Drehbuch
Die Kamera schwenkt auf der Autobahnbrücke um 180° vom fließenden Verkehr, der ihr entgegen strömt, in Fahrtrichtung und beobachtet nun das graue Band, welches sich bis zum Horizont eine sanfte Hügellandschaft hinaufmäandert und auf dem sich lange vor dessen sichtbarem Ende ein Stau abzeichnet.Ein stahlblauer Himmel spannt sich über einen heißen Sommertag, der gutgelaunt die Blechkarawane bescheint.
Die Kamera schwenkt beiläufig weiter, so als würde sie der Stau nicht interessieren, so als würde sie viel lieber das Licht speichern, lustig umher schwenken, immer im Kreis herum, damit ihr auch nicht die klitzekleinsten Details der goldgelben, azurblauen und sattgrünen Farbenwelt dieses wunderbaren Tages entgehen.
Eine Vollbremsung am Ende des Staus reißt sie aus ihrem verträumten Blick und lässt sie jäh herumschwenken. Sie beugt sich über das Treppengeländer und beobachtet jenen Wagen, der gerade noch rechtzeitig, fast direkt unter der Brücke, zum Stehen gekommen ist.
Blauer Dunst steigt aus den Radkästen empor und lässt ahnen, was Reifen und Bremsen gerade für einen Stress hinter sich haben.
Da der Stau sehr hartnäckig zu sein scheint und nach längerem Stillstand aussieht, riskiert es die Kamera, die kleine Treppe zur Autobahn herab zu steigen und sich neben jenen Wagen zu stellen. Neugierig blickt ihr Objektiv zur Fahrerseite durch die geöffnete Scheibe und bleibt still stehen.
ER hat die Hände noch am Steuer und aus seinen weit aufgerissenen Augen ist der Schreck über den Beinaheunfall noch nicht gewichen. ER kann offenbar auch noch nicht sprechen.
SIE ist allerdings schon eifrig bemüht, zumindest die unübersehbarsten der Kaffeeflecken zu beseitigen, die ein von der Schwerkraft entbundener Becher, oder besser gesagt sein Inhalt, gleichmäßig auf ihr violett- weißes Kostüm gezaubert hat.
SIE (wie in heftiger Trance an ihrem Rock rubbelnd)
Jetzt sieh dir bloß diese Schweinerei an. Das ist doch nicht zu fassen. Das geht doch nie mehr raus. Ich habe überhaupt nichts zum Wechseln dabei. Ich fange gleich an, zu schreien.
(Sie schreit längst.)
ER (Kann immer noch nicht sprechen.)
Sie
Ich werde wahnsinnig. Und ich werde es umso schneller, je länger du jetzt nichts sagst.
ER (langsam, seeeehr langsam sprechend)
Vielleicht realisierst du mal, dass in dem Wagen vor uns ein kleines Kind auf den Rücksitz hockt, in das wir jetzt beinahe rein gefahren wären.
SIE
Und vielleicht realisierst du mal, dass ich gerade wegen deiner scheiß Sonnenbrille halb auf der Rücksitzbank gelegen habe, um da ran zu kommen und jetzt gut und gerne statt des Kaffeebechers an der Scheibe kleben könnte.
Aber „der Herr“ mimt ja sofort den Gutmenschen und denkt selbstverständlich nur an andere, nur nie an mich. Scheiße noch mal, ich wäre jetzt beinahe Brei und sehe aus wie die Milkakuh, wenn sie ihre Regel hatte und du kümmerst dich ständig um andere. Ich hab das so satt.
ER (fasst sich langsam wieder)
Ich überlege gerade, ob ich zuerst auf deine Hysterie und dann auf deine Unverschämtheiten eindresche, oder umgekehrt.
SIE (kampflustig jedes Wort dehnend)
Na da streng dich mal an.
ER
Ach, ich habe keine Lust. Es ist viel zu heiß und es ist mir noch nicht mal mehr wichtig, dass DU die Scheißsonnenbrille aufsetzten wolltest, ich also gar nichts damit zu tun hätte, wenn du jetzt an der Scheibe kleben würdest. Also strafrechtlich meine ich.
Ist eigentlich noch Kaffee da?
SIE (mit einer deutlichen Zornesfalte auf der Stirn)
Das bisschen reicht leider noch nicht mal, um es dir über die Hose zu schütten oder dich zu verbrühen.
ER (seine Form wieder findend)
Und ich sage noch, nehme bitte nicht die billige Kanne, die hält die Wärme nicht.
SIE
Arsch.
ER
Ach Schatz.
Die Zeit vergeht und der Stillstand findet kein Ende. SIE und ER beginnen zu schweigen, was beiden offenbar gut tut. Die Kamera läuft zwischen den Autos umher, schaut mal hier hinein mal dort hinein. Längst ist jegliches Motorengeräusch erstorben. Nur hin und wieder startet einer, um ein wenig Kühlung in den Wagen zu fächeln. Die Menschen haben sich scheinbar ihrem Schicksal ergeben und dösen in den Autos vor sich hin.
Nur die Grillen zirpen und haben die Hoheit über die Geräuschkulisse der Mittagshitze übernommen.
Der Kamera wird langweilig und sie schlendert zurück zu IHM und IHR. Gerade rechtzeitig denn
SIE fragte
Weshalb wir wohl hier stehen?
(und bereut es gleichzeitig.)
ER (mit Siegerlächeln dozierend)
Nun, ich würde zwei Möglichkeiten favorisieren.
Die erste ist, dass der albanische Staatszirkus mit seiner Karawane halt machte, weil die Leute da weder Autobahnen, noch ihre ausschließliche Nutzbarkeit kennen und sie sodann unter lautem Protest der deutschen Autobahnbenutzer ihr Zelt mitten auf der Piste aufgestellt haben.
Die zweite Möglichkeit ist die, dass einfach einige Fahrzeuge unkontrolliert ineinander gefahren sind, womöglich mit Verletzten und Toten.
