Ich döste mit aufgestützten Armen vor meiner sicher bereits erkalteten Tasse Kaffee. Es war mitten in der Nacht und ich war mit Ausnahme, der schon bei meinem Eintritt gelangweilt wirkenden Servicekraft am Tresen, allein in der abgelegenen Autobahngaststätte. Es wunderte mich nicht wirklich, dass keine LKW-Fahrer oder Urlaubsreisenden hier eine kurze Rast einlegten. Hier - in der Provinz - in the middle of nowhere, kein Ort, an dem man wirklich verweilen wollte.
Vieles ging mir durch den Kopf, doch kein einziger Gedanke ließ sich greifen und eigentlich war dies genau die Zeit und der Ort, welche ich am liebsten mochte. Die fast stofflich wirkende Dunkelheit und die gehirnbetäubende Stille versetzten mich in diesen seltsamen Zustand einer selten erreichten Leichtigkeit. Mein Blick fiel ohne bestimmtes Ziel auf die schwarze Fensterfront, mein Spiegelbild starrte mich teilnahmslos an. Ich sah verdammt müde aus. Die Augen tief in ihren Höhlen und die schon fast unnatürlich wirkende Blässe meines Teints ließen sich nicht allein auf die Schuld des kalten Neonlichts schieben.
Wann war die Gruppe Menschen hier angekommen, die sich um einen großen runden Tisch versammelt hatte?
Sie wirkte wie ein Querschnitt durch die Gesellschaft, Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und ethnischer Gruppen. Alle friedlich, aber ohne Worte. Selbst in meinem annähernd komatösen Zustand hätte ich ihr Kommen doch bemerken müssen. Warum redeten sie nicht miteinander?
Wie konnte eine so große Ansammlung von Menschen so lange so ruhig sein?
Einige starrten mit leerem Blick auf die helle Tischplatte, andere rutschten wie ungeduldig auf ihren Stühlen hin und her. Ich konnte mir nicht helfen, aber das Ganze war ziemlich enervierend. Die Zeiger einer nicht sichtbaren und offenbar noch analogen Uhr tickten laut, jede Sekunde einmal.
Die gelangweilte Servicekraft servierte dem jüngsten Gast ein Heidelbeereis, welches sich aber unangerührt, in einem taubenblauen wässrigen Rinnsal über den Becherrand auf das makellose Plastik verströmte. In diesem Moment wäre mir sogar ein intimes Frauengespräch mit meiner ärgsten Feindin lieber gewesen als dieses bedrückende Schweigen.
Zäh tropfte die Zeit dahin. Warum stand ich nicht endlich auf und ging? Etwas hielt mich fest. Was?
Endlich schlug eine blonde Frau mit ihrer Faust auf den Tisch. Das Geräusch glich einem Donnerhall und das Echo hallte durch den hohen Raum. „Warum?“, flüsterte sie und sah ihr Gegenüber eindringlich an. Er schwieg und wirkte gleichermaßen erregt wie auch enttäuscht. Doch dies war der Startschuss zu mehr und alle redeten plötzlich rasant durcheinander. Ich verstand nur noch einzelne Sätze, jedoch erschloss sich mir der Zusammenhang nicht. Anklagen, Belangloses, Dinge, die ich im Moment des Hörens sofort wieder vergaß, weil es mir so unwichtig erschien - radikal aussortiert von meinem Gehirn. Das aber änderte sich.
Ein Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, richtete ihr Wort an ihn: „Niemals werde ich groß werden, nie meine große Liebe treffen, nie selbst Kinder haben. Da ich das einzige Kind meiner Eltern war, die ohne Geschwister sind, habt ihr nicht nur mich ausgelöscht. sondern auch meine ganze Familie seit Anbeginn der Zeit. Alle haben umsonst gelebt, alle sind mit mir dahin gemordet. Für nichts haben sie sich geplagt und gekämpft, alles vergebens.“ Sie verstummte und blickte auf den geschmolzenen blauen Matsch vor sich auf dem Tisch. In diesem Moment wandelten sich ihr Gesicht und Körper in eine breiige Masse. Einzig eine Strähne ihres langen Haares blieb perfekt – gelockt wie bei einem Engel und ebenso rein.
