Who's gonna drive you home tonight
"Ich denke, du hast genug."
Anne drehte sich ruckartig um. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Gerade er tauchte hier auf, hier in
ihrer Bar?
"Das geht dich nichts an." Ihr Blick schweifte ab, suchte in der Menge auf der Tanzfläche nach Marc, aber der war gerade beschäftigt. Wieder einmal. Gut, er war einer dieser von Gott begnadeten Tänzer, der sich mit den besten Partnerinnen auf der Fläche einlassen konnte. Schaute man ihm und seiner Partnerin zu, wusste man nicht, was heißer war: Die Musik oder das, was die beiden dort zeigten. Es war Erotik pur, fast wie Sex auf dem Tanzboden.
Wange an Wange glitten sie über das Parkett; sie hatte die Augen geschlossen und ließ sich von ihm führen. Vertrauensvoll, nahe. Und doch nicht ohne eigenen Willen, das zeigten die Figuren, in die er sie führte. Sie lockte mit jeder Faser ihres Körpers, drängte sich ihm entgegen, um im nächsten Moment scheinbar unerreichbar fern von ihm zu landen, strich sich über die ausladenden Hüften, hob den Fuß, nur Millimeter vom Boden, um ihn dann in quälender Langsamkeit auf ihn zuzubewegen. Jeder Mann im Raum hielt den Atem an, wünschte sich, dass sie sich schneller auf ihn zubewegte; auf ihn, ja, nicht auf Marc, mit dem sie doch tanzte. Sünde pur. Versuchung. Und Marc ließ sie gewähren, auf eine gelassene Art und Weise, die vermittelte: Spiel ruhig. Am Ende gehörst du doch mir.
Unvermittelt zog er sie wieder an sich heran, so perfekt getimed, dass sie noch nicht einmal ansatzweise ins Stolpern geriet. Reihenweise seufzten die Frauen innerlich auf. Nicht eine hielt damit zurück, dass sie nur ein einziges Mal in diesen Armen liegen wollte. Dieser Mann war muy masculino, so wie er sich dort präsentierte.
Dabei war Marc eigentlich gar nicht so. Marc war... ein Lausbub, wie ihre Mutter ihn genannt hätte. Immerzu lag ein schelmisches Lächeln in seinen Zügen und oft zog er Anne auf, forderte sie zu einem Wortgefecht heraus, bis sie beide nicht mehr aus dem Lachen herauskamen. Dann griff er nach ihr und kitzelte sie aus. Zumindest versuchte er es. Anne nämlich war eine der wenigen Frauen, die es geschafft hatten, sich gegen Kitzeleien unempfindlich zu machen. Dafür war ER verantwortlich. Dieser... Kerl, der nun neben ihr stand. Er hatte dafür gesorgt, dass sie sämtliche Gefühle unter Kontrolle halten konnte, wenn sie es nur wollte.
Einst hatte Anne für Alexander geschwärmt. Er war das, was Marc nur auf dem Tanzboden war: Männlich. Er war kein Sonnenschein, im Gegenteil. Sein Gesicht trug unglaublich markante Züge, die bisweilen eher hart wirkten. So hart, als bestünden sie aus Mamor, nicht aus weicher, warmer Haut. Als Geschäftspartner und jugendlicher Freund ihres Vaters ging er bei ihr zuhause ein und aus und Anne hatte seinen Anblick fast täglich ertragen müssen, bis sie endlich zu studieren begann und in eine Studenten-WG zog. Natürlich gegen den Willen ihres Vaters, der sie am liebsten bis zum Gang an den Traualtar behütet hätte wie einen unerschwinglichen Schatz.
"Du weckst den Südländer in deinem Vater", hatte ihre Mutter ihr oft genug gesagt, wenn sie ihr tröstend über den Rücken strich, weil Anne und ihr Vater wieder einmal aneinander geraten waren. Weil er sie nicht auf eine der Feten ließ, bei der alle coolen Leute ihrer Klasse zu finden waren. Oder weil er ihr den Umgang mit einem Jungen verbot, der seiner Ansicht nach nichts Gutes mit ihr im Sinn hatte. "Er will dich beschützen und vor Verletzungen bewahren, Anne. Schließlich bist du seine einzige Tochter."
