Strategies
Hallo Gemeinde!Angeregt durch die populäre (oder gerne auch populistische) Forschung, ewig auf der Suche nach der endgültigen Wahrheit, bereite ich gerade ein Schreibprojekt mit dem Titel "Strategies" vor. Ich will darin versuchen, ein jüngst entdecktes Phänomen in Buchform aufzuarbeiten, nämlich die offenbar bei Frauen früh einsetzende "Partnermüdigkeit", die - wie man hier in diversen Foren unschwer erkennen kann - sehr unterschiedliche "Bewältigungsstrategien" hervorbringt.
Meine Idee ist es, anhand eines Beispiel-Pärchens (Thomas und Natalie) in Erzählform die verschiedenen Möglichkeiten durchzuspielen, die eine Frau hat, wenn ihr Partner sie nicht mehr reizt - das Ergebniss soll unter der Rubrik "erotische Literatur" als Buch erscheinen.
Nachstehend möchte ich die ersten Entwürfe gerne der hiesigen Experten-Gemeinde zur Kritik stellen. Anregungen und Feedback sind dringend erwünscht - wenngleich ich weiß, daß das Sommerloch da ist, die meisten nicht am PC hängen und lieber am See, im Garten oder sonstwo an der frischen Luft die Sonne genießen. Das Ganze hat aber Zeit.
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Vorwort
Ich weiß noch wie heute, dass ich über alle Maßen erstaunt gewesen war, als mir Sylvia eröffnet hatte, wie es tatsächlich um ihre Gefühle für ihren Mann Fred – immerhin einer meiner besten Freunde – bestellt war. Wenn man die beiden erlebt hatte, auf den üblichen Partys oder Gesellschaften, dann schienen sie ein Herz und eine Seele zu sein – natürlich lag also die Vermutung nahe, dass es sich bei ihnen auch in körperlicher Hinsicht alles sehr harmonisch abspielte.
In jener Nacht aber, in der Sylvia und ich aufgrund irgendwelcher Umstände, an die ich mich im Detail nicht mehr zur Gänze erinnern kann, beide miteinander auf dem großen Sofa im Wohnzimmer eines anderen Freundes gelandet waren – wohlgemerkt zu fortgeschrittener Stunde und mit mehr Rotwein im Blut, als es der anstandsgemäßen Distanz zuträglich war – eröffnete sie mir Dinge, die ich bis dahin kaum für möglich gehalten hätte. Sie öffnete noch mehr von sich und auch meine Hose blieb im Laufe dieser Vorkommnisse nicht geschlossen, doch von diesbezüglichen Details will ich hier gar nicht erzählen: Es geht mir um eine Spur, die ich dank Sylvia in jener Nacht habe aufnehmen können und die ich fortan akribisch weiter verfolgte.
Demnach scheint es entgegen aller Mythen und Legenden, die sich unsere Gesellschaft über Jahrhunderte um das Wesen der holden Weiblichkeit gestrickt hat, Tatsachen zu geben, die auf ein genaues Gegenteil hindeuten, zumindest was die ach so vielbeschworene Treue und Keuschheit der Frau betrifft. Und wenn es nicht ausgerechnet Sylvia gewesen wäre – also ein Weib, für das ich jederzeit die berühmte Hand ins Feuer gelegt hätte, was meine Überzeugung in Hinsicht auf ihre Rechtschaffenheit und Tugend betrifft – die sich dermaßen abweichend verhalten und geäußert hätte, würde ich es wohl heute noch nicht glauben und demnach auch nicht weiter verfolgt haben.
So aber, werter Leser, begann ich die Spur aufzunehmen und nach mehr Beweisen zu suchen. Ich habe im weiteren Verlauf meines Lebens eine Menge Frauen zu diesem Thema befragt, die meisten entsprachen diesem Bild, dessen Grundskizze Sylvia in jener Nacht geschaffen hatte. Nach einigen treuen und durchaus monogamen Jahren in der Beziehung zu einem Mann begannen viele – ich möchte sagen, mehr als die Hälfte – dieser Gattinen, sich nach fremder Haut zu sehnen, gleichwohl sie sich im heiligen Stand der Ehe befanden.
Von den verschiedenen Arten, mit dieser unerwarteten Sehnsucht umzugehen – also den recht unterschiedlichen Strategien, die die Betroffenen wählten – möchte ich hier erzählen.
