Auf gute Nachbarschaft
Vor einigen Tagen wollte ich mich nach einer anstrengenden Schicht noch ein wenig in meinen Garten setzen, den Sonnenschein genießen und mich entspannen. Leider dauerte die Entspannung keine Minute, denn kaum hatte ich mich in meinem Gartensessel zurückgelehnt, schmiss mein Nachbar seine Kettensäge an. Das hat mich auf die nachfolgende Geschichte gebracht. Ich freue mich auf eure Rückmeldungen.
Geschafft! Endlich hatte Sofie die letzte Kiste leer geräumt und alles verstaut. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Sofa sinken. Ereignisreiche Wochen lagen hinter ihr.
Vor drei Monaten hatte sie sich von ihrem Freund getrennt. Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen, Jan und sie. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie lernten sich bei der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Bekannten kennen. Jan war so aufmerksam und hilfsbereit gewesen. Immer konnte er sie zum Lachen bringen. Sie liebte seinen Sinn für Humor, seine unbekümmerte Art.
Schon nach einem halben Jahr zogen sie zusammen. Anfangs fühlte es sich an wie der Himmel auf Erden. Aber schon bald bekam sie Zweifel, ob es so klug gewesen war, mit ihm in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Jan schien nach kurzer Zeit wie ausgewechselt. Immer öfter wollte er wissen, mit wem sie telefonierte. Wenn Sofie beteuerte, dass es nur eine ihrer Freundinnen war, glaubte er ihr nicht. Er beschimpfte sie als Lügnerin und brach jedes mal einen Streit vom Zaun.
Mehr und mehr kontrollierte er ihre Schritte, machte ihr Vorschriften, was sie zu tun und zu sagen habe. Bis Sofie es nicht mehr aushielt. Klipp und klar erklärte sie ihm, dass sie sein Verhalten nicht länger dulden würde. Als er sich trotz allem nicht änderte, drohte sie ihm mit Trennung. Jan gab sich erschrocken, entschuldigte sich wortreich bei ihr. Ihm war unerklärlich, was in ihn gefahren war. Sie verzieh ihm und anfangs klappte es besser.
Doch nach wenigen Wochen nahm seine Eifersucht wieder überhand. Vergessen schienen seine Versprechungen. Erneut drohte Sofie mit Trennung und wieder gelobte er Besserung. So ging es etwa anderthalb Jahre, auf und ab. Schließlich musste sie einsehen, dass ihr Freund sich niemals bessern würde. Also zog sie schweren Herzens einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ihres Lebens.
Mit ihren 27 Jahren war sie noch jung genug für einen Neuanfang. Genau diesen wollte sie nun wagen. Ihr stand der Sinn nach Veränderung. Als sie erfuhr, dass in dem kleinen Ort 50 km von ihrem Heimatdorf eine Lehrerin für die Grundschule gesucht wurde, bewarb sie sich spontan. Sofie rechnete sich zwar keine großen Chancen aus, da sie noch unerfahren war, aber einen Versuch war es wert. Tatsächlich bekam sie die Stelle.
Nun musste nur noch eine geeignete Bleibe her. Die Anzeige in der Zeitung las sich gut: ländlich gelegene Einliegerwohnung, 40 qm, zu sofort zu vermieten. Umgehend griff sie zum Telefonhörer und erkundigte sich. Die Wohnung war noch zu haben. Schon zwei Tage später konnte sie sie besichtigen. Das Apartment gefiel ihr auf Anhieb. Mit seinen großen Fenstern wirkte es hell und freundlich. Die Lage war nahezu perfekt. Das Haus, in dem sich die Wohnung befand, lag abseits des Ortes, ein Wald nur wenige Schritte entfernt. Hier hoffte sie, Ruhe zu finden nach der kräftezehrenden Trennung. Danach sehnte Sofie sich nun am meisten: Ruhe und Frieden.
