Das goldene Ei
In grauer Vorzeit, als die Menschen gerade angefangen hatten, sesshaft zu werden und Dörfer zu bauen, da waren Drachen so normal und wahrhaftig wie die Sonne, die täglich ihre Runden zieht. Sie waren die echten Herrscher der Erde. Feuerspeiend, raubend und plündernd verwüsteten sie ganze Landstriche. Zurück blieben Asche, Rauch und schwarz verkohlte Erde, die lange Zeit keine Früchte mehr trug. Natürliche Feinde kannten sie nicht und einzig der Mensch machte ihnen oft genug das Leben ungemütlich. Listenreich setzten diese ihre doch sehr primitiven Waffen sehr wirkungsvoll ein. Außerdem hatten die Menschen es sich angewöhnt, erst die Drachenbrut zu vernichten, wo immer sie auf ein Gelege oder auf Jungtiere trafen. Aber es waren die großen, alten Drachen, die am meisten Schaden anrichteten und sehr gefährlich waren. Die alte Darla, den Feuerdrachen zugehörig, hatte es geschafft. Fünf Eier lagen in ihrem Nest weit oben in den Bergen, zwischen den Felsen verborgen. Sie hatte sich Vorräte angelegt und ließ die Eier nicht aus den Augen, zumal ein Ei anders war als die anderen vier. Statt bräunlich-weiß gesprenkelt war das Fünfte goldfarbig. Sie wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, aber das wichtigste war, dass die kleinen Drachen erst mal schlüpften. Die Alte legte sich im halben Rund um das Gelege, so dass auf der anderen Seite die Felsen abschlossen und niemand unbemerkt an ihr vorbei kommen konnte.
Endlich war es soweit, die Eierschalen knackten, bekamen Risse und brachen alsbald völlig auseinander. Vier kleine Drachen kämpften sich aus den Eiern. Farblich in allen möglichen Braun- und Grüntönen, wie es sich für kleine Feuerdrachen gehörte. Nur Nummer fünf ließ noch auf sich warten. Es vergingen etliche Stunden, bis auch das goldene Ei endlich Risse und Löcher bekam.
Unmöglich! Darla blickte ungläubig auf den kleinen Drachen, der sich aus dem Ei quälte. So ein Kind hatte sie in all den Jahren nicht im Ei gehabt. Weiß, honigfarbene Augen und ein kleines goldenes Horn auf der Stirn. Während die anderen kleinen Drachen herumtobten, ihre begrenzte Umgebung auskundschafteten und alles mögliche ausprobierten, blieb der zuletzt Geschlüpfte abwartend. Er beobachtete alles interessiert, aber beteiligte sich nicht, statt dessen sonderte er sich von seinen Geschwistern ab, fast als wäre ihm klar, dass er anders war als sie.
Die alte Darla beobachtete ihren Nachwuchs während der nächsten Wochen aufmerksam. Ihr fiel auf, dass der Weiße, den sie Dargo nannte, sehr wählerisch das Futter betrachtete und sich nur von Früchten und Pflanzen nährte, nicht aber vom Fleisch der Beutetiere, zu denen auch die Menschen zählten.
Die kleinen Drachen wuchsen schnell heran, auch die Flügel entwickelten sich prächtig, so dass sie schon bald ihre ersten Flugversuche unternehmen konnten. Immerhin - hierbei unterschied Dargo sich nicht von den Anderen, außer das er schneller wuchs und größer war, was Darla staunend zur Kenntnis nahm. Ebenso bemerkte sie, dass Dargo auch weiterhin für sich alleine blieb, was vermutlich daran lag, dass seine Geschwister ihn aufgrund seiner Farbe und seines sonderbaren Verhaltens ablehnten. Er war aber der Erste, der das behütete Nest verließ und Ausflüge ins Umland unternahm.
Darla entschied eines Tages, es sei an der Zeit, dass ihre Brut lernt, selber auf Nahrungssuche zu gehen. Sie waren in der vergangen Zeit so groß geworden, dass sie selbst die größeren Tiere um Längen überragten.
Dargo schloss sich der Aufforderung der Alten zu einem Ausflug an. Lange Zeit flogen sie über karge, verbranntes Erde, bis sich die Landschaft veränderte. Grüne Wälder und Wiesen, auch Wasser gab es im Überfluss. Blühendes Leben erfüllte diese Gegend. Hier gab es die Behausungen der Menschen. Gezielt steuerte Darla auf eine größere Ansammlung zu und stieß schon im Fliegen einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Gleichzeitig loderte eine riesige Stichflamme aus ihrem Maul und setzte die ersten Wohnstätten in Brand. Panisch schreiend liefen die Menschen unter ihnen durcheinander und versuchten zu fliehen. Darla ließ derweil nicht nach in ihrem Treiben. Bald war nur noch ein Flammenmeer zu sehen, wo vorher die Hütten gestanden hatten. Dargo beobachtete, wie Darla eine kleine Gruppe Menschen verfolgte und zur Strecke brachte, und er bemerkte, wie seine Mutter und seine Geschwister sich labten an ihrer Beute - angewidert wandte er sich ab. Nein, das war nicht seine Familie, ihr ganzes Treiben ekelte ihn nur an. Unbemerkt setze er sich ab und flog davon - nur weg! Es war schon dunkel, als er landete und Schutz in einem dichten Wald suchte. Er verbarg sich dort im dunkelsten Unterholz. So war zumindest seine verräterische Farbe von oben nicht zu erkennen.
Lange Zeit trieb er sich in diesem Waldgebiet herum und ernährte sich von den Früchten der Bäume und Pflanzen. Es fiel ihm auf, dass dort, wo sein Horn die Vegetation berührte, das Wachstum sich beschleunigte und diese besonders prächtig gedieh. Er war zufrieden mit seinem Leben, aber die Sehnsucht nach den Artgenossen quälte ihn zuweilen sehr. Warum nur war er so anders als sie? Er blieb am Boden, flog nicht mehr - immer in Deckung und alleine.
Er wusste nicht, dass die Menschen des zerstörten Dorfes den weißen Drachen bemerkt hatten und die Überlebenden diese Kunde verbreitet hatten. Niemals zuvor hatte jemand von Ihnen so ein Tier gesehen oder davon gehört. Auch das goldene Horn war nicht unbemerkt geblieben und hatte das Verlangen danach bei den Menschen geweckt. So entstanden mit der Zeit viele Geschichten über ihn, die Abends am Feuer erzählt wurden, von denen aber keine der Wahrheit entsprach, denn niemand hatte ihn gesehen seit jenem Tag. Trotzdem oder gerade deswegen gab es nicht wenige, die sich aufmachten, das weiße Ungetüm zu suchen, schließlich versprach ein goldenes Horn Reichtum und Wohlstand.
Dargo war inzwischen schon lange ausgewachsen. Sein Schuppenpanzer schimmerte weißgolden und das Horn war lang und in sich gedreht. Er bewohnte noch immer dieses riesige Waldgebiet, aber er hatte eines Tages etwas sehr wichtiges erfahren. Eine große, wunderschöne Hirschkuh hatte an einem sonnigen Morgen seinen Weg gekreuzt und innegehalten. Dargo hatte ihre Stimme in seinem Kopf gehört.
"Dargo, du bist kein Feuerwesen, gehörst nicht zu den Anderen! Du bist ein Naturdrache, von denen nur alle tausend Jahre einer geboren wird, denn deine Aufgabe ist es, die Schäden auf der Erde wieder ins Gleichgewicht zu bringen, die unter anderem deine Sippe anrichtet! Es ist dein Horn, das den Zauber des Lebens in sich trägt. Alles, was du damit berührst, wird gesunden, und alle Verletzungen werden heilen. Jetzt ist die Zeit gekommen deine Kräfte auch anzuwenden. Nur hüte dich vor den Menschen, denn ihre Gier ist grenzenlos! Vertraue ihnen niemals und geh ihnen aus dem Weg. Die Erde ist deine Mutter und der Mond dein Vater." Sie schaute ihn aus großen feucht-braunen Augen, liebevoll an und verschwand.
Welch wohltuende Wärme hatte sich in Dargos Herz ausgebreitet! Und ein tiefes Glücksgefühl durchströmte ihn bei diesen Worten. Es war richtig gewesen, sich von der Familie zu trennen. Er war also doch keine Laune der Natur, wie er gedacht hatte, sondern ein Geschenk an sie.
Das Fliegen hatte er nie verlernt, nur sehnte er sich nun nicht mehr danach, mit Anderen zu fliegen. Wenn sie alle schliefen, drehte er seine Runden im Dunkel der Nächte, unter den wohlwollenden Blicken des Vaters, und heilte die Natur, überall wo es nötig war. Seine mächtigen Schwingen trugen ihn über weite Strecken hinweg und er war glücklich dabei. Die nötigen Ruhephasen verbrachte er in seinem Wald, nur die Hirschkuh sah er nicht wieder.
Eines Morgens, er ruhte gerade nach einigen sehr langen Nächten, hörte er ganz in der Nähe ein Wimmern und Stöhnen. Es klang nicht wie ein Tier. Neugierig hob er den Kopf aus seinem Unterschlupf und erspähte zwei Menschen, einen Mann und eine Frau. Der Mann schien schwer verletzt zu sein, während die Frau über ihn gebeugt weinte und wimmerte. Unweit des Paares lag ein riesiger Keiler leblos auf dem Waldboden. Es schien, als wäre die Jagdbeute teuer erkauft worden. Gerade in diesem Augenblick, als hätte die Frau Dargos Blick gespürt, blickte sie auf und ihm direkt in die Augen. Man hätte nicht sagen können, wer von beiden überraschter war. Dargo, wie gebannt von der lieblichen Schönheit dieses Menschenkindes, oder die Frau, der die Geschichten der Alten des Dorfes einfielen? Als sie bemerkte, dass der Drache keine Anstalten machte Feuer zu speien, fing sie an zu reden. Dargo konnte die Worte nicht verstehen, aber es klang so flehentlich, dass es sein Herz berührte. Sehr langsam, um sie nicht zu erschrecken, erhob er sich und bewegte sich die wenigen Schritte auf sie zu, neigte sein Haupt und berührte die leblos wirkende Gestalt mit seinem Horn. Nur wenig später schlug der Mann die Augen auf. Als er sich umschaute, blieb sein Blick entsetzt an Dargo hängen. Panisch sprang er auf, griff schreckensbleich nach der Frau und eilte, sie hinter sich her ziehend, in den Wald. Dargo schmunzelte innerlich über den "Mut" des Mannes, zog sich dann wieder in seinen Unterschlupf zurück und schlief nun endlich ein.
Es war der Geruch von Feuer, der seine empfindliche Nase kitzelte, noch bevor der Lärm seine Ohren erreichte. Dargo sah sich umzingelt von vielen Menschen, die lange spitze Stöcke und Fackeln in Händen hielten. Noch bevor er sich erheben konnte, um aufzufliegen, drangen einige der Stöcke schmerzhaft in seinen Körper. Viele prallten auch an seinem Schuppenpanzer ab, aber manche bohrten sich in seine Flügel und die Weichteile. Er brüllte laut vor Schmerz! Des Feuerspuckens nicht mächtig, konnte er sich kaum wehren. Mit Seilen banden sie ihn fest und begannen sofort, sein goldenes Horn abzusägen. Allen voran jener Mann, den er am Morgen geheilt hatte. Dabei war das alles so sinnlos, denn das Horn hatte nun jede Kraft verloren.
Sie schlugen ein Lager auf, um den Sieg über das Ungetüm zu feiern, während Dargo gebunden da lag und immer schwächer wurde. Er erinnerte sich an die Warnung der Hirschkuh und seine Honigaugen füllten sich mit Tränen. Ja, auch Drachen können weinen ...
Plötzlich spürte er, dass jemand sich an den Fesseln zu schaffen machte, bis diese alle durchtrennt waren. Er rührte sich nicht und wartete ab. Dann sah er sie, die Frau, die seinen Blick am Morgen gebannt hatte. Sie blickte ihn traurig an, als sie ihm etwas zuflüsterte und seine Nase ganz sanft streichelte. Viel Kraft hatte er nicht mehr, aber es reichte gerade noch, um sich in die Lüfte zu schwingen und eine Weile zu fliegen, bis er an der Quelle eines kleinen Baches holprig landen musste. Hier, auf dem Schoss der Mutter, hauchte er sein Leben aus, wurde eins mit ihr und versteinerte.
*
Mit diesen Worten beendete der alte Mann seine Geschichte. Einige der Kinder hatten Tränen in den Augen. Er lächelte, als er das bemerkte, und sagte: "Seid nicht traurig, denn Dargo ist jetzt wieder bei seiner Mutter. Der große Stein heißt noch heute Drachenquell. Und man sagt, das Wasser habe heilende Kräfte."
@****ris
09.04.17
Wünsche allen ein schönes Ostara- bzw. Osterwochenende