Kopfplatzwunde II
"Bekomme ich eine ...."
"... Lokalanästhesie? Nein, durch das Anästhetikum schwillt der Wundrand und das wird eine dicke Narbe."
So ist sie immer: knapp und ein bisschen lakonisch. Meine Freundin Mathilde zieht sich die OP-Handschuhe über, greift sich eine Zange aus Pierres Chirurgenköfferchen und reißt die Verpackung mit dem Nahtmaterial auf.
Oh, der Faden ist an der Nadel dran, kann ich ja nicht wissen, ich bekomme nicht jeden Tag eine Kopfplatzwunde genäht.
"Halt dir mal die Augen zu!"
"Damit kein Desinfektionsmittel reinkommt" beantwortet sie meine nichtgestellte Frage
Die Kälte des Desinfektionsalkohols lindert für einen Moment den pochenden Schmerz, nach dem Abwischen mit einem Mulltupfer spüre ich den ersten Stich der Nadel – nicht mehr, als wenn mich jemand mit spitzen Fingernägeln kneifen würde. Unangenehmer als das Stechen sind das Durchziehen des Fadens und das Verknoten.
Heute morgen fragte Brice beim Frühstück mit Verschwörermiene, ob wir Lust auf einen Ausflug haben. Der letzte Ausflug ging nach Giverny, Brice zeigte uns das Sommerhaus von Claude Monet mit dem berühmten Seerosenteich und wir picknickten am Wegesrand neben einer Rinderherde Buletten und Kartoffelsalat. Heute hatte ich keine Zeit gehabt, etwas vorzubereiten, also packten wir Tarama, Rillettes, zwei Messer und eine Flasche Rosé von vorgestern in den Henkelkorb. Baguette wollten wir unterwegs kaufen. Wir stiegen in Aurélias Käfer, ihre „Coccinelle“ war ein Schatz – zwar schaute hinter jedem Chrom Rost hervor, aber er fuhr und fuhr und fuhr.
Bald hatten wir die Pariser Ringautobahn hinter uns gelassen und Brice erklärte – dabei die Hände immer mal wieder vom Lenkrad nehmend, wo es heute hingehen sollte. Immer wieder redete er von einer „Abbaye“, und da ich kurz vorher die „Musketiere“ auf Französisch gelesen hatte, war ich im Bilde – wir fuhren zu einem Kloster.
Die Autobahn führte uns in Richtung Normandie, an der ersten Mautstelle waren es nicht mal mehr 100 km bis Rouen gewesen. Obwohl die Coccinelle die 100 km/h nur noch bergab schaffte – und hier im Pariser Becken gab es keine Berge – erreichten wir Rouen in weniger als zwei Stunden. Ohne die Stadt anzusehen, kauften wir nur zwei Baguette in einer Supermarktbäckerei, denn Brice wollte schnell weiter, nach Fécamp, ans Meer.
In Fécamp parkte Brice das Auto an der Seepromenade und wir liefen zum Wasser. Es war noch maikalt und wir setzten uns an den Strand zwischen große Feuersteinknollen und aßen unser Mitgebrachtes. Brice spielte Steinzeitmensch und versuchte, von einem Feuerstein mit einem anderen etwas abzuschlagen. Es funkte und roch brenzlig, aber kein Splitter ließ sich abspalten. Brice schlug stärker zu und traf seinen Daumen. Er sagte nichts, aber sein Gesicht war weiß.
Deswegen waren wir heute schon einmal hier. Aurélias Kommilitone aus dem Grundstudium hat hier eine Praxis, er ist der Landarzt. Pierre schaut sich Brice’ Finger an, desinfiziert und verbindet ihn und dann sitzen wir plötzlich an seinem Kaffeetisch mit ihm, seiner Frau Andrea, fünf Kindern, Hundewelpen und drei Katzen.