SIE
Du warst auch schon mal besser in deiner archaischen Idiotie. (und das Thema wechselnd).Dieser verdammte Stau. Wenn ich mir überlege, dass wir auf dem Weg zu deiner Mutter sind, wird mir erst recht schlecht. Sozusagen haben wir uns auf dem Weg zur Pest auch noch mit Cholera infiziert.
ER (seltsam entspannt)
Pest und Cholera? Da kann ja gar nichts mehr schief gehen. Höhö. Aber wenn ich dich daran erinnern darf, wir sind auf dem Weg zu meinem Vater, der mit einem Herzinfarkt in der Klinik liegt.
SIE ( trotzig)
Eben, er hielt die Verstopfung seiner Herzkranzgefässe irgendwann für die gnädigere Lösung. Und selbst dieses Finale hat sie verhindert. Pah, fand ihn einfach in der Küche und holte den Arzt.
ER (mit trauriger Empörung)
Jetzt übertreibst du aber.
SIE (sehr empört)
Ich übertreibe? Hast du schon alle Abartigkeiten vergessen, die diese Frau sich ausgedacht hat, damit ich die Finger von ihrem Lieblingssohn lasse?
Sie hat mich ein Jahr lang demonstrativ nicht beim Namen genannt. Nicht nur dass sie mich umging wo sie nur konnte, sie gab mir das unbedingte Gefühl, dass ich für sie gar nicht existiere wenn ich in ihrer Nähe war. Ich habe über alles hinweg gesehen. Das sie mich hinter meinem Rücken Schlampe nannte, erschien mir vor dem Hintergrund andauernder Versuche, mich zu demütigen, fast als Zärtlichkeit. Und als sie sagte, sie wolle lieber gar keine Enkel als von mir Geborene habe ich beschlossen, sie mit meinem Hass zu strafen. Ich komme mit nichts anderem klar.
ER (immer noch gelassen, was nicht recht zu ihrer Aufregung passen will)
Du hättest meine Mutter vielleicht damals nicht begrüßen sollen mit „ich bin die, die ihren Sohn vögelt“. Und dass, als ausgerechnet zur gleichen Zeit der Dorfpfarrer im Obergeschoß meiner Großmutter die letzte Ölung gab.
Und vielleicht hättest du damals lieber zuerst mal angerufen und uns alle auf deine neue Frisur vorbereitet. Auch mich.
Mit kahl geschorenen Haaren, etwas ähnliches wie einen Joint rauchend, aus dem einzigen Bus steigend, der täglich in unserem Dorf hielt, und auf dem Weg zu uns schon jeden anblaffend, der es wagte diese eine Sekunde zu lange den Kopf zu schütteln, über diesen Anblick mitten in einer erzkatholischen Landschaft.
Das war schon am Anfang einfach zu viel für meine Mutter. Weißt du, dass einige Leute nicht mehr mit ihr sprachen, wegen „der neuen Schwiegertochter“?
SIE (trotzig)
Mir kommen gleich die Tränen. Sie hätte sich doch wehren und zu mir halten können. Es war ihre Entscheidung.
ER
Wie denn, du hast ihr doch gar nichts zum festhalten gegeben. Und „wehren“, dass ich nicht lache. Sie ist im Zentrum des Patriarchats aufgewachsen in einer Miniaturwelt voller Enge. Wenn nicht der Vater immer recht hatte, dann aber doch zumindest der Pfarrer oder Gott. Für eigene Regeln war da kein Platz.
SIE (ihn aufmerksam und plötzlich sehr ernst von der Seite betrachtend)
Ich überlege gerade, wie viel du davon abbekommen hast. Und ob du überhaupt anders als sie bist.
ER (blickt geradeaus, aber die aufmerksame Kamera erfasst seine Augen, die einen Sekundenbruchteil zu Schlitzen werden)
Und ich überlege gerade, ob das jetzt eine Provokation ist und du überhaupt zu akzeptieren in der Lage bist, dass es nun mal meine Mutter ist.
(den Kopf zu ihr drehend)
Und wie wenig ich mir das doch aussuchen konnte.
SIE (etwas sanfter und eher mit einem leise beschwörenden Ton)
Das ist keine Antwort auf meine Frage
ER (dennoch ungehalten und fast zornig)
Wie soll ich die denn auch beantworten? Etwa: Ja, Schatz natürlich bin ich wie meine Mutter und natürlich bin ich genau so ein zynischer, verbitterter, egoistischer und emotional minderbemittelter Mensch geworden wie sie es ist, weil ich ja schließlich aus ihrem Leib kroch. Habe ich was vergessen in der Aufzählung?
SIE
Frigide. Mit Sicherheit frigide.
ER
Das wird jetzt grenzwertig.
(Die Kamera hat auf der Rückbank Platz genommen und filmt die beiden jetzt innerhalb einer Einstellung, ohne sich zu bewegen. So erfasst sie beide , sich zugewandten Gesichter, im Halbprofil gleichzeitig)
SIE
Ja, gut so. Lass es mal grenzwertig werden. Wann denn, wenn nicht jetzt?
ER (verdreht die Augen)
Ach du liebe Zeit, Fräulein Immerimrecht lässt die Delinquenten antreten um sie abzustrafen. Das nennt sie dann gerne offene Direktheit. Und alles klingt dann immer so mutig bei ihr. Und alles andere zwangsläufig feige.
SIE (etwas unsicher)
Lenk doch nicht ab.
ER
Oh nicht doch, ich bin mittendrin. Also bitteschön, reden wir Tacheles. Wo wollen wir anfangen, bei deinen Eltern?
(er dehnte „deinen“ und sie zuckte unmerklich)Bei deinem Vater, den du nicht kennst, weil er außer deine Mutter zu schwängern und abzuhauen nichts zustande brachte. Und schon gar nicht, für deinen Unterhalt zu sorgen.
Schau mal, ganze zwei Sätze gibt es zu deinem Vater zu sagen. Ist das nicht furchtbar? Wollen wir über deine Mutter reden? Die vor lauter gekränktem Stolz keine Hilfe annahm, die mit dir gleichzeitig überfordert war, die dich abwechselnd in Pflegefamilien unterbrachte und dich zu sich nahm, wenn ihr mal wieder ihre Mutterrolle bewusst wurde.