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Natalie und Thomas: Die Einleitung
Natalie liebte ihren Namen und war zu keiner Zeit bereit, sich diesen durch die Mode verunstalten zu lassen, die aus allem, was die Eltern bei der Taufe beabsichtigt hatten, etwas Kürzeres machte. Waren manche ihrer Freunde schon im Kindergarten darauf aus, sie „Nat“ zu nennen, oder mochte es später – in der Schule – einen ausgeprägten Trend gegeben haben, sie „Tali“ zu rufen: Sie blieb sich treu und hörte nur, wenn jemand ihren gesamten Vornamen aussprach: Natalie.
Das ging so lange gut, bis sie auf „Tom“ traf, der eigentlich Thomas hieß, in den sie sich verliebte und der sie von Anfang an ganz englisch-modern „Nat“ nannte. Das geschah allerdings, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war und sie im Taumel ihrer allumfassenden Glücksgefühle die leise innere Stimme ignorierte, die sie bisher immer sicher geleitet hatte: Sie ließ zu, dass er sie bei einem Namen rief, der nicht der ihre war.
Aber dieser Mann durfte alles – er war einfach ein Hauptgewinn! Vier Jahre älter als sie, über ein Meter neunzig hoch gewachsen, kernig, gerade, prächtig gebaut – in den Schultern genauso wie einige Etagen tiefer – sinnlich, humorvoll, eloquent, charmant und… hübsch. Nein, nicht nur „hübsch“: Seine Züge waren auf eine Weise markant moduliert, dass sich allein sein Gesicht hervorragend als Werbeträger für jedes Produkt geeignet hätte, das vorrangig Männer konsumieren würden. Doch auch sein Körper war so wohlproportioniert, dass sich Natalie in den ersten Wochen ihrer Beziehung zu Tom immer wieder fragte, ob es wirklich sein konnte, dass sich ein solcher Kerl ausgerechnet in sie verliebte – in sie, die sich immer als dürr, blass und nicht sonderlich attraktiv empfunden hatte.
Dabei hatte sie durchaus einige Qualitäten, vor allem, was ihr Äußeres betraf. Waren seinerzeit doch eher kleine und feste Brüste in Mode – und genau mit solchen war sie ausgestattet: Die berühmten halben Äpfel prangten fest und keck dort, wo manches andere Weib üppiger, aber auch weicher, oder geradezu haltloser bestückt war. Ihre Wuchshöhe tat ein Übriges: Mit nahezu Einem Meter und Achtzig war Natalie nicht klein, sie war schlank und sehnig und ihre Beine wirkten übermäßig lang – dem Ideal entsprechend, das vorherrschend war. Der kleine, aber unaufdringlich gerundete Po und die helle, zarte und weiche Haut, die langgliedrigen Finger, die schmalen Schultern, die ganze Grazilität ihrer Erscheinung signalisierten fast das Gegenteil von Wollust und Sinnlichkeit, doch wehe, wenn sie sich auf einen Paarungspartner einließ: Dann explodierte dieses schlanke, scheue Reh auf überraschende Weise und wurde zur sprichwörtlichen Göttin der Lust. Schon ihr erster Freund während der Schulzeit wurde das Opfer ihrer überbordenden Experimentierfreude: Er zog sich von ihr zurück, als sie ihn im zarten Alter von Sechzehn bereits nach drei Wochen zur Erforschung der analen Variationen anstiften wollte. Auch ihre immer wieder durchschimmernde Neigung, sich fixieren zu lassen, irritierte ihn dermaßen, dass er das Mädchen irgendwann freiwillig gehen ließ.
Tom war da ganz anders: Er nahm alles, was Natalie zu geben bereit war, voller Freude an. Und er vergrößerte ihr Spektrum sogar. Sie fand sich bald in seinen starken Armen zuhause, behütet, versorgt, umhegt und manchmal auf eine Art und Weise gefesselt, dass sie schier ausfließen wollte. Der Sex mit diesem Mann schien keine Grenzen zu kennen, sie knickte manches mal seufzend in den Knien ein, wenn sie nur an ihn dachte. Er spielte auf ihrem zarten Leib wie auf einem besonders sensibel gestimmten Instrument, nie wurde er brutal, grob oder ließ es an Einfühlungsvermögen missen, aber er führte sie an ihre Grenzen und bescherte ihr Höhepunkte, von denen sie nicht zu träumen gewagt hätte.