Die Vermieter erweckten einen netten Eindruck. Sie waren ein Ehepaar um die Mitte 60, deren Söhne bereits aus dem Haus waren. Die Frau, Ursula, war eine typische Hausfrau. Sie hatte sich immer nur um das Haus und die Kinder gekümmert, erzählte die kleine, untersetzte Frau. Ihr Mann Günter, ein gelernter Gärtner, war seit drei Jahren in Rente.
Das sah man dem Garten auch an, der hundertprozentig in Schuss war. Nirgends sprießte Unkraut und eine Fülle an bunten Blumen zierte das Grundstück. Hortensien, Rhododendron und Flieder blühten um die Wette. Hohe Eichen spendeten Schatten. Es schien ein wahres Paradies. Schnell einigten sie sich und unterzeichneten den Mietvertrag. Sofie fühlte sich seit langem wieder glücklich. Endlich schien sich das Blatt für sie zu wenden.
Nun saß sie hier auf ihrem Sofa, erschöpft und dennoch guter Dinge. Der Umzug war geschafft, all ihre Sachen in den Schränken verstaut. Langsam ließ sie den Blick über ihr neues Reich schweifen. Genau das war es für Sofie, ihr Raum. Hier würde sie es sich gemütlich machen, die Stille genießen und neue Kraft schöpfen. Noch waren Ferien. Sie musste erst in drei Wochen ihre Stelle antreten. Das gab ihr ausreichend Zeit sich einzugewöhnen. Sie nahm sich vor, gleich morgen damit zu beginnen. Doch jetzt wollte sie nur noch ins Bett und schlafen.
Am nächsten Morgen erwachte sie erfrischt und voller Vorfreude auf ihr neues Leben. Die Sonne schien zu ihrem Schlafzimmerfenster herein. Sofie hörte die Vögel singen. Das zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Wohl zum hundertsten mal dankte sie dem lieben Gott für diese Chance.
Es war Sonntag. Sie beschloss, sich einen entspannten Tag zu gönnen. Schnell sprang sie unter die Dusche und setzte sich danach auf ihren Balkon. Der reichte zwar gerade für einen kleinen Tisch und zwei Stühle, aber das tat ihrer Begeisterung keinen Abbruch. Mit Heißhunger verschlang sie ihr Frühstück. Lange hatte sie nicht mehr mit solchem Appetit gegessen. Heute Morgen im Spiegel hatte sie blass und abgemagert ausgesehen. Fast 10 Kilo hatte sie durch den Stress verloren. Sie war immer schlank gewesen, aber jetzt war sie schon beinahe knochig. Aber das besserte sich hoffentlich bald.
Frisch gestärkt machte sie sich zu einem langen Spaziergang durch den nahegelegenen Wald auf. Nur das Gezwitscher der Vögel drang bis hierher. Die junge Frau hing ihren Gedanken nach, merkte kaum, wie die Zeit verging. Als sie zurückkehrte, war es früher Nachmittag.
Ursula, die sie sofort bemerkte, winke ihr zu und begrüßte sie freundlich. So kamen sie ins Plaudern. Schließlich lud ihre Vermieterin sie zu Kaffee und Kuchen auf die Terrasse ein. Eigentlich verspürte Sofie keine große Lust dazu. Da sie sich aber mit ihren neuen Vermietern gutstellen wollte, nahm sie die Einladung an.
Während Günter seinen Kaffee eher schweigend einnahm, unterhielten die beiden Frauen sich angeregt. Sofie erzählte, wie wohl sie sich hier fühlte und wie sehr sie die Ruhe genoss. Ursula berichtete von ihrer Leidenschaft fürs Backen. Nur leider hatte ihr Mann eine ausgeprägte Allergie gegen Erdnüsse. Jeder Kontakt konnte für ihn tödlich enden. Darum befand sich immer ein Notfallset im Haus. Ursula achtete peinlich genau auf die Zutaten, die sie verwendete. Durch ihre angeregte Unterhaltung verging der Nachmittag wie im Flug.