Wobei die Betonung bei deiner Mutter doch mehr auf Rolle liegt. Nun ja, eine Schauspielerin eben.
SIE (schon trotzig bis getroffen)
Sie hat mich immer geliebt.
ER (sehr deutlich)
Das hat meine Mutter mich auch. Auch wenn es für dich nicht vorstellbar ist. Sie tut es immer noch. Akzeptier das doch einfach.
SIE
Du machst es dir zu einfach. Ob deine Mutter lieben kann oder nicht ist mir egal. Und das was sie mir angetan hat oder was mein Vater mir angetan hat, hat nichts mit dem zu tun, wie ich geworden bin. Ich bin ich.
ER
Das glaubst du doch selber nicht.
SIE
Natürlich glaube ich das. Versteckt ihr euch alle nur hinter dem Unausweichlichen, der Macht der Gene. Herrje, der Gedanke macht mich krank, dass jedes Scheusal seine Seele weiter geben kann und so weiter lebt. Als du, als ich, als wer weiß wer. Ich will das einfach nicht.
ER
Ist dir schon mal aufgefallen, dass du selbst die Kaffeetasse hältst wie deine Mutter sie hielt. Das du so gehst wie sie ging. Und du willst mir einreden, dass du ansonsten ein völlig anderer Mensch bist. Du glaubst nicht, dass da etwas Unauslöschliches weitergegeben wird?
SIE (mit gekünsteltem Schrecken, der wohl nicht auf dem Leim seines plötzlich moderaten Tons kleben bleiben will)
Mach mir keine Angst, wir sind schließlich verheiratet und eine solche Erkenntnis müsste mich sofort zur Scheidung bewegen. Du in Gestalt deiner Mutter. Bruhhhh.
ER
Du disqualifizierst dich gerade für das Niveau, auf dem ich eben noch so mit dir reden konnte.
SIE
Und jetzt sag noch, dass mir dass auch ohne Probleme gelingen muss, weil ich da ja keinen weiten Weg zurücklegen musste und ich steige aus.
ER
Aus was? Dem Auto?
SIE
Ja, und ich gebe zu, dass ich mir das mit anderen Dingen ebenso einfach vorstellen möchte.
(eigenartigerweise traf ihn dieser Satz mehr als alle anderen, die sie gesagt hatte und die Kamera bemerkt dass in einer schnellen Großaufnahme seines Gesichtes, über das ein Schatten der Traurigkeit flog. Sie bemerkt das auch und plötzlich wird ihr klar, wie eng und heiß nicht nur das Wageninnere, sondern auch die Situation geworden ist.)
ER (deutlich leiser)
Ok, ok, wenn du etwas ganz Grundsätzliches sagen willst, dann tu es. Aber lass meine Wurzeln in Ruhe. Meinetwegen kannst du meine Mutter hassen. Das tust du ja schon seit Jahren und ich lasse dich damit sein. Und schließlich habe ich mich gegen ihren Willen zu dir bekannt und ich verstehe nicht, weshalb du mich da jetzt mit hinein ziehst.
SIE (traurig als sie dass sagt)
Und das wir uns gegenseitig beleidigen, womit hat das zu tun?
ER (schweigt und die Kamera filmt das Schweigen)
SIE (sie beugt sich ein wenig näher zu ihm)
Womit hat das zu tun? Bitte!
ER (schaut sie lange an und spricht einige Zeit mit den Augen, bevor er den Mund öffnet)
Nicht mit Liebe, hm?
SIE
Nein, nicht mit Liebe. (und als hätte ihre Stimme nicht eben noch voller Vorwürfe geklungen, sondern leise und verhalten weiter)Dabei hast du es mir gerade vor einigen Tagen noch gesagt und ich frage mich, weshalb du mich liebst.
Das nachfolgende Schweigen bekommt etwas Unheimliches. Sein Nichtantworten und sein unbeweglicher Blick durch die Windschutzscheibe werden für sie zusehends zu einer Qual. Die Stille ist so deutlich, dass die Kamera sie ohne jedes Mikrofon einfangen kann, sie ist so unheimlich, dass sie beschließt, auszusteigen, um der Situation zu entkommen. Sie geht ein paar Meter weiter und zoomt sich den Berg hinauf, auf dessen Kamm zu erkennen ist, dass die Autos sich langsam wieder in Bewegung setzen. Es hatte also einige Stunden gedauert.
Sie stellt sich dreibeinig an den Rand der Autobahn, und sucht „ihre Leute“, denn sie war verwirrt worden durch den Streit und wusste gar nicht mehr, wie viele Meter sie gegangen war.
Und so blickte sie direkt von der Beifahrerseite in jedes Auto, das sich langsam und immer nur im Schritttempo an ihr vorbeiquält und registriert, dass beinahe in jedem Wagen Menschen sitzen, die größtenteils verstummt waren.
Die meisten blicken vor sich hin, wie Fische direkt an einer Aquariumscheibe. Nur dass sie noch nicht mal mehr die Münder bewegen. Atmeten sie noch?
Ist es die quälende Langsamkeit, zu der man verurteilt war, der völlig unnatürliche Zustand einer alles lähmenden Statik mitten in einem FORTBEWEGUNGSMITTEL.
Oder das damit verbundene gegenseitige Ausgeliefertsein?
Die Kamera vermutet hinter jeder Scheibe ein Drama, will aber auf „ihre“ beiden warten. Sie war ja nicht geflohen, weil sie die beiden nicht mehr ertrug, sondern die Bedrohlichkeit, die über beiden hing.
Sie mochte die beiden und war froh, dass sie genau in dem Moment vorbeikommen, in dem ihr Objektiv gleichzeitig im Hintergrund die warme Abendsonne erfasst und beiden goldgelbe und warm beschienene Gesichter aufsetzt.
Da die Autoschlange noch sehr lang ist und das Schritttempo sicher noch eine ganze Zeit die Geschwindigkeit bestimmt, entschließt sich die Kamera verwegener weise auf der Motorhaube Platz zu nehmen.
Sie will die beiden ansehen.