Als sich der Tag ihrer Hochzeit näherte, befand sich ihr Sexualleben allerdings gerade in einer nachhaltig etablierten Flaute: Seit mehr als einem halben Jahr waren sie nicht mehr körperlich miteinander gewesen. Beide schoben diese Tatsache insgeheim auf den Umstand, dass die Hochzeitsvorbereitungen mit mehr Stress verbunden waren, als sie gedacht hatten…
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An dieser Stelle wollen wir dem weiblichen Teil dieser Beziehung ein wenig Zeit geben, sich zu sammeln, liebe Leser. Mit einer Situation wie dieser umzugehen ist gewiss nicht einfach, zumal die arme Nat nicht auf diesbezügliche Erfahrungen zurückblicken kann. Sie ist zunächst einmal irritiert.
(Wer jetzt übrigens meint, diese ganze Situationsbeschreibung ginge allein auf die Eingangs erwähnte Sylvia zurück, irrt. Dahinter stehen mehr als dreihundert Interviews und Erfahrungsberichte von Frauen, denen es genau so oder sehr ähnlich ergangen ist – die inneren Vorgänge, die Gefühle und die Irritation, die die überraschende Feststellung, den eigenen Partner nicht mehr zu begehren, ausgelöst hat, waren sehr vergleichbar. Die Strategien, mit dieser Situation umzugehen, unterschieden sich dann doch erheblich.)
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Modern Strategy: Die harte, aber sanfte Lösung
Natalie saß auf dem Sofa, die Beine angezogen und stierte angestrengt auf ihr Tablet. Sie hörte Tom, der noch im Badezimmer beschäftigt war. Bald würde er ins Wohnzimmer kommen, sich auf den Sessel setzen und wohlig die Beine ausstrecken. Der halbgeöffnete Bademantel wäre ein wortloses, aber eindeutiges Signal, wie so oft, an den vergangenen Abenden. Ein vermeintlich subtiler Hinweis, denn Tom war nicht der Typ Mann, der viele Worte machte. Er würde sie nicht darauf ansprechen, er erwartete einfach, dass sie es bemerkte und entsprechend reagierte.
Sie spürte, dass sie wütend wurde. Anfangs war sie nur irritiert gewesen: Sie konnte sich nicht mehr an das Datum dieses ersten Abends erinnern, aber sie wusste noch sehr genau, was geschehen war – Tom hatte sich, wie so oft zuvor, neben sie gesetzt, seine rechte Hand war an ihrem Hals abwärts gewandert, seine Linke war spielerisch ihren Oberschenkel hinaufgekrabbelt, nur an diesem Abend hatte sie voller Erstaunen bemerkt, dass sich keinerlei Verlangen in ihr regte – ihr Wunsch nach Ruhe und Unbenutztheit war übermächtig geworden, als er sie im Schritt berührt hatte.
Sie seufzte, als sie sich diese Situation ins Gedächtnis rief. Sie hatte ihren geliebten Mann recht nachdrücklich von sich geschoben und energisch den Kopf geschüttelt, dabei laut „Nein“ gesagt – fast auf die gleiche Art, wie sich eine Frau gegen einen potentiellen Vergewaltiger zur Wehr setzen sollte, zumindest wenn man den einschlägigen TV-Berichten zu diesem Thema glauben konnte. Tom hatte sofort inne gehalten und seine Finger zurück gezogen, doch in seinem Gesicht hatten Überraschung, Unglaube und Belustigung miteinander gekämpft – sicher hatte er ihre Reaktion im ersten Moment für einen Spaß gehalten.
Sie spürte wieder dieses flaue Gefühl im Magen, als sie sich erinnerte, wie sie nach Worten gerungen hatte, wie sie bemüht gewesen war, ihm eine plausible Erklärung zu liefern, die glaubwürdig und harmlos klang, wohl wissend, dass sich etwas in ihrem Empfinden nachhaltig geändert hatte.
