur folgerichtig war und abbildete, was sich auf anderer Ebene schon angebahnt hatte: Eine erneute Annäherung und aufkommende Hitze, die fast explodierte – und kurz darauf ein eiskalter Guss. Auch das kannte sie schon von ihm, dieses Muster hatte ihre Beziehung geprägt. Der eiskalte Regen kam vor zwei Tagen in Form von Nichts: keine Antwort auf ihre Nachrichten. Er ließ sie einfach im Regen stehen und schloss wortlos die Tür. Eine verbale Ohrfeige hätte wirkungsvoller nicht sein können. Sie brauchte zwei volle Tage, um sich halbwegs davon zu erholen, und konnte danach nicht mehr in den Spiegel sehen, ohne sich zu schämen.
Das fragile Halsband, das sie beide verband, war ein unsichtbares, gewoben aus exzessiver Nähe und kompromissloser Distanz. Und wenn sie ganz ehrlich mit sich war, war seine Botschaft ganz eindeutig: „Komm mir bloß nicht zu nahe und halte dich aus meinem Leben raus!“
Verdammt! Sie wusste es doch, sie hatte es vorher schon gewusst. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, wo ihr Platz in seinem Leben war. Genau genommen gab es keinen. Hätte denn einer kreiert werden müssen, wäre er am Fuße der Kellertreppe, oder dahinter, also an einem Ort plaziert worden, den man selten besucht, und schon gar nicht aus freien Stücken. Da geht man vielleicht hin, weil man etwas vermisst, an das man nicht denken will und darf. Ab und zu schaut man nach, ob es nach da ist. Sonst aber nicht. Das Thema an sich ist ein Kellerkind, das er aus seinem Alltagsleben verbannt hat, und zwar rigoros.
Doch immer, wenn sie auf ihn traff, oder er auf sie, wurde es akut. Dann gingen die Alarmglocken an, und zwar alle Neune. Dann roch es schnell so verbrannt, weil alle Sicherungen auf einmal durchbrannten, die hoffnungslos veraltet waren und nichts mehr aushielten. Weil die ganze Mechanik überholungsbedürftig war und so einem erotischen Ansturm nicht mehr standhalten konnte, ganz zu schweigen davon, dass er darauf noch angemessen hätte reagieren könnte, selbst wenn er wollte.
Die Kellertür wurde also schnell wieder zugeworfen und mit drei Schlössern verhängt. Das ging ganz fix, darin hat er mittlerweile Routine. Und dann schnell die Beine unter den Arm genommen und nichts wie weg. Die Geister, die ich rief... die kamen zuverlässig immer wieder zu ihm zurück. Sie kamen ganz nah ran und grinsten ihm hämisch ins Gesicht und riefen: „Naaaaaa, genau das wolltest du doch...? Hast du nicht davon geträumt, hm? Und jetzt plötzlich drückst du dich wieder? So ein Pech aber auch. Nun gut, wir kommen wieder, dessen sei dir gewiss.“
Es war nicht notwendig, deswegen lange Nachrichten und Erklärungen zu verfassen, nein. Das konnte er auf der linken Arschbacke absitzen. Wogegen er hingegen nichts tun konnte, war die Versuchung. Sie schlich sich immer heimlich durch die Kellertür in der blauen Stunde, früh am Morgen, wenn er wehrlos im Halbschlaf lag. Sie setzte sich dann auf seine Brust und summte, und streichelte über seine Lenden.
Wie damals in dieser Bar in Venedig, als der ölige Barmann ihm einen „Sex on the Beach“ kredenzte. Plötzlich stand diese Dame im roten Kleid in der Tür und sah ihn an. Ja, ihn sah sie an, verdammich! Und er musste doch zurück ins Hotel, zurück zu seiner Frau. Er war ohnehin schon viel zu spät dran.
Doch genauer betrachtet, hatte sich auch daran nichts geändert, bis heute nicht.
Und jetzt brennt es wieder, auf beiden Seiten. Doch auch das geht vorbei, dachte sie sich schließlich und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Bis zum nächsten Mal.