Die kleine Dose hinten links im Kühlschrank
"Es ist Fünf Uhr Dreissig!" erklärt das dumme Stück, das in meinem Telefon wohnt. Okay, mein Unterbewusstsein wusste das genau. Schon vor über einer Stunde begann das langsame Erwachen. Gegen halb Vier Uhr begann die Drossel ihr morgendliches Lied zu singen. Tiri li, Tiri li, Tiri li.... aus unsäglichen Tiefen taucht der Verstand empor und manifestiert sich im Apfelbaum vor dem Balkon.
Unsichtbare Augen lauschen dem Gezwitscher der Amsel. Gegen vier Uhr stimmte das Rotkehlchen mit ein, das bei uns im Nachbargarten wohnt. Zweistimmig. Die Amsel macht das Ganze um fünf Uhr Dreistimmig - und die Blaumeise das Konzert gegen halb Sechs Vierstimmig. Oh ja, die kleine, hübsche Blaumeise. Mein Verstand weiß, dass es nur noch wenige Minuten sind, bis ich aufstehen muss. Der Träumer in mir weiß aber, dass nüchterne Effizienz der bessere Ratgeber sein müsste. Manchmal, wenn es weder scharfen Wind noch Regen gibt, gesellt sich die Kohlmeise dazu.
Wie auch immer, mit oder ohne Kohlmeise, der Zeitwpunkt des "Es ist fünf Uhr dreissig!" nähert sich unerbittlich.
Und ich hätte ausschlafen so sehr brauchen können. Gestern begann das Training um 18:30 Uhr. Diese Schinder. Diese liebenswerten Schinder. Die neue Schülerin kam heute das erste Mal in Gi und Hakama. Erstaunlich. Sie ist Studentin. Sie ist Feministin. Ihre Bachelorarbeit beschäftigt sich mit Frauenrechten. Doch hier in der Welt der ... traditionellen japanischen Schwertkampfkunst, ich vermeide absichtlich das Wort "Samurai", weil wir noch einen weiten, weiten Weg dorthin haben, sind wir alle gleich. Keine sexuellen Avancen, keine dämlichen sexistischen Sprüche, keine tastenden Blicke, nichts. Alle auf Augenhöhe, ja beinahe geschlechtslos. Was zählt, ist der Geist. Ich hatte geträumt bis zum Konzert der Vögel. Träume von Stahl. Von Sensei, dem Großmeister. Vom Seminar im September. Ich träumte von Rüstungen, von Kampf, von Blut und von Ehre.
Willkommen waren die Vögel, aber sie rissen mich auch aus meinen Phantasien. Giro kam mir in den Sinn. Irgendeine Szene aus einem sehr alten Film.
"Der Wurm geht rein, der Wurm geht raus, deep in the heart of Texas...."
"Der Wurm geht rein, der Wurm geht raus, deep in the heart of Texas...."
Das singt ein Mann, der bis zum Hals eingebuddelt wurde. Vor ihm eine Schale Reis, auf dem schon Ameisen wuselten. Giro kommt an. Ein Achtjähriger in Kimono und Geta.
"Du bist dumm!", sagte Giro, "Du steckst in der Erde."
"Was du nicht sagst, Kleiner!" antwortete der Mann.
"Aber du hast auch Glück." sagte Giro.
"Ja klar, ich Glückspilz. Ich freue mich so!"
"Das solltest du, Mann" sagte Giro aus der tiefsten Tiefe seiner kleinen Seele, "sie machen einen Krieger aus dir!"
Es nützte nichts. Ich musste raus. Gegen Mitternacht erst nachhause gekommen und schnell in den wohlverdienten Schlaf gefallen, stand mir heute ein harter Tag bevor. Pete musste zu seiner Firma. Pete zahlt sehr gut. Pete hat Angst. Er braucht Schutz. Eigentlich Schutz vor sich selbst, aber das ist mir egal. Und Onkel Albert. Er ist in Wahrheit nicht einmal auch nur ansatzweise mit uns verwandt. Aber wir haben ihn "übernommen". Also haben wir eine Pflicht. Meine ist es, ihm morgens eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten. Heute gab es zwei Rühreier und vier halbe Brötchen. Belegt mit Schinkenwurst, Salami, Putenbraten,. Roastbeef, Käse. Dazu eine ganze Kanne frischer Kaffee. Alles runterbringen, das Geschirr des Abends hochtragen, Spülmaschine einräumen und den restlichen Kaffee in meine eigene Tasse schütteln.