„Ich habe Kopfschmerzen.“
Es war reine Verzweiflung gewesen, die sie diese Worte gebrauchen ließ. Und sie hatte dabei gegrinst, als ob sie ihm damit signalisieren wollte, dass sie um das Klischee wusste und sie es an diesem Abend völlig bewusst einsetzte, wie einen einmaligen, schnell vorübergehenden Witz. Er hatte die Schultern gehoben und den Fernseher eingeschaltet. Ihn hatte es nicht sonderlich gestört, es war nicht das erwartete Drama daraus geworden, nicht für ihn jedenfalls. Natalie konnte sich zwar nicht mehr erinnern, welchen Film er an diesem, ersten Abend geschaut hatte, sie wusste nur noch, dass sich ihre Gedanken stundenlang im Kreis gedreht hatten.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich beide bereits entschieden gehabt, zu heiraten. Sie waren seit mehr als drei Jahre ein Paar, es wurde nach ihrer beider Überzeugung langsam Zeit. Sein Antrag war erst zwei Wochen alt, vielleicht hatte sie dieser Umstand noch am Tag davor all seine gewohnten Berührungen, seine routinierten Techniken, sein manchmal sehr ungestümes Vorgehen genießen lassen – sie wusste es nicht. An diesem Abend aber widerte sie die Vorstellung an, Sex mit ihrem zukünftigen Ehemann zu haben.
Und diese Erkenntnis erschreckte sie zutiefst. Was hatte sich bloß geändert? Gestern noch hatte sie sich in seinen starken Armen gewunden, voller Lust und bereit, jeden Weg mit ihm zu gehen, von ihm geführt zu werden, sich ganz aufzugeben und fallen zu lassen – und heute, einen Tag später, ekelte sie sich beinahe davor, seinen Schweiß auf ihrer Haut zu spüren, seine groben, manchmal unsensiblen Finger in sich herumstochern zu fühlen und die unweigerliche Penetration – die er regelmäßig damit einleitete, sie auf den Bauch zu drehen, ihren Po anzuheben und sie ruckartig an sich zu ziehen – erdulden zu müssen.
Was war in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen?
Während sie jetzt – ein sexloses halbes Jahr später – auf demselben Sofa saß, auf dem sie sich ihrem geliebten Bald-Ehemann so viele Male hingegeben hatte und darüber nachdachte, wollte ihr immer noch kein Grund für ihre Entwicklung einfallen – genau wie seinerzeit, an diesem ersten Abend, an dem sie ihn zurückgewiesen hatte.
Sicher, nach einigen Monaten des Zusammenlebens waren ihr schon ein paar Kleinigkeiten aufgefallen, die sie an Tom noch würde korrigieren müssen. Zum Beispiel seine Angewohnheit, sich völlig unmotiviert zwischen die Beine zu fassen. Anfangs hatte ihr das sogar imponiert, diese Ungeniertheit, inzwischen störte sie dieses Verhalten aber mehr und mehr. Und, ja, da gab es noch ein typisches Schlürfen, wenn er Rotwein trank. Er machte ein ganz außergewöhnliches Geräusch, das ihr inzwischen einen leichten Schauder verursachte, wenn sie es hörte – sie hoffte inbrünstig, er würde das wenigstens sein lassen, wenn sie Gäste hatten, aber in dieser Hinsicht fehlte ihm offensichtlich jedes Feingefühl. Diese Marotte war ihr am Anfang der Beziehung allerdings gar nicht aufgefallen.
Dann war da noch eine Angewohnheit, die sie mittlerweile richtig übel fand: Wenn er sich am Kinn kratzte, erinnerte er sie an einen Affen, der sich Läuse aus dem Fell kämmt – Tom fuhr aber nicht ziehend mit den Fingern von vorn nach hinten, sondern er ließ seine Fingernägel alle gleichzeitig schiebend von hinten nach vorn streichen, und das in einer Geschwindigkeit, das er ihr vorkam wie ein Hund, der sich hinter dem Ohr kratzt. Da Tom gern und oft einen rauen, beinahe schmirgelnden Dreitagebart trug, klang das so, als ob jemand einen Shuffle auf einem Waschbrett spielte. Natalie sah dabei vor ihrem inneren Auge Myriaden von Hautschuppen durch Luft wirbeln, allerdings nicht in seine Richtung, sondern von ihm weg. Mit der Zeit suchte sie sich einen Platz neben oder hinter ihm, wenn er mit diesem abstrusen Ritual – das gern einmal eine ganze Minute dauern konnte – begann.
