Hellschwarz (1)
Jorind und ihre Freundin Susann hatten sich zum Nordic Walking verabredet. Hündin Jamie war auch mitgekommen. Sie trafen sich am frühen Abend vor Jorinds Haus in der Hauptstraße. Es war bereits dunkel an diesem Vorfrühlingsabend, und die Straßenlampen verbreiteten ihr warmes goldgelbes Licht.Sie gingen die Dorfstraße ein Stück entlang und bogen hinter der Bahnschranke, die die stillgelegte Bahnlinie markierte, in die Seitenstraße ein, die zur Birkenalle führte. Es war eine ehemalige Kohlebahntrasse, die teils als Hohlweg, teils als Damm um den gesamten Nordrand des Dorfes verlief.
Auf den ersten Metern war noch das helle Klicken ihrer Stöcke auf dem Pflaster zu hören, dann bogen sie in den Hohlweg ein und das Geräusch verstummte. Der Untergrund bestand hier aus mit Erde und Gras bedecktem Kies, der hie und da von Baumwurzeln durchzogen war.
Erlen und Platanen wuchsen hier, alte Birken in kleinen Gruppen, eine kränkliche Rosskastanie und ein weit über den Weg sich wölbender Walnussbaum. Seine kahlen Zweige, an denen die schwärzlichen Knospen auf den Frühling warteten, berührten auf der gegenüberliegenden Seite die schweren, dicht benadelten Äste einer riesigen Tanne, die vermutlich in ihrer Kindheit als Weihnachtsbäumchen eines der benachbarten Häuser geschmückt hatte.
Das Licht der Straßenlampen drang nicht bis hierher, und es war so dunkel, dass Susann die vor ihr gehende Jorind nicht mehr sehen konnte. Auch der Hund war in die Schwärze eingetaucht. Ein leichtes Rascheln am Wegrand verriet, wo die alte Hündin im Vorjahreslaub nach Duftmarken schnüffelte.
"Wie kannst du hier den Weg erkennen?" fragte Susann und blieb stehen. Sie war mit dem Fuß an einer der zahlreichen Baumwurzeln hängengeblieben und wäre fast gestürzt. Jetzt hörte sie Jorind leise lachen.
"Du musst nach oben sehen, nicht auf den Boden. Unten ist alles schwarz. Aber wenn du in den Himmel schaust, siehst du, wie der Weg verläuft, als helleres Band über dir. Hellschwarz, sozusagen."
Susann blickte nach oben. Sie sah ein paar blinkende Sterne und die schwarzen Silhouetten der Bäume, die sich gegen den Nachthimmel abhoben. Zwischen den Umrissen der Bäume verlief ein keilförmiger Streifen Himmel.
"Du hast recht. Aber gibt es auch Nächte, wo du gar nichts siehst?"
"Ja, aber das kommt selten vor. Eigentlich nur bei geschlossener Wolkendecke, wenn gleichzeitig Neumond ist."
Sie gingen langsam weiter. Nach kurzer Zeit blinkte vor ihnen das erste Licht der Hauptstraße auf. Der Weg verlief durch einen Tunnel unter der Straße durch. Sie waren jetzt an der Stelle angelangt, wo der Hohlweg fast unmerklich in einen Damm überging. Link von ihnen lag die riesige Denkmalwiese, unter der bis heute die sterblichen Überreste der Bergleute liegen, die bei einer Überflutung ihres Stollens vor vielen Jahren ertrunken sind. Es war unmöglich gewesen, sie zu retten oder ihre Leichen zu bergen, und so hatte man ihnen wenigstens ein Denkmal setzen wollen.
Die beiden Freundinnen kamen zu einer Bank und beschlossen, eine Pause einzulegen.
"Gut, dass wir mal alleine sind", fing Jorind an, "ich wollte dich schon lange mal was fragen. Aber vor deiner Tochter konnte ich nicht darüber reden."
"Schieß los", sagte Susann und streckte ihre Beine aus. Fast hätte sie Jamie von den Füßen geholt, die plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht war.