Der Morgenkaffee. Die eigentliche Droge in meinem Leben. Wohlig-schmackhaft rinnt mir das Heiß die Kehle herunter, befriedigt Speiseröhre und Magen und, worauf es wirklich ankommt, den Geist. Ich werde ruhiger. Sehr viel ruhiger. Öffne den Kühlschrank, schaue hinein und bekomme Lust, etwas zu machen. Aber das geht nicht. Es ist Nullsechsdreissig. Duschen, anziehen, Halfter und Sakko, Auto aus der Garage und die wasserfeste Unterlage auf den Beifahrersitz. Mein Kunde für heute ist ab und an wenig "undicht". Dann los. Termin ist Nullachtdreissig. Besprechung in engstem Kreis der Familie Fromm. Wir sind 15 Minuten eher da. Der Kunde besteht drauf. Als sich die Türen des Besprechungsraumes schließen, kann ich mich entspannen. Den Kollegen "Hallo" sagen. Smalltalk zwischen gleichgestellten Dienstleistern. Tipps zur Fortbildung, Austausch von Erfahrungen und die übliche Aufschneiderei zwischen Männern. Alles oberflächlich und scheinbar locker. Aber wer gelernt hat, hinzusehen, hätte die Anspannung bemerkt, gut getarnt als Lockerheit, die Blicke, die suchenden Augen und das beinahe absurde Verlangen nach Gefahr oder Hinterhalt. Und die erleichterte Enttäuschung, wenn auch dieses Mal wieder nichts passiert ist.
Eine Stunde später lege ich das Halfter ab, entlade die Waffe und verschließe den Stahlschrank. Die Krawatte muss als erstes dran glauben. Hemd und Hose folgen. Ich schlüpfe in sehr leichte Chinos und einen schwarzen Kimono. Ja, das passt.
Ein schneller Blick auf die Uhr. Wie war das noch im Kühlschrank heute Morgen? Ich frage mich, ob das Hack wirklich noch gut ist. Mir ist glasklar, dass, wenn ich die Packung aufreiße, das einem Fanal gleicht. Meinen drei Kätzchen empfinden das quasi als eine Art Essensglocke. Ich habe Hunger. aufschneiden? Mal sehen? Nein, hat nicht geklappt. Sechs aufgeregt schauende Augen sehen mich an. Das ist übrigens der ultimative Qualitätstest. Denn wenn die Katzen das Hack nicht wollen, will ich es auch nicht. Aber es scheint okay zu sein. Also los.
Es klingelt. Holla, der Sohn kommt grinsend die Treppe hochgestürmt. Ich erinnere mch, er hatte heute morgen Gesellenprüfung. Sein Grinsen verrät mir, dass es ihm gut geht. Und natürlich bekommt er etwas zur Stärkung. Papas Spezialburger?
Kein Problem. Aber eben "Spezial". Kein schlaffes Brötchen. Aber mit Pfiff. Geröstetes Roggenbrot aussen, pfiffiger Burger innen. Aber es fehlt etwas. Im Kühlschrank entdecke ich hinten links eine kleine Dose. Oh, mein Pesto, das muss auf jeden Fall weg! Kostprobe... wie herrlich das durchgezogen ist. Ich nehme den runden Crouton, bestreiche ihn mit Pesto. Dann den Klops drauf. Ich frage meinen Sohn, ob er schon einmal Mayo gemacht hat. Natürlich nicht. Also zwei Eigelb ein Spritzer Senf, den Abrieb einer Zitrone dazu. In einem hohen Gefäß den Rührstab auf volle Pulle und langsam Rapsöl zuträufeln, den Zaubertab dabei langsam hochziehen, bis die Masse eine Mayo-naisige Konsistenz hat. Damit den zweiten Crouton bestreichen und verkehrt herum auf den Klops. Voila, ein Papaburger.
Ein wenig sorge ich mich schon. Für den Rest der Woche habe ich kein Hack mehr. Und ganz offensichtlich hat der Sohni guten Hunger. Für Onkel Albert kann ich gerade noch zwei Häppchen abzwacken.
In der Zwischenzeit hat Cherie das Hähnchen in den Ofen geschoben. Für Albert fix Mais blanchieren, in Butter schwenken und würzen. So, der ist auch versorgt.
Wieder klingelt es. Diesmal die Tochter. Schnell verschwindet der Rest des Papaburgers im Sohn. Wie es scheint, leert sich mein Kühlschrank schneller, als erwartet und das ist gut so. Meine Tochter bekommt einen Salat und bevor ich ihn knipsen kann, verschlingt sie ihn. Unglaublich. Gegen 14hundert ist der Spuk vorüber. Und jetzt die Küche, das Schlachtfeld eher, aufräumen. Gegen 15hundert beginne ich von vorn. Kaffee und Kuchen für Albert. Wie gut, dass das keine schweren Küchenverwüstungen nach sich zieht. Anschließend den Rest der Wohnung. Schneller als gewünscht ist es Abend und ich vergesse das Brathähnchen zu essen und den Eintrag zu machen. Aber hey, ich tröste mich mit dem Gedanken, dass morgen auch ein Tag ist.
Tom