Sie horchte auf: Dieses Klacken war eindeutig der Lichtschalter des Badezimmers gewesen. Gleich würde er eintreten. Und es war an der Zeit, zu reden. Sie tippte auf ihr Tablet und der Bildschirm wurde dunkel. Sie legte das Gerät neben sich, als wollte sie verhindern, dass sich ihr zukünftiger Ehemann diesen Platz sichern konnte und wandte sich zur Tür um.
Tom stand dort, vorsätzlich lässig an den Rahmen gelehnt. Der Gürtel seines offenen Bademantels baumelte rechts und links an seinen Beinen herab, zwischen seinen Schenkeln drohte eine mächtige Erektion. Zu allem Überfluss schob er seine Hüfte vor und zwinkerte er ihr gequält unverbindlich zu. Bevor Natalie die Augen schließen und den Kopf schütteln konnte, kam ein beinahe quäkendes, langgezogenes
„Na?“
mit gefühlten zehn Fragezeichen aus seinem Mund.
Sie spürte einmal mehr den intensiven Widerwillen, den dieser Auftritt in ihr hervorrief. Dann seufzte sie und deutete auf den Sessel, der auf der anderen Seite des Couchtisches stand.
„Setz Dich. Und hör auf, Dich wie ein Teenager zu benehmen. Wir müssen reden.“
Vielleicht war es ein Unterton, der in ihren Worten mitschwang, vielleicht war er auch einfach plötzlich in der Lage, so etwas ähnliches wie Empathie zu entwickeln – er kam ihrer Bitte jedenfalls in jeder Hinsicht nach. Als er in dem Sessel Platz genommen hatte, lehnte er sich nicht etwa zurück wie ein Bauarbeiter nach dem zehnten Bier, wie es sonst seine Art war, sondern er beugte sich vor. Auf seiner Stirn erschienen einige Querfalten, die ihn deutlich älter aussehen ließen. Er nickte ihr zu und deutete vage in ihre Richtung.
„Schon wieder Kopfschmerzen?“
Seine Stimme klang längst nicht so selbstsicher und überheblich, wie sie es von ihm gewohnt war. Sie schüttelte langsam und ernst den Kopf. Gegen die Tränen, die ihr plötzlich völlig ohne ihr Zutun über die Wangen liefen, konnte sie nichts tun. Sie wischte kurz darüber, presste die Lippen zusammen und holte tief Luft.
„Thomas, wir müssen reden. Jetzt. Es ist… es ist etwas geschehen…“
Er nickte wieder. Eigentlich nickte er die ganze Zeit. Natalie musste den Impuls unterdrücken, ihm zu sagen, er solle das dämliche Nicken lassen – es gab etwas Wichtiges zu besprechen. Bevor sie aber erneut zu Wort kam, sprach er. Leise und eindringlich.
„Ich liebe Dich, Nat, das weißt Du hoffentlich?“
Sie hob beide Hände und brach in ein heftiges Schluchzen aus. Sofort sprang er auf, wollte sie in den Arm nehmen, doch sie wehrte ihn ab und schüttelte den Kopf. Ihr
„Nein!“
klang laut und harsch. Er trat zurück, wieder nickend, kniff die Augen zusammen und schlug mit der flachen Hand auf den Sessel. Dann wandte er sich ab und sprach zur Wand. Tonlos, mit einer Grabesstimme.
„Das machst Du jeden Abend, seit vielen Monaten. Nein!“
Er äffte sie nach. Sie konnte spüren, wie sehr ihn das verletzt hatte und ihre Verzweiflung wuchs.
„Thomas…“
Sie klang hilflos. Er drehte sich um, ging vor ihr in die Knie, umfasste ihren Kopf, ganz sanft und darauf bedacht, ja kein falsches Signal zu senden. Dann legte er seine Stirn an ihre und während er sprach musste sie erneut feststellen, dass sie diese Nähe kalt ließ.
„Was habe ich Dir getan, Nat? Sag es mir, ich weiß es nicht. Habe ich Dich verletzt, irgendwann, ohne es zu wissen? Bin ich irgendwann respektlos gewesen, habe ich…“
Er stockte kurz.