Ich erschrak zu Tode und wollte schreien, fühlte mich wie in einem schlechten Horrorfilm gefangen. Ein Mann mit Glatze und ruhiger Stimme warf ein: „ Irgendwie sind wir selbst schuld! Also nicht wir, die wir hier sitzen, sondern Wir als Gesellschaft, denn wir werten sie unnatürlich auf.“
Nun wand er den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Anklagend und voller Wut. Sein bis eben pralles Gesicht verwandelte sich in eine, in Fetzen hängende, Fratze und der lippenlose Mund mit dem tadellosen Wohlstands-Gebiss fragte „ Warum bieten wir ihnen auch dieses Medium? Diese Macht! Jedes Bild sagt mehr als tausend Worte, das wissen wir doch seit Vietnam.“
Alle am Tisch wandten sich nun mir zu und ich sah das gesamte Spektrum ihrer Gefühle von Resignation über Wut und Hass bis zu einer schier unendlichen Trauer.
Sie hielten mich für schuldig an ihrem Dilemma? Mich?
Ein junger Mann mit Bart und sanften Rehaugen erwiderte stolz: „Warum zeigt ihr auch unsere Gesichter und nennt unsere Namen? Wir sind und werden berühmt. Dank dir. Die ganze Welt weiß, wer wir sind. Was gibt es Besseres, wenn man sonst nichts hat, wofür es sich zu leben lohnt?
Für diesen einen Moment brennen wir, wenn wir uns aus der Masse über euch erheben. Bei den anderen Selbstmördern, wie denen, die sich zum Beispiel vor den Zug werfen, tut ihr es ja auch nicht. Ihr erwähnt es gar nicht. Frag dich mal warum!
Es begann damals mit den Türmen aus einer Kurzschlussreaktion heraus, einer verrückten Idee. Doch inzwischen ist es eiskaltes Kalkül. Wir wissen, wie ihr tickt und wo wir euch am besten erwischen. Wir versetzen euch in Todesangst, zerstören eure Leichtigkeit und spielen mit euch. Wir nutzen euer System, besser als ihr. Überhaupt sind wir besser als ihr. Bessere Menschen, bessere Märtyrer. Wir wissen, wie man ehrenhaft für den einzig wahren Gott stirbt, dem wir auf diese Art huldigen – ihr nicht. Ihr seid viel zu feige und hängt zu sehr an eurem kleinen unbedeutenden Leben für solche Heldentaten!“ Grinsend lehnte er sich zurück und blickte sich beifallheischend um.
Irgendetwas fehlte noch. Einige Obststücke in einem Bastkörbchen erschienen wie von Geisterhand vor ihm und er lachte in Verzweiflung auf. So laut, dass es bebte. Ein fassungsloses Erstaunen lag in seinen Zügen. „Und dafür hab ich…“, er konnte den Satz nicht vollenden, denn ein riesenhafter Schatten in der Gestalt eines dämonischen Michelinmännchens hatte sich aus dem grellen Neonlicht gelöst und ihn sich einverleibt. Sein Röcheln verklang. Den anderen ramponierten Gestalten am Tisch dagegen reichte die Gestalt, nun in weiß, nach und nach freundschaftlich die Hand und sie erstrahltem in einem blendendem und sie auflösenden Licht. Ihre Stimmen verschmolzen zu einem Singsang. "Erinnere dich an das und an deine Sensationsgier! Unternimm etwas dagegen!"
Das Geräusch zerspringenden Prozellans auf Steinboden riss mich aus meinem Traum und mein Herz klopfte wie wild. Auf meinem Monitor liefen die Breaking News der Welt über das neueste Attentat einer feigen Mörderbande im Namen einer archaischen Religion. Gleichzeitig fippte mein Handy und befahl mich per WApp auf der Stelle in die Redaktion um darüber betroffen und wortgewandt im Frühstücksfernsehen zu berichten. Das Display zeigte mir mein übernächtigtes Gesicht und einen konturenlosen dunklen Schatten hinter mir, der nach mir griff.