In solchen Momenten war Anne stets zerrissen. Einerseits hasste sie ihren Vater, weil er ihr so vieles verbot, ihr die unbeschwerte Jugend versaute, die alle anderen Kids auf ihrer Schule leben durften. Andererseits riefen die Äußerungen ihrer Mutter ein Schuldgefühl hervor, denn sie wusste ja, dass er sie über alles liebte und Angst um sie hatte. Liebe und Wut, Geborgenheit und Freiheitsdrang lieferten sich dann in ihrem Inneren ein mächtiges Gefecht und nicht immer gewann die Liebe.
Es wurde besser, als sie zu studieren begann und in einer Studenten-WG unterkam. Jetzt, da er nicht mehr alles mitbekam, begriff Anne schnell, dass seine Befürchtungen nicht zu Unrecht bestanden hatten. Andererseits lernte sie nun endlich, mit heiklen Situationen umzugehen. Besser als zu dem Zeitpunkt, als sie diesen...
Mensch da neben sich angehimmelt hatte.
Anne war schon immer ein hübsches, zartes Ding gewesen. Schüchtern zwar, weil ihr - dank des Beschützerwahns ihres Vaters - die Möglichkeiten gefehlt hatten, sich auszuprobieren. Aber dennoch verfügte sie über Reize, die so manchen jungen Mann dazu brachte, sie lange Zeit anzustarren. Bis dieser irgendwann bemerkte, dass sie so viel Persönlichkeit hatte wie ein Brötchen.
"Wie ein Brötchen, wenn ich es Dir doch sage. Und dann quiekt sie permanent wie ein kleines Ferkel, wenn etwas passiert, mit dem sie nicht umgehen kann. Du musst ihr mehr Freiheit lassen, Karl."
"Sie ist siebzehn, nicht siebenundvierzig, Al. Sie wird sich entwickeln, wenn sie mehr Erfahrung hat." Ihr Vater nannte Alexander immer Al, etwas, was ihn in Annes Augen noch cooler wirken ließ. Das aber war ihr im Moment völlig gleich, denn das, was sie da hörte, brach ihrer Seele gerade das Genick. Oder ihrem Herzen? Nein, so kitschig wollte sie nicht sein... Nur mühsam unterdrückte sie ein schmerzerfülltes Keuchen, um noch weiter zu lauschen, welche Meinung Alexander über sie hatte.
"Wenn Du nicht aufpasst, wird sie mit 77 Jahren noch ein kieksendes, unbeherrschtes Püppchen sein, das gerade mal dazu taugt, an dem Arm irgendeines Tölpels zu hängen! Betrachte sie doch mal. Beobachte sie. Sie ist nicht charmant naiv, sie ist... nervig. Aufdringlich, wo Distanz gut wäre. Klugscheißend, wenn Empathie angebracht wäre. Zu mitteilsam. Himmel, sie würde jedem noch genau die Phasen ihrer Periode genauestens erklären, wenn nicht automatisch alle Flucht vor ihr ergreifen würden!"
Anne hörte nur das harte Klacken, mit dem ein Glas abgestellt wurde. "Nun mach aber mal einen Punkt, Al!"
"Nein, mache ich nicht. Du hast sie zu einer Prinzessin gemacht, zu deiner Prinzessin. Aber ohne ihr Benehmen beizubringen. Ein bisschen mehr... Zurückhaltung würde ihr gut zu Gesicht stehen. Und Menschen, die nicht deine Tochter in ihr sehen und sie daher hofieren und in Watte packen. Sondern Menschen, die sie als ihresgleichen ansehen und ihr sagen, wenn sie nervt. Wann sie die Klappe halten soll. Wann ihre Miene genau wiederspiegelt, was in ihrem kleinen Köpfchen vor sich geht. Lass sie stolpern, Karl. Lass sie auch mal hinfallen. Nur so wird sie.. nunja, zumindest erwachsen."
Mehr hatte Anne