„Habe ich etwas gemacht, was Du nicht wolltest? Wenn es das ist, sag es mir und ich verspreche Dir, dass ich nur noch Dinge mit Dir tue, die Du ausdrücklich willst…“
Sie entwand sich seinem Griff und richtete sich auf. Sie fand wieder zu sich. Wie sollte ihr armer Geliebter diese ganze Entwicklung begreifen, wenn sie selbst nicht genau wusste, wie es dazu gekommen war? Hatte Tom etwas falsch gemacht? Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf. Er verstand ihre Gesten falsch und erhob sich erneut.
„Ich liebe Dich, Nat. Liebst Du mich auch noch?“
Im selben Augenblick, in dem er diese brisante Frage ausgesprochen hatte wusste er, dass sich in Kürze etwas Wesentliches zwischen ihnen ändern würde. Natalie seufzte und wandte sich zur Wand des kleinen Zimmers um, in dem sie saßen. Sie holte tief Luft, mehrmals. Endlich zuckten ihre Wangen, sie zwang sich, ihren baldigen Ehemann anzusehen, direkt und beinahe herausfordernd.
„Doch, ich liebe Dich.“
Er nickte.
„Ich Dich auch, wie ich sagte.“
Er wollte näher kommen, doch sie hob die Hand und senkte ihren Blick. Ihre Stimme wurde leiser.
„Und ganz ehrlich, glaub mir das: Du bist der tollste, wundervollste, begehrenswerteste Mann, denn ich je kennengelernt habe…“
Er schwieg und sein Schweigen wurde groß und breit in dem kleinen Raum. Sie wünschte sich dringend irgend ein Geräusch, ein Wort oder ein Lied, vielleicht, doch es blieb still und nichts und niemand nahm ihr die Last ab, die sie heraufbeschworen hatte. Doch sie wusste, dass sie weitermachen musste, obwohl ihr die Richtung nicht gefiel. Sie wusste, dass sich in diesem kleinen, schweigenden Moment ihr Schicksal entscheiden würde. Sie holte tief Luft.
„Aber Du inspirierst mich nicht mehr. Ich spüre keinerlei Sehnsucht mehr nach Dir…“
Das Donnern der Stille nach diesen Worten war unerträglich. Er beugte sich, ächzend. Sah sie an, ungläubig. Schüttelte den Kopf, trat näher, die Hand erhoben, wie zum Schlag. Wieder spürte sie Tränen, die ohne ihr Zutun zu laufen begannen, wagte nicht, aufzublicken. Eine brüchige Stimme erklang.
„Warum?“
Sie hob die Schultern. Verdammt, warum blieb er so ruhig? So sachlich? Warum schrie er nicht, warum schlug er sie nicht, warum brach er nicht zusammen? Warum musste er ihr diese absurde Frage stellen, auf die sie bisher selbst noch keine Antwort gefunden hatte?
„Weiß ich nicht, ist einfach so.“
Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Und es klang Trotz in diesen Worten mit. Und Wut. Tom achtete nicht darauf. Er dachte einen Augenblick lang nach, dann schnippte er mit den Fingern. Auch so ein Marotte, war ihr erster Gedanke.
„Wir gehen zur Eheberatung!“
Wieder das Schnippen. Natalie wollte verzweifeln. Sie erhob sich, stellte sich hin, machte sich groß. Sah ihn aus wütenden Augen an.
„Verdammt, wir sind noch nicht einmal verheiratet!“
Sie stemmte die Arme in die Hüften. Er grinste, ließ Mr. Obercool raushängen, wie immer, wenn es anstrengend wurde. Sie spürte ein Würgen, vielleicht sollte sie auf die Toilette gehen. Doch sie riss sich zusammen und legte ihm ihre Hand auf den Mund. Dann senkte sie die Stimme.
„Warum, weiß ich nicht, klar? Ich habe einfach keinen Bock mehr auf Dich. Du machst mich nicht mehr an, ich werde nicht mehr feucht, da regt sich nichts mehr, wenn Du mich anfasst. Es widert mich an, wenn ich daran denke, dass Du in mich eindringst oder Deine Schweißtropfen auf meine Stirn fallen. Und Deinen Schwanz will ich auch nicht mehr in meinen Mund nehmen.“
Jeder Satz von ihr war ein Zischen, den er als Hieb empfand, jede einzelne ihrer Aussagen traf ihn körperlich. Als sie fertig war, ging sie in die Knie, senkte den Kopf und weinte. Er trat zur Balkontür, öffnete diese und sog die kühle Nachtluft ein. Dann verließ er das Wohnzimmer und sie hörte mehrmals, wie er mit aller Kraft gegen das Balkongeländer schlug. Er tat ihr unendlich leid und sie wünschte sich, sie wäre in der Lage, ihn in den Arm zu nehmen, doch die Angst, dass er eine solche Geste falsch deuten könnte, hielt sie zurück. Endlich erbrach sie sich auf das helle Laminat und blieb in der Pfütze sitzen, bis er sie hochhob und vorsichtig auf das Sofa legte. Er legte ihr eine Decke über und strich ihr über die nass geschwitzten Haare.