Eine Katze umschwänzelt auch jetzt meine Beine, ich spüre ihre Wärme an meiner Wade, über meinem Kopf höre ich das Klicken der chirurgischen Zange, mit der Mathilde die Fadenenden abkneift. Mathilde, die schönste Frau des Universums, meine Freundin. Mathilde ist groß, blond, ihr Blick erlegt Männer und sie hat mich zu ihrem Mann genommen, einen schlaksigen Studenten der Afrikanistik, ohne Kopfhaar, der vor ihr nie eine Frau hatte – jeder Tag, den ich neben ihr beginne, ist ein Geschenk des Himmels, wenn ich gläubig wäre.
Die Naht spannt, es schmerzt mehr als vorher. Mathilde sieht mein Gesicht und sagt: „Ohne Nähen wächst das schief zusammen, hättest Du Haare, wäre es egal – aber so…“ Sie mag meine Glatze, manchmal schnüffelt sie an meinem Scheitel oder besser dort, wo früher einmal der Scheitel war und dann…
Bevor wir zu Aurélia und Brice gezogen sind, wohnten wir möbliert auf zwölf Quadratmeter zu zweit, in einem dieser Pariser Dauerhotels im Quartier Latin, das Bett war 1,40 m breit und der portugiesische Portier mit seinem hinkenden Schäferhund schaute uns immer lüstern hinterher, wenn wir die Treppe in den fünften Stock hochkletterten. Wir schliefen nackt und manchmal klopfte der Maler von nebenan an die Wand in der Nacht.
Brice setzt sich neben meinen Hocker auf die Bank und entkorkt die Flasche „Bénédictine“, Pierre bringt ein Tablett mit Gläsern und Brice schenkt ein. Wir trinken, es schmeckt wie Wurzelpeter und Aurélia betrachtet die Naht auf meinem Kopf. Halblaut gibt sie, die Notaufnahme-Erfahrene, einen anerkennenden Kommentar ab. Mathilde schaut stolz.
Wegen des „Bénédictine“ sind wir überhaupt hier. Er heißt so nach einem alten Benediktinerkloster in Fécamp, aber gebraut wird er im „Palais Bénédictine“, einer Schnapsfabrik trotz des tollen Namens. Brice‘ Ideen sind immer so, oder noch verrückter – als er die fünfzig Eisbären und Pinguine für das Tiefkühlunternehmen aus Styropor geschnitten hatte, lud er zwei Dutzend Freunde ein und briet jedem ein riesiges Rindersteak. Seitdem mag ich mein Fleisch „saignant“.
„Wie ist es passiert?“ Erst jetzt fragt Pierre, nachdem er vorher seine halbe Praxis auf dem Gartentisch ausgebreitet hat. Alle schauen mich an und ich holpere in meinem Universitätsfranzösisch los, das zwar die Worte für „Begrifflichkeit“, „Abhängigkeit“ und „entwickeln“ nicht aber für „Höhlendecke“ und „gestoßen“ kennt. Alle helfen mit Worten, und so schnell habe ich noch nie Vokabeln gelernt.
„Auf der Landseite sind die Höhlen niedrig, zum Wasser hin werden sie lichter, das war einfach. Aber auf dem Rückweg habe ich in der engen Höhle mit meinem Körper das spärliche Abendlicht verdeckt, das von der Meerseite kommt. Ich hörte noch, wie Mathilde rief: „Pass auf, die Höhlendecke ist niedrig!“ als ich plötzlich kleine weiße Sterne sah. Instinktiv griff ich nach meinem Kopf, taumelte ins Freie. Als ich die Hand von der schmerzenden Stelle nahm, platschte eine Pfütze hellroten Blutes auf die Steine. Ich suchte mein Stofftaschentuch und drückte es auf die Wunde. Ein Mann soll immer ein sauberes Stofftaschentuch dabei haben – jetzt weiß ich warum.“
Vom Meer kommt eine leichte Brise. Pierre bietet uns an, über Nacht zu bleiben. Keiner hat eine Zahnbürste dabei und morgen haben Aurélia und Mathilde Dienst im Krankenhaus. Die Rückfahrt nach Paris verfliegt, jeder träumt seine Gedanken. Ich will mit Mathilde alt werden, ihre Hände können zaubern. Immerhin hielt die Naht 14 Jahre.