Bericht der alten Dame
Als ich im Zuge meines Burnout sechs Wochen in der Psychiatrie verbrachte, habe ich Tagebuch geführt. Hier ein Auszug.Letzte Nacht habe ich schlecht geschlafen und gegen Morgen schlecht geträumt. Gestern Abend hatte ich noch mit Frau Franke zusammengesessen, weil ich auf Werners Anruf gewartet habe. Wir saßen zwischen sieben und acht Uhr in der Patientenküche, und die alte Dame hat mir vom Krieg und ihrer Flucht aus Ostpreußen erzählt. Sie war damals achtzehn und hatte ein kleines Kind, erst ein paar Monate alt. Es ist auf der Flucht gestorben. Sie konnten es nicht einmal richtig begraben, weil der Erdboden hart gefroren war.
Sie waren zuerst in einer Gruppe von mehreren Frauen und Kindern unterwegs, drei deutsche Wehrmachtssoldaten waren bei ihnen. Sie wurden von den Russen eingeholt und aus dem Keller getrieben, in dem sie sich versteckt hatten. Die Russen standen oben am Eingang, Gewehr im Anschlag. Zuerst sind die Soldaten nach oben gestiegen, die Hände über dem Kopf. In der Nähe war ein Wäldchen, und von dort waren kurze Zeit später Schüsse zu hören. Dann kamen die Russen zurück und haben die Frauen aus dem Keller geholt. Sie sind mit ihnen zu ein paar Sommerhäuschen gegangen.
"Wir haben aber Glück gehabt", sagte Frau Franke, "die Russen kamen vom Kampfeinsatz und waren hundemüde."
Später zogen die Russen mit ihnen weiter und nahmen dabei den Pferdeschlitten mit, den die Frauen dabei hatten. Die Pferde haben aber auf die russischen Kommandos nicht gehört, und da haben sie sie mit der Peitsche so heftig angetrieben, dass die Pferde losgestürmt sind und den Schlitten umgeworfen haben.
Irgendwie sind die Frauen schließlich von den Russen losgekommen und haben ihre Flucht Richtung Küste fortgesetzt. In ihrer Gruppe waren auch drei Jüdinnen, von denen eine an der Schulter schwer verletzt war. Die Wunde war vereitert und roch schon faulig, obwohl sie sich bemüht haben, sie gut zu verbinden. Die Frau ist dann auch an Blutvergiftung gestorben.
Zuletzt haben sie an der Ostseelüste ein Schiff nach Kopenhagen erwischt. Es war das zweitletzte, das nach Dänemark fuhr. Das letzte ist dann versenkt worden.
Frau Franke kam in Dänemark in ein Flüchtlingslager. Von dort hat sie mit Hilfe des Roten Kreuzes ihre Eltern gesucht. Zuerst hat sie ihren Vater gefunden. Er hatte sich aber mit einer Frau zusammengetan, und es war auch schon ein kleiner Junge da. Dort wollte sie nicht bleiben und hat später in Ostdeutschland ihre Mutter aufgespürt und ist bei ihr geblieben.
Vielleicht war dieser Bericht der alten Dame der Grund, dass ich in der Nacht einen bösen Traum hatte. Ich ging an der stillgelegten Bahnstrecke zwischen Altenburg und Zeitz entlang, wo die Bahn alte Güterzuge abstellt. Ich hatte noch ein Mädchen bei mir, das mir vorauslief. Plötzlich kehrte sie um und kam mit erschrockenem Blick zurückgelaufen.
Ein Mann war aus einem der Waggons gesprungen und ging jetzt auf mich los. Ich ging in Kampfstellung, nahm die Fäuste hoch und rief gleichzeitig um Hilfe: "Joachim, Joachim!" Mit diesem Schrei bin ich hochgeschreckt. Im Aufwachen habe ich mich noch selbst rufeh hören.
(c) luccioladagosto