„Nat, ich denke auch, wir müssen reden. Viel reden…“
Sie presste die Lippen aufeinander und nickte. Die Botschaft war angekommen. Sie sah ihm zu, wie er den Boden wischte, akribisch, aber ohne jede Erfahrung, anschließend verschwand er und kehrte mit zwei bauchigen Weingläsern und einer geöffneten Flasche zurück, lächelte ihr zu, stellte alles ab und nahm in seinem Sessel Platz. Die tiefrote Flüssigkeit lief träge in die Gläser, er nahm seins, erhob es und hielt es ihr hin.
„Wie gesagt, ich liebe Dich, Nat. Lass uns darüber reden, wie wir unsere erste Krise in den Griff kriegen. Prost.“
Seine Stimme klang belegt und ein wenig Angst schwang darin mit. Das machte ihn sympathisch und Natalie ließ ihr Glas an das Seine tippen, trank einen Schluck, trotz des üblen Gefühls in ihrem Magen und atmete tief durch.
„Tom, ich liebe Dich auch. Dich, als Mensch. Aber ich bin nicht mehr scharf auf Dich. Ich fürchte, wir müssen was tun.“
Er sah an sich hinab und hob die Schultern.
„Das ist schade. Ich habe den Sex mit Dir immer genossen und das würde ich auch jetzt noch tun. Erwartest Du von mir, dass ich mit Dir in einer Art Zölibat lebe? So wie Bruder und Schwester?“
Der Kloß in seinem Hals war unüberhörbar. Natalie konnte es kaum glauben: Es klang danach, als ob er bereit wäre, dieses Opfer zu bringen. Dennoch schüttelte sie den Kopf.
„Nein, Tom. So etwas würde ich nie von Dir verlangen. Ich will lieber nach einem Weg suchen, der mir die vertrauten Gefühle für Dich zurück bringt. Das muss doch gehen…“
Sie klang verzweifelt und das machte ihm Angst. Er nahm noch einen weiteren, tiefen Schluck von seinem Wein, bevor er antwortete.
„Wenn wir uns gegenseitig unterstützen, haben wir eine Chance. Du sagst, Du weißt nicht, wie es dazu gekommen ist, richtig?“
Sie nickte und trank ebenfalls. Der Wein wärmte sie von Innen. Er fuhr fort.
„Darf ich fragen… nun, nicht aus voyeuristischem Interesse, sondern nur, weil ich es wichtig finde… ist es nur der Sex mit mir oder insgesamt, auf den Du keine Lust mehr hast?“
Sie sah ihn lange an, immerhin leerte sie ihr Glas in der Zeit. Während sie darüber nachdachte, klärten sich einige Dinge in ihr, doch sie war sich nicht sicher, ob sie ihm das Ergebnis mitteilen sollte. Endlich rang sie sich dazu durch.
„Ich habe schon noch Lust auf Sex, ganz allgemein…“
Sie spürte, dass sie rot wurde. Doch sie riss sich zusammen und fuhr fort. Er schenkte ihr derweil nach.
„Ja, doch, da bin ich mir sicher. Ich mache es mir immer noch gerne selbst. Nicht mehr so oft wie früher, aber doch…“
Er prostete ihr zu und nickte. An dieser Stelle war er froh, dass sie ihm diesen Umstand nicht vorenthielt, obwohl der Stich weh tat. Aber inzwischen hatte er erkannt, dass das Problem größer war, als angenommen.