Am nächsten Morgen lag Sofie noch gemütlich im Bett und schlief, als das Dröhnen einer Kettensäge sie unsanft aus dem Schlaf riss. Beunruhigt schreckte sie hoch. Noch schlaftrunken horchte sie auf das Geräusch. Sie irrte sich nicht. Das war tatsächlich eine Motorsäge. Gereizt sprang sie aus dem Bett. Die junge Frau stampfte zum Fenster und hielt Ausschau nach dem Störenfried. Da stand Günter im Garten und fällte eine der Eichen. Das hätte sie sich ja denken können, dass er es war. Sofie unterdrückte ihre aufsteigende Verärgerung über die Störung. Das war es wohl für heute mit der ersehnten Ruhe.
Da sie keinen Unfrieden wollte, entschloss sie sich, etwas zu unternehmen und so dem Krach zu entgehen. Zum Glück blieben ihr noch drei Wochen Zeit, bis die Schule losging. Da boten sich noch genug Gelegenheiten zum Ausspannen. Als Sofie abends zurückkehrte, war ihr Unmut verflogen.
Am nächsten Tag begann die Sache jedoch von neuem. Wieder holte sie morgens um 8:00 Uhr das Dröhnen der Kettensäge rücksichtslos aus dem Bett. Das passte ihr gar nicht. Da Günter und Ursula ihre Vermieter waren, konnte sie allerdings schlecht etwas dagegen sagen. Bestimmt würde er mit den Gartenarbeiten bald fertig sein. So schluckte sie ihren Verdruss hinunter und versuchte, das Beste daraus zu machen. Sofie rief eine Freundin an und verabredete sich mit dieser. Als sie gegen Abend nach Haus kam, war alles ruhig und friedlich. Sie hoffte, dass die Angelegenheit damit ausgestanden war.
Doch da irrte sie sich. Tag für Tag weckte sie morgens um 8:00 Uhr das Geräusch der Kettensäge. Das durfte doch nicht wahr sein. Da hatten die zwei ihr erzählt, wie ruhig es hier wäre und dann sowas. Von Ruhe und Frieden keine Spur. Aber genau danach sehnte sie sich so sehr. Immer mehr steigerte sie sich in ihre Wut hinein. Wie lange musste sie das noch erdulden? Dieses ständige Gesäge ertrug sie kaum noch. Es raubte ihr den letzten Nerv.
Als sie gerade in ihr Auto steigen wollte, um wieder mal einen Tag fernab ihrer Wohnung zu verbringen, begegnete sie Ursula. Diese begrüßte sie wie immer mit einem Lächeln im Gesicht. Sofie entschloss sich, die Frau ein wenig auszuhorchen. Was sie dabei erfuhr, gefiel ihr ganz und gar nicht. Ursula erzählte bereitwillig, dass ihr Mann vorhabe, den Garten komplett neu zu gestalten. Seit er in Rente war, fand er endlich die Gelegenheit dazu. Die Eichen sollten gefällt werden. Sie ragten viel zu hoch hinauf. Die Arbeiten dauerten noch mehrere Wochen. Sofie konnte ihre Wut kaum in Zaum halten. Das war doch nicht sein Ernst. Sie wollte sich von all den Problemen der letzten Monate erholen und hier traf sie auf erneuten Stress. Sagen konnte sie schwerlich etwas, da es schließlich sein Grundstück war und sie hier nur zur Miete wohnte.
So ging es Tag um Tag. Sofie kam sich langsam vor wie in einem schlechten Film. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Ihre Wut stieg von Stunde zu Stunde. Hilflos musste sie den Krach über sich ergehen lassen. Mittlerweile trieb ihr schon der Gedanke allein die Zornesfalten auf die Stirn. Immer öfter floh sie tagsüber aus ihrer Wohnung. Aber das konnte unmöglich die Lösung sein.
Eines Nachmittags kehrte sie früher als sonst von einem Besuch bei ihrer Freundin heim. Sie wunderte sich, dass Günter nicht wie üblich im Garten werkelte. Er war zum Arzt gefahren, erzählte Ursula ihr auf ihre Nachfrage hin. Ihr Mann habe seit Tagen mit einem Ekzem zu kämpfen, das nicht wegging. Darum wollte er sich nun etwas verschreiben lassen. Ursula hoffte, dass das Medikament bald anschlug, da sie am nächsten Tag zu einem ihrer Söhne zu Besuch fahren wollte und Günter sich so schlecht allein behelfen könne. Sofie versicherte ihr, dass sie sich kein Kopfzerbrechen bereiten brauche. Wenn etwas sein sollte, könne Günter gerne zu ihr kommen.
Am nächsten Morgen erwachte die junge Frau schon um kurz vor 8:00 Uhr, das nervtötende Gedröhne der verhassten Maschine erwartend. Bisher waren erst vier Bäume gefällt und kein Ende vorauszusehen. Da sie ahnte, was sie erwartete, stand sie auf und ging ins Bad. Hoffentlich besänftigte eine Dusche ihre angespannten Nerven.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie das Taxi wahr, das Ursula zum Bahnhof brachte. Warum fuhr Günter nicht einfach mit, statt sie hier permanent mit diesem unsäglichen Lärm zu malträtieren? Wie schön wäre das. Doch der Rentner dachte offenbar gar nicht daran, denn da nahm sie auch schon den mittlerweile vertrauten Krach aus dem Garten wahr.
Bald ging die Schule los. Sie musste noch Einiges vorbereiten. Also blieb sie wohl oder übel Zuhause, konnte dem Lärm nicht entfliehen. Trotz des strahlenden Sonnenscheins und der Hitze schloss sie ihre Fenster. Wie gerne hätte sie sich auf ihren kleinen Balkon gesetzt, aber dann würde sie vermutlich ausflippen. Sie konnte sich so schon kaum auf ihre Arbeit konzentrieren. Gab es eigentlich ein grässlicheres Geräusch als das einer Kettensäge?
Abends saß sie genervt auf dem Sofa. Endlich war Günter für heute fertig. Zum Glück, denn sie hatte rasende Kopfschmerzen. Ihr Kopf schien kurz davor zu zerspringen. Sie wollte nichts, außer ihre Ruhe haben. In dem Moment klingelte es an ihrer Wohnungstür. Wer konnte das sein? Sie erwartete keinen Besuch und wollte eigentlich nur alleine sein. Widerstrebend ging sie zur Tür. Dort stand Günter mit bedrücktem Gesicht. Er entschuldigte sich für die Störung und berichtete ihr von seinem Anliegen. Sein Ekzem hatte sich verschlechtert. Er wusste keinen Rat mehr. Seine Frau war nicht da und daher bat er Sofie um Hilfe. Er fragte, ob sie noch eine Idee habe, was er machen könne. Die junge Frau versprach ihm, Abhilfe zu schaffen. Sie käme gleich zu ihm.
Wenige Minuten später stand sie mit einem winzigen Töpfchen in seiner Wohnung. Sie erklärte ihm, dass sie eine wunderbare Salbe habe, die er großzügig auf die Wunde auftragen solle. Günter dankte ihr und versprach Ihre Anweisungen gewissenhaft zu befolgen. Damit verabschiedete sie sich und ging zurück in ihr Apartment.
Am nächsten Morgen lag Sofie gemütlich eingekuschelt im Bett. Wohlig streckte sie sich. Ihr Blick fiel auf die Uhr, die auf Ihrem Nachttisch lag. 10:00 Uhr morgens. Wie herrlich ruhig es war. Man hörte nur das leise Zwitschern der Vögel. Ein Lächeln breitete sich auf Ihrem Gesicht aus, als sie Günters Notfallset sah. Ob sie ihm hätte sagen sollen, dass die Creme Erdnussöl enthielt?
P.S.: keine Sorge, mein Nachbar erfreut sich bester Gesundheit
LG Christel