Ich, Merlin.
Gedankenschwer bat ich um eine kleine Pause. Mein Ziehbruder Apollon nickte ebenso schwer wie schwach. Seine Ellenborgen am Rande unseres kleinen Spieltisches, sein Kopf vergraben in seinen zarten Händen. Allein seine kluge Schwester Athene stand aufrecht. Ihre Stärke jedoch war nur gespielt. Sie hielt bereits einen Finger am Abzug, oder besser gesagt, am Lichtschalter. Während unsere Nachbaruniversen fröhlich vor sich hinkicherten und in voller Blüte standen, war der Untergang unseres Universums längst besiegelt. Brüder, uns bleibt nicht mehr viel Zeit, mahnte sie uns. Kluge, schöne Athene. Zeit? Was ist Zeit? Um uns herum fast die perfekte Dunkelheit, allein der Andromedanebel spendete uns ein kleines Lichtlein. Wie gesagt, für kurze Zeit. Wir unterbrachen also unser vermutlich letztes Schachspiel, jeder in sich versunken. Schwester Athene sollte den letzten Lichtnebel verschlucken, ganz in dem Sinne von „Der Letzte macht das Licht aus“. Wir, die Letzten unserer Art, dachten nach. Über die Zeit, über das Warum. Jeder für sich. "Nur noch kurze Zeit erhältlich, bitte kaufen Sie jetzt". Haha. Wer denkt, Götter seien unsterblich, der irrt. Wir altern nur sehr viel langsamer. Genauso irrt wie der, der meint, wir seien Geschöpfe der menschlichen Phantasie. Menschen. Die gab es schon lange nicht mehr. Uns bald auch nicht mehr, aber immerhin, wir hatten ein langes Leben. Bei guter Pflege haben es einige von uns auf ein paar Milliarden Jahre (Zeitrechnung war keine Erfindung der Erdenbewohner, es gab sie schon immer) gebracht. Dazu muss man wissen, dass auch solche wärmespendenen Sterne wie die Sonne sterblich waren. Dummerweise hatte aber einer aus unseren Reihen genau diesem Spender des Lebens vorzeitig den Garaus bereitet.
Denn nachdem sich die Erdlinge, weiterhin Menschen genannt, mit verschiedenen Tricks und Experimenten selbst ins Aus schickten, den Planeten Erde aufs Schlimmste verwüsteten, sah einer von uns sich seiner Aufgabe schmerzlichst beraubt. So ganz verstanden haben wir unseren Kollegen nie. Ständig hat er uns verleugnet, sich als den Einzigen gepriesen und – das war ein größter Fehler – einen Menschen als seinen Stellvertreter ernannt. Die allerdings alle paar Jahre ausgewechselt wurden. Seine Anhängerschar nannte sich für uns vollkommen unverständlich Christen. Ganze Generationen von ihnen baten im Laufe mehrere Jahrtausende bei uns um Einlaß, es sei ihnen versprochen worden. Natürlich wurde jedes Gesuch überprüft und natürlich abgelehnt. Genau dieser unnötig bürokratische Aufwand hat dazu beigetragen, dass wir, die wirklich wichtigen Götter, unsere eigentliche Aufgabe nicht korrekt erfüllen konnten. Aber davon, wenn die Zeit reichen sollte, später mehr.
Der Grund meiner Schwermut war oder ist mein eigenes langes Leben. Davon möchte ich berichten.
Man muss sich vorstellen, wie es in den Hirnwindungen eines Gottes ausschaut. Erinnerungen sind schwer zu lokalisieren angesichts so vieler Jahre. Mit allergrößter Konzentration möchte ich es jedoch versuchen.
In aller mir gegebenen Gelassenheit, zeiterprobt in beide Richtungen, also vorwärts und rückwärts, möchte ich zum Anfang meines Darseins kommen. Dazu muss ich weit, sehr weit zurückdenken. Jahrtausende, Jahrmillionen abtropfen lassen, ganz so wie der Morgentau auf der heißen Wange eines Mädchens verglüht, die gerade den Gezeitenwechsel zum Sprung ihrer Weiblichkeit entdeckt hat.
Vor Menschengedenken, nach der modernen Zeitrechnung, im Jahre 3642 v. Chr., fiel ich in einen Ozean. Ganz so, als hätte der Himmel mich ausgeschissen. Dabei war es nur ein kräftiger Wind, der mich, kaum dem Leib meiner göttlichen Mutter entsprungen, fort getragen und wieder abgeworfen hat. Als schreiendes Bündel landete ich genau in einen Schwarm Fische, die man kurze Zeit später Merline taufte. Genau auf den Rücken des Anführers, der wie wild bockte und mich zornig auf ein Eiland warf. Küstenbewohner mit krausen Haaren und klein vom Wuchs, dunkel und schüchtern, sahen zu, nahmen mich auf und gaben mir den Namen Merlin. Es war ein schöner lauer Sommertag an der sonst so rauen Küste einen Gegend, die einige Jahrtausende später noch Geschichte schreiben sollte. Cornwall.
Meine göttlichen Eltern nahe über der (sehr viel später) berühmten Hafenstadt Amsterdam, damals direkt am Meer gelegen, schickten Boten aus, mich zu finden. Ein altes Göttergeschlecht, erdverbunden, dem Wasser zugeneigt und in einer kehligen Sprache artikulierend, forderten alle Verwandten bis hin in die Gefilde des Kaukasus auf, bei der Suche zu helfen.
Jedoch ich blieb verschollen und trank die Milch einer Amme aus dem kleinen dunklen Volk, welche den Göttern der Erde zugetan waren. Weit vor der zeit, als Kelten diese Insel besetzten. Die Römer waren damals nur ein Gedanke. Troja eine fixe Idee. Während meiner Säuglingszeit verschliss ich mehrere Dutzend Ammen, saugte ihre Brüste leer und wuchs langsam heran. Auf den Tag genau, nämlich am 26. Juni 3542, sprach ich mein erstes Wort: Mama.
Der örtliche Schamane spuckte Feuer und die Touristen aus den umliegenden Dörfern fielen auf die Knie. Während der Feierlichkeiten und aufgrund meiner roten Haare wurde ich zum göttlichen Wesen erklärt. Wie recht sie doch hatten.
...
Wenn mir ein Licht beim Schreiben scheint, so schreibe ich weiter. Doch bitte ich um ein wenig Geduld ... die Zeit. Einst im Überfluss, heute knauserig.