„Gut. Soweit, so gut. Dann besteht Hoffnung. Dann ist die Maschine nicht kaputt, sie läuft nur falsch.“
Natalie schüttelte den Kopf und leerte ihr Glas in einem Zug. Das war typisch Tom: Da wurde die Schuld mal eben eindeutig zugewiesen, und dann dieser Vergleich mit einem Gerät, mit einem System: Alles war reparierbar in seiner Welt. Man musste nur den Fehler finden. Gleich würde er genau danach suchen und sofort Lösungsansätze entwickeln. Ihm fehlte wirklich jegliches Einfühlungsvermögen. Erfasste er auch nur ansatzweise, wie sie sich fühlte? Was in ihr vorging? Konnte er nachvollziehen, was das, was ihr da geschah, in einer Frau auslösen konnte?
„Wie geht es Dir eigentlich damit? Du musst das ja schon Monate mit Dir rumschleppen, und ich Depp hab Dich jeden Abend angegraben, seit bestimmt drei Monaten?“
Seine Stimme klang hohl in ihren Ohren. Vor ihr stand das dritte Glas Wein, auf nüchternen Magen. Was hatte er gerade gefragt? Etwas, das tief in ihr wohnte, bahnte sich keck und vorlaut einen Weg nach oben, in die sichtbare Welt. Sie spürte in sich eine wilde Lust, ja, sie konnte das Anschwellen ihrer Feuchtigkeit bemerken, als ein verwegener Gedanke begann, in ihrem Kopf Fuß zu fassen. Sie wedelte unkoordiniert mit der Hand.
„Drei Monate? Sind eher sechs.“
Natalie musste kichern, ihre Zunge wurde schwer. Schwere Zunge. Dicke, schwere Zunge an ihren Schamlippen, sie seufzte. Wo war das hin, das Abenteuergefühl? Dieses Nichtwissen-was-als-Nächstes-kommt? Mit Tom war alles so eingespielt, so vorhersagbar. Und dann seine ganzen Macken. Diese vielfältigen, abstoßenden Marotten, mit denen er ihr auf den Wecker ging, schon so lange. Jeder andere Mann würde sie mehr reizen, als ausgerechnet dieser Pedant, dieses Bündel aus schrägen, sattsam bekannten Skurrilitäten, dieser berechenbare, 08/15-Liebhaber. Jeder andere Mann wäre unbekannt, aufregend, inspirierend. Wirklich jeder!
„Was meinst Du damit? Was meinst Du mit jeder andere Mann?“
Natalie hob den Kopf und hielt im letzten Moment ihr Weinglas gerade.
„Was?“
Sie versuchte sich zu erinnern: Hatte sie soeben etwa laut gesprochen und nicht nur gedacht? Sie wusste es nicht mehr. Tom lächelte ihr zu, mit einem unsicheren Ausdruck in den Augen, doch da war auch Hoffnung. Er räusperte sich.
„Also, wenn Du meinst, mit einem fremden Mann kommt das alte Gefühl zurück, will ich Dir da nicht im Weg stehen. Aber ich will auch nicht auf der Strecke bleiben. Kannst Du das dann wenigstens in meiner Anwesenheit ausprobieren?“
Natalie wusste nicht genau, wovon Tom sprach, aber es fühlte sich gut an. Die Worte „fremder Mann“ lösten einen besonderen Reiz in ihr aus, den sie sich nicht erklären konnte. Sie nickte.
„Klar, machen wir.“
Dann trank sie ihr Glas leer. Wenig später sank sie in sich zusammen. Sie spürte nicht mehr, dass Tom sie ins Bett trug, sie sanft hinlegte und anschließend voller Zärtlichkeit eine Decke über sie zog. Als er seine Geliebte versorgt wusste, setzte er sich an seinen Computer und begann, einen fremden Mann zu suchen, der bereit war mitzuhelfen, seiner zukünftigen Frau ihre ursprüngliche Empfindungsfähigkeit zurück zu geben. Da er noch einige recht eindeutige Fotos aus der gar nicht so lange zurückliegenden aktiven Zeit auf seiner Festplatte hatte, war er für diese Art von Vorhaben bestens ausgerüstet. Sich auf einer einschlägigen Homepage anzumelden, ein entsprechendes – natürlich weibliches – Profil anzulegen und mit aussagekräftigen Bildern von Nat zu versehen, kostete ihn nicht einmal eine Stunde. Er war gespannt, wie seine zukünftige Frau auf diese Art von Hilfe reagieren würde.
(tbc.)