SIE blickt ein wenig nach rechts, vermutlich, damit er das Glitzern in ihren Augen nicht sehen kann.
ER schaut geradeaus und weiß sehr genau, dass sie ihre Tränen verbirgt. Und er traut sich nicht, seinen Kopf zu drehen. Er ist wie gelähmt. Und sucht nach einem Faden, nach einem greifbarem Ende von dem an er weiter sprechen kann.
ER (beginnt verhalten und spricht zögerlich)
Es hat damit zu tun, dass ich oft versinke. In etwas, das ich nur schwer beschreiben kann.
SIE reagiert nur mit einer Wandlung ihres Blickes, ohne dass er es sehen könnte, da sie ihren Kopf nicht dreht. Ihr Blick bekommt eine Mischung aus erschrockener Verwunderung und interessierter Zärtlichkeit- schwer zu spielen)
ER (immer noch langsam)
Es hat auch damit zu tun, dass ich erschrocken bin über meine Fähigkeit zur Geringschätzung. Und über deine. Und ich frage mich, ob man lieben kann, was man gleichzeitig zu beschimpfen und verhöhnen in der Lage ist.
SIE (Tränen rinnen fast augenblicklich an ihren Wangen herab, so als brächte es ventilartig nur ein einziges Wort, und tropfen auf ihre Bluse. Mit tränenreicher Stimme)
Jetzt rettest du dich wieder auf eine Position, ohne mich mitzunehmen. Egal was es ist, du stehst da auf deiner Insel und lebst mit deinen Argumenten. Einer Position, die dir passt. Das ist es. Du nimmst mich immer weniger mit.
ER (leise)
Ja, kann sein.
SIE
Kann?
ER
Ist so.
SIE
Das muss jetzt gesagt werden, ja? Wo bist du denn, wenn du versinkst.
ER
Lassen wir die Polemik. Du verstehst mich sicher viel besser, als du zugibst. Und du willst gerade beleidigt sein.
SIE (resigniert)
Ach. Ich will nicht, ich bin es.
ER
Nenn es „Denkraum.“
SIE (runzelt die Stirn, aber nicht ohne Interesse)
ER ( wiederholt mit sicherer Stimme)
Nenn es Denkraum.
Ein zunächst dunkler Bereich, der von Besuch zu Besuch größer wird. Wann immer ich ihn aufsuche, bringe ich Gegenstände mit von meinen Reisen. Sie füllen die Regale und schimmern in verschiedenen Farben, sie geben Töne von sich, sie riechen, sie schmecken.
Sie füllen den Raum mit Licht und Schall. (Er spricht schneller und fester, so als kämen seine Gedanken, gleich einem herabrollenden Schneeball größer und mächtiger werdend, in Fahrt)
Und sie geben mir ein Bild wider, das mich oft einnimmt. Und mitnimmt.
Ich bin da immer öfter, seit ich den Raum gefunden hatte. Eigentlich müsste es Empfindungsraum heißen.
SIE (schaut ihn sehr intensiv an)
Ich weiß nicht woran es liegt, aber ich kann dir nicht folgen. Ich meine, ich verstehe nicht, wovon du redest. Und das liegt bestimmt nicht daran, dass ich nicht wüsste was du meinst.
Glaubst du nicht, es würde reichen, dass du ab und an mal über deine Empfindungen und Gedanken mit mir sprichst? ( natürlich betont sie „sprichst“)
ER (halb auf ihre Frage antwortend, halb weiter redend)
Und ich bin gern allein mit ihnen. Ich passe da auch nur alleine rein in den Raum. Vermutlich will ich auch gar keine Antworten haben. Ich erlebe diesen Raum in mir, als einen plötzlichen Empfindungsreichtum, den ich noch nicht kannte vorher.
SIE (bewusst provozierend)
Vorher? Bevor der Blitz im Nebenhaus einschlug, oder was? Lass mich nachdenken, dass war vor einem halben Jahr. (und wieder etwas höhnischer) Genau, jetzt wird mir doch vieles klarer.
ER (da der Verkehr jetzt wieder still steht, kann er sich ihr direkt zuwenden)
Der Blitz schlug im Nachbarhaus ein, einen Tag nachdem ich erfahren habe, dass du mit meinem Bruder schläfst.
SIE (ihr Gesicht gefriert zu einer Art Schockstarre. Die Kamera lässt ihr Auge ohne Erbarmen auf dieser augenblicklichen Scham, der siedendheißen Peinlichkeit des Entdecktwerdens ruhen. Sie kann nicht sprechen. Das tun ihre Augen für sie. Sie entkoppeln sich von der gefrorenen Mimik und wandern unruhig hin und her, sich halb entschuldigend, halb festhaltend an seinem Blick. Die Geräusche verstummen plötzlich und die Kamera schleicht sich ganz nah an ihr Gesicht. Sie betrachte die Augen in einer mikroskopischen Aufnahme)
ER
Ich konnte nicht über meine Empfindung sprechen, die zunächst auch mit dieser Entdeckung zu tun haben, es ging irgendwie nicht. Ich war genauso gelähmt wie du jetzt. Meine Güte, ich wollte dir genau das hier das ersparen. Verdammt, wieso provozierst du mich so?
Die Tonlosigkeit nimmt kein Ende. Die Situation wird unerträglich. ER kann die letzten Sätze nicht mehr rückgängig machen und SIE weiß, dass beide an einem Wendepunkt angekommen sind. Von hier an liegen alle Schichten frei. Es braucht keine Gewalt mehr in der Sprache. Die Situation ist viel mächtiger und verlangt nichts als die Wahrheit.
SIE (beginnt hemmungslos zu weinen, und spricht endlich, sofern es das dazwischen liegende Schluchzen zulässt)
Ich habe immer fliegen wollen mit dir. Du hast mein Herz leicht gemacht mit deiner Art, deiner Lebendigkeit und deiner Freundlichkeit. Du warst nie von so großer Stärke, die manche Frauen sich wünschen, aber ich spürte immer, dass du stark genug für mich warst. (sie nimmt sein zaghaft gereichtes Taschentuch und putzt sich die Nase)
Und mehr habe ich nie gebraucht. Ich wusste immer, dass wenn eines Tages niemand mehr ein Herz hat, du noch immer eines hättest.
So war das, als ich dich genommen habe. Und was war ich glücklich, dich bekommen zu haben. Und ich BIN geflogen mit dir.
ER (blickt stumm geradeaus und spricht tonlos)
Meine Güte, es ist so banal. Irgendwann haben wir doch wieder den Boden berührt. Und sind unserer Wege gegangen. Jeder seinen, wie es scheint.
Ich will nicht wissen was dich zu ihm ins Bett zog. (Die Kamera blendet für einen Moment ihren sich öffnenden Mund ein) Nein, sag es nicht.
Manchmal dachte ich schon, es sei ja gar nicht schlimm, immerhin ist es das gleiche Blut und eigenartigerweise habe ich noch nicht mal so etwas wie Wut auf ihn. Ich habe gar nichts auf niemanden. Manchmal denke ich, innen leer zu sein. Wie sehr fühlt man, wenn man noch nicht mal Wut oder Zorn entwickeln kann.
Und dann dachte ich wieder, ich habe das alles aufgefressen, was mir schon bildlich nicht gefiel. Was immer ich angestellt habe, es hat mich mittlerweile weit weniger gestört, dass meine Frau mich mit meinem eigenen Bruder betrügt, sondern dass ich offenbar nicht adäquat fühle dabei. Da habe ich endgültig gemerkt, wie halb ich all die Jahre war. In vielerlei Hinsicht und nicht erst ab dem Tag, ab dem ich es wusste. Verstehst du? Es reicht eben nicht, jemanden zu lieben, wenn man selbst nicht vollständig ist.
SIE (immer noch mit einer tränenreichen Stimme)
Das ist mir alles zu kompliziert (zögert) oder zu viel auf einmal. Ich will mich dem nicht so schutzlos aussetzen. Und gleichzeitig kann ich gerade gar nicht richtig sprechen.
ER
Warum?
SIE
Nenn es Scham. (und weiter nach einer Pause) Und Wut.
ER
Wut? Worauf?
SIE
Auf uns. Auf dich und deine Unfähigkeit zu Reden, auf mich und meine Ungeduld. Verstehst du? Auch wenn du nicht wissen willst, warum es ausgerechnet mit deinem Bruder passierte, du wirst zur Kenntnis nehmen müssen, warum es überhaupt passierte. Du kannst das doch nicht abkoppeln und so tun, als wäre es nur mein Problem.
ER (trotzig)
Mir reicht, dass wir beide leiden darunter, weshalb soll ich wissen wollen warum es passierte. Himmel, was wird es wohl gewesen sein? Sehnsucht, Angst, Geilheit, Wut.
SIE
Angst und Wut?
ER
Angst, der Sehnsucht nicht standhalten zu können und ihr so lieber freiwillig Tür und Tor zu öffnen. Und Wut, so etwas Undifferenziertes und manchmal Zerstörerisches wie Geilheit zu empfinden. Und von ihr getrieben zu werden.
Mitunter geben wir den Verführungen doch lieber gleich nach, weil das Ankämpfen dagegen weder Spaß macht, noch nutzvoll erscheint.
SIE (schaut ihn aufmerksam an, sagt nichts, stimmt ihm aber mit den Augen zu)
ER
Das Gewissen ist ein ziemliches Arschloch. Mal ist es unbestechlicher Richter und verurteilt alles zum Tode, was es kriegen kann.
Mal ist es ein korrupter Bastard, der jede Schweinerei durchgehen lässt, nur um im richtigen Moment aus der Deckung zu springen und sich moralisierend und geifernd auf das zuckende und willenlose Fleisch zu stürzen.
Ich habe es manchmal so satt, wie wir sind und funktionieren. Ich will aus so vielen Gründen nicht wissen, weshalb du das getan hast oder noch tust. Wir sind nun mal so und ich habe mir in meinen Denkräumen das Moralisieren abgewöhnt, weil ich glaube, dass es nur eine bestimmte Moral gibt. Aber die hat nur etwas mit menschlichen Absichten zu tun, nicht mit Regeln.
Regeln sind im Grunde unmenschlich, weil sie uns zwingen zumeist entgegen unserer Natur zu handeln und uns ständig schuldig zu fühlen.
Fühlst du dich schuldig?
SIE (hatte immer noch aufmerksam, mitunter fragend, zugehört und war nun überrascht von der plötzlichen Frage, weshalb sie es zögernd, aber entschlossen sagt)
Ich fühle, dass ich eine Schuld habe. Und das ist nicht das gleiche.
ER (beginnt auf eine verstehende Art zu lächeln. Sehr zaghaft. Und spricht mit einem milden Tonfall)
Ja, dass ist nicht das gleiche und das ist gut so. Schuld haben ist so etwas Unvermeidliches wie Schnupfen bekommen. Manche schaffen es ja, jede Erkältung zu umschiffen, aber irgendwann mal kracht jeder mit vollen Segeln gegen das Riff. Und dann gibt es überhaupt niemanden, dem man das erklären könnte.
SIE (spricht mit den Augen. Sie will gern glauben, was er sagt und ist doch skeptisch, weil ER IHRE Argumente verwendet. Alles, was sie sich für diesen unvermeidlichen Tag an Erklärungen aufgehoben und zurechtgedacht hat im letzten halben Jahr, kommt nun von ihm. Die Kamera, die immer noch auf der Motorhaube sitzt, würde jetzt tief seufzen, wenn sie könnte. Stattdessen schwenkt sie kurz weg und zoomt sich der untergehenden Sonne näher. Wie aus dem OFF kommt ihre Stimme, während die Kamera sich noch dem warmen Licht widmet.)
Ich habe immer geglaubt, wir beide hätten eine Art immerwährendes Recht für uns gepachtet. Meine Güte, wir hätten nicht aus unterschiedlicheren Richtungen kommen können. Aber gerade deshalb kam mir das mit uns so richtig und gut vor. Nein, ich war davon überzeugt.
(mit hörbarer Bewegung in der Stimme. die Kamera mag das Licht noch ein bisschen betrachten und lieber zuhören)
Kennst du das denn nicht? Dieses Gefühl zu haben, dass es ein Teil der Bestimmung ist. Unwiderstehlich und unwiderruflich. Dieser Mensch ist für mich da und ich für ihn. Ich war so stolz, dazu zu gehören, zu denen, die von der großen Liebe reden konnten. Im Kino und im richtigen Leben. Und zwar völlig authentisch. Du hast Recht, meine Mutter hat mir das nicht vorgelebt und gerade deshalb habe ich dass immer vermisst und mit allen Sinnen gewollt. Aber es war noch etwas anderes.
Ich war erfüllt. Ich habe dich getroffen und von da an hast du jeden Raum, jeden Hohlraum in mir erfüllt. So warm und so weich fühlte sich das an. (sie zögert und sucht nach einem Gleichnis)
Man fasst, nein, man legt sich in einen großen Korb voller frisch gepflückter Rosenblätter. Nackt. Am Abend eines heißen Tages. SO fühlte sich das an mit dir.
DU bist mein Empfindungsraum gewesen. Ich habe lange geglaubt, nichts anderes zu brauchen.
(es entsteht eine Pause. eine voller Spannung, denn die Tatsache, dass sie in der Vergangenheitsform spricht, erfordert auch eine Gegenwartsform und die unerbittliche Frage, wie es denn jetzt sei.)
Aber irgendwann war das einfach vorbei.
ER (die Kamera hat ihn nun wieder in front im Bild und bemerkt seine Unruhe)
Es war genau ab DEM Tag, nicht?
SIE (zögert, nickt schließlich)
Natürlich erst später, aber du hast von da an irgendwie alles nur noch vom Kopf her gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass keiner deiner Gedanken mehr einen Weg über das Herz nahm. Alles was du gemacht hast war irgendwie richtig, rational und vernünftig, aber gleichzeitig wich das Leben aus dir. Das Leben das man führt und das Fehler macht und sich irrt und weint und auch mal tobt, wenn es raus will aus dem zu engen Körper und dem trüben Kopf.
Dabei hast du gar nicht gemerkt, wie ich mit dir gelitten habe und wie kurz die Distanz zwischen uns immer noch war. (und wieder mit einem unüberhörbaren Schluchzen). Aber du hast dich entfernt und ich konnte nichts machen. Vor allem konnte ich es dir nicht übel nehmen. Es war einfach deine Entscheidung.
ER (sie kann seine traurigen und feuchten Augen nicht sehen, weil er sich abwendet, aber die Kamera sieht es. Dennoch dreht er den Kopf zu ihr und beginnt zu erzählen, leise und mit einem tiefen Luftzug beginnend. Und erst jetzt bemerkt der Zuschauer, dass der Wagen längst steht, denn ER ist auf den Seitenstreifen gefahren.)
Als meine Mutter damals sagte, sie wolle lieber von dir keine Enkel, da habe ich diese ganze enge Welt um mich herum verflucht, denn sie war daran schuld, dass Menschen so etwas sagen. Ich habe meine Mutter dafür verflucht, dass sie so schwach war und dem nie entkommen wollte. Und meinen Vater, der sowieso immer nur in seinem Universum lebte. Ich habe gesehen, wie abgrundtief du gefallen bist und verletzt warst, als du den Satz, der schon wie eine Verwünschung klang, mitbekommen hast.
Und gleichzeitig war ich froh, weil ich wusste, dass wir beide dieser Welt bald entfliehen können, dass wir da nicht dazu gehören. Denn es hätte nicht gereicht, dich in den Arm zu nehmen und zu trösten oder Partei für dich zu ergreifen. Ich dachte damals in Gedanken zu meiner Mutter, pass nur auf, sie wird dir einen ganzen Kindergarten schenken, du Schlange. Und alle werden von mir sein.
SIE (nimmt seine Hand und drückt sie fest)
ER
Und dann, nach so langer Zeit, in der sich ihr Mantra auch noch zu erfüllen schien, kommt heraus, dass ICH der Grund dafür bin, das du keine Kinder bekommen wirst.
Ich war wie gelähmt und etwas ist unwiederbringlich kaputt gegangen. Es mag ja Menschen geben, die nehmen solche Diagnosen einfach mit nach Hause, setzten sich hin und verarbeiten dass alles ordentlich mit ihrer Frau, ihrem Therapeuten oder weiß ich mit wem. Und dann ist es irgendwann gut. Aber ich konnte das nicht. Mir war als hätte der Arzt zu mir gesagt, dass mir ein lebenswichtiges Teil fehlt, als sei ich vollkommen unvollkommen. Unfruchtbar. Ich dachte eine zeitlang, dass der religiöse Eifer meiner Mutter auf mich abgefärbt sei und ich scheute allein das Wort „Unfruchtbar“ wie eine Erbsünde, wie den Fuß des Teufels. Unfruchtbar zu sein, bedeutet einen kleinen Tod in sich zu tragen. Neben dem großen. Ein vorauseilender Nachhall sozusagen auf das eigene Ableben. Lange bevor man selber stirbt weiß man, dass die eigenen Gene mit diesem Tage auch gehen. Und der Nachhall erstirbt von einer Sekunde auf die andere.
Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als mein eigenes Fleisch und Blut in dich zu pflanzen und wachsen zu sehen. Mit dir gemeinsam. Es gibt gar nicht sehr viel mehr existenzielle Träume die ein Mann hat.
Und als wäre das nicht genug gewesen, habe ich meiner Mutter auch noch ansehen müssen, wie sehr sie DICH dafür verantwortlich gemacht hat. Weißgott, ich glaube sie leidet an einem religiösen Wahn und hat heimlich für deine Unfruchtbarkeit gebetet. Und wen trifft es? Mich.
SIE
UND mich.
ER
Ja, uns. (Er zieht ihre Hand, die immer noch in seiner liegt ein winziges Stück zu sich.)
SIE
Ich bin fast zerbrochen an deinem Leid und meiner so sehr fühlbaren Sehnsucht nach einem Kind von dir. Es war wie ein Alptraum, indem ein Verdurstender ständig ein leeres Glas ansetzt und Luft trinkt. Und so griff meine Sehnsucht immer ins Leere. Wofür du gar nichts konntest.
ER
Und jeder Versuch mit dir zu schlafen scheiterte schon an diesem Alptraum. (er schaut sie mit glasigen Augen an und holt tief Luft)
Ich hatte auch solche Träume. (Pause) Und darin war ich das Glas. Durchsichtig, leer und zerbrechlich.
(er dreht den Kopf gedankenversunken zur Scheibe)
Du hast an mir gesaugt, verzweifelt in die harten Ränder gebissen, das glasige Rund ausgeleckt auf der Suche nach dem Nektar. Manchmal sah ich dich mit Flügeln, mal farbig und schön gemacht, bereit zur Paarung, mal wie eine Biene, die sich tief in den Kelch beugt und manchmal wie meine Frau. Schön und unbeirrbar treu. Aber jeder Traum endete mit dem gleichen Ergebnis, der gleichen Enttäuschung.
Und irgendwann habe ich nichts mehr von der inneren Sonne herauslassen können. Vielleicht weil ich gefürchtet habe, die Restwärme auch noch zu verlieren. Bin in mir versunken, abgebrochen und weggedriftet wie ein Eisberg, der seinem sicheren Ende zutreibt. Ich wollte lange Zeit nicht glauben, wie selbständig und mächtig Gefühle werden können. Die kommenden und die gehenden. Es war als lege sich eine mächtige Ascheschicht wie ein Panzer auf alles was noch zuckt.
SIE (nimmt seinen Sprachrhythmus auf, bewusst oder unbewusst, jedenfalls ohne Pause)
Manchmal wäre ich dir gerne gefolgt in deine Einsamkeit. (sie pustet die Luft ein wenig heftiger durch die Nase, so als würde sie einen bitteren Lacher andeuten).
Aber so sehr du die Eisscholle warst, die abbrach, so sehr wollte ich da bleiben und Festland sein. Ich dachte du kämst irgendwann zurück. Und setzt dein Fuß wieder darauf.
Himmel, dabei waren wir fast jeden Tag zusammen und mitunter konnten wir entfernter nicht sein voneinander. Oft habe ich dich beobachtet, wie du mit stummem Blick aus dem Fenster geschaut hast, oft stundenlang ohne dich zu rühren. Wie deine Blicke die Weite suchten und wenn es mir auch schwer fällt, begreife ich so langsam, was du meinst mit „halb sein“. Und vermutlich warst du die ganze Zeit auf der Suche nach dem Stück, das dir fehlte. Und mir wird klar, dass weder ich noch mein Sein es dir ersetzen konnten.
(Es entsteht eine Pause und die Kamera merkt ihr deutlich an, dass sie etwas sagen möchte. Ihre Lippen nehmen ein paar Mal Anlauf)
Ich möchte dir sagen, warum er, warum ausgerechnet er.
ER (die ganze Zeit hatte er nach vorn geschaut, aber ihre Hand nicht losgelassen. Nun dreht er den Kopf, schaut sie eine Weile an nickt nach einer Weile leicht)
Ja, natürlich.
SIE (zögert noch einen Moment)
Es ist merkwürdig, noch vor kurzem hätte ich gedacht, du würdest das ohne deine übliche Dosis Zynismus nicht hinunter bekommen, aber jetzt fühle ich mich leicht dabei, es so sagen zu können.
Es war für mich so einfach. Er hatte alles, was du nicht mehr hattest. Ihr seid euch so ähnlich und immer wenn ich ihn sah, dachte ich, jemand hätte die Uhr zurückgedreht und eine unbefleckte und reine Kopie von dir vor meine Füße gestellt. Ich musste nur zugreifen und mich bedienen. Es war so einfach. Ich konnte zu dir flüchten wann immer ich wollte. Anfangs war es ein Spiel und ich habe das perfekt hinbekommen. Denk an meine Mutter. Nicht nur du hast Gene geerbt wie es aussieht. (sie lacht kurz und laut auf).
Aber irgendwann ist er natürlich dahinter gekommen und von da an war er nicht mehr du. Wie auch, das war ja nur meine Sehnsucht. (die Kamera zieht auf ihr Gesicht und beobachtet ihr Zögern. Sie schluckt, als müsse sie vor dem letzten Satz noch eine Hürde nehmen.)
Und plötzlich fühlte es sich an wie Liebe. Sie kam wie eine Katze. Schön, sanft und leise.
ER (hatte sie angeschaut, fast zärtlich ohne zu zucken bei der einen oder anderen Bemerkung, so als ob er jedes ihrer Worte schon kannte, bevor sie sie aussprach und so, als würde er jedes Wort verstehen).
SIE (schaut an sich herab, betrachtet ihren Busen und plötzlich ist ihr klar, dass er längst auch DAS weiß. Sie holt tief Luft)
Er sagt, dass er nicht mehr da sein werde, wenn das Kind kommt. Es ist ihm alles zu viel, sagt er.
ER (obwohl er ES wusste, waren die Worte aus ihrem Mund schwer zu ertragen und so beißt er sich mit abgewandten Kopf in die Unterlippe, sagt aber nichts)
Was folgt ist ein sehr langes Schweigen, aber kein Spannungsvolles. Es ist mittlerweile tiefe Nacht geworden und sie stehen immer noch auf dem Standstreifen. Der Verkehr rollt längst wieder zügig und so sieht ihr stehendes und dunkles Auto neben dem Lichterband traurig und verlassen aus.
Die Kamera ist abgestiegen von der Motorhaube und fährt ihre drei Beine soweit aus, dass sie den Wagen von oben betrachten kann. Wie ein dunkler Fremdkörper, ein Klotz, der wenn auch nicht behindernd, aber unnatürlich neben dem fließenden Band aussieht.
Plötzlich zuckt Blaulicht auf und die Kamera beobachtet von oben ein herannahendes Polizeifahrzeug. Es hält hinter den beiden und ein Polizist steigt aus. Langsam geht er auf den Wagen zu, schaut hinein und sagt etwas Unverständliches.
Die Kamera kurbelt sich wieder herunter und hört gerade noch, wie der Polizist sich verabschiedet und schafft es noch, auf der Rückbank Platz zu nehmen, denn die beiden sind aufgefordert worden, hier nicht länger den Verkehr zu behindern.
Vermutlich sieht der Polizist von einem Strafzettel ab, weil ER leichenblass zwar und zittrig auch, aber immerhin mit fester Stimme versichert, dass sie weder Drogen genommen hatten, noch sonstige Schwierigkeiten und ihre Fahrt gleich fortsetzen werden. Allerdings muss er versprechen, die nächste Raststätte anzufahren und sich auszuruhen.
Er lässt den Motor an, blinkt und die Kamera schaut solange nach vorn, bis das gleichmäßige Geräusch der Reifen auf dem Asphalt zu hören ist.
Endlich Bewegung, denkt die Kamera und hüpft hier und da vor Freude über eine Bodenwelle.
SIE (spricht unmittelbar in das Surren der Reifen hinein und sofort setzt sich die Kamera auf die linke Seite um sie von der Seite sehen zu können)
Was fangen wir jetzt an?
ER (ohne jede Ironie oder Verachtung)
Was soll denn noch anfangen. (in das Glitzern ihrer Augen hinein und nach einer Pause) Es ist doch alles kaputt gegangen.
Die Kamera filmt noch eine Weile sein stummes aber sprechendes Gesicht. Sein Kopf wackelt, nicht nur von der Bewegung des Fahrzeuges, sondern er scheint auch mit sich im Widerspruch, so als würde er mit sich selber, das eben gesagte bereden. Mehrmals geht sein Mund auf, aber ohne einen Ton hinauszulassen. Man kann sehen, dass er das nicht so stehen lassen will, aber etwas Vernehmbares zu sagen fällt ihm auch nicht ein.
Die Geräuschkulisse schwillt plötzlich an, weil sie das Fenster öffnet und sofort erobert sich ein wehender frischer Wind das Innere. Beider Haare fliegen wild um ihre Köpfe.
In diesen Sturm ruft SIE hinein
Ein Wunder müsste her.
(dieser Satz ist ein absoluter Kontrapunkt zu allem gesagten, optimistisch und wie eine in Sekundenschnelle gewachsene Rose auf Sandboden und er versteht ihn erst nicht wegen der Lautstärke, erschließt sich dann aber den Wortlaut.
Ein ganz leichtes Lächeln überfliegt sein Gesicht und es sieht so aus als würde er nicken. Oder war es eine Bodenwelle?
Die Kamera erblickt gerade noch rechtzeitig ein vorbei fliegendes Hinweisschild auf eine Raststätte, und einige Minuten später steht der Wagen wieder. Beide steigen aus und bemerken erst jetzt, dass sie wohl lange im Wagen gesessen haben müssen denn fast augenblicklich kamen die Schmerzen am ganzen Körper.
Was aber IHREN Blick ablenkte, was ihn scheinbar magisch anzog und nicht losließ und einige Zeit ungläubig bis vergnügt in eine Richtung starren ließ, was auch IHN erfasste, als sie ihn anstieß und seinem Blick die Richtung wies und auch er einige Zeit ungläubig starrte, und was auch die Kamera ungläubig und nur sehr zögerlich erfasste, war ein riesiger Parkplatz voller gleich aussehender Wagen. Weißer Wagen mit je einer großen roten Aufschrift. So wie es nun mal üblich ist bei einem Zirkus. Es muss ein großer Zirkus sein, denn es sind viele Wagen. An ihnen und um sie herum stehen und gehen Menschen, Zirkusleute vermutlich, die sich um ihre Sachen kümmern oder um die Tiere. Sie stehen beieinander, lachen und scherzen und alles sieht aus, als hätte sich eine große Streitmacht nach einer gewonnenen Schlacht nieder gelassen.
Die Kamera geht um beide herum, einmal 360 Grad wie sie beide auf diese Unwirkliche und nicht zu erwartende Szenerie schauen.
Beider Blick ist seltsam entrückt.)
Sie (löst sich abrupt vom Anblick des Gewimmels)
Ich muss pinkeln und einen Kaffee könnte ich auch gebrauchen.
ER (nickt nur und hat offenbar die gleichen Bedürfnisse)
Die Kamera bleibt draußen. Ihr gefällt das Gewusel und lebhafte Treiben der Zirkusleute, die den ganzen Parkplatz einnehmen. Artisten üben einige Ihrer Kunststücke im Freien zwischen spielenden Kindern, Frauen rufen aus den geöffneten Fenstern ihrer Wagen ihre Familien zum Essen und einige Leute werfen neugierige Blicke in die Stallwagen aus denen dann und wann das Gebrüll leibhaftiger Löwen zu ertönen scheint. Der begonnene Tag wird erleuchtet von einer roten Sonne, die verspricht aus dem Tag erneut einen goldgelben Zauber zu machen.
Da erblickt die Kamera einen Jungen der stumm und traurig vor einem Scherbenhaufen steht. Etwas ist ihm entglitten, nicht ganz klar was.
Eine alte Frau kommt langsam näher, er dreht sich zu ihr um und sagt: „ Oma, es ist kaputt.
Sie schaut ihn an, einen Moment und sehr gütig und sagt: „Ach wo, es ist nur in seine Einzelteile zerlegt.“
SIE und ER kommen vorbei, werfen einen Blick auf den Jungen, ohne gehört zu haben, was die Frau gesagt hat.
Sie steigen in den Wagen und im vorbei fahren erfasst die Kamera IHREN Blick auf die Szenerie und den Jungen, der immer noch vor den Scherben steht, seine Großmutter neben ihm.
Die Kamera schaut den beiden so lange nach, bis sie sich in den Verkehr einfädeln. Sie will nicht mehr mit. Sie bleibt bei dem Jungen, der sehr aufmerksam und vorsichtig alle Einzelteile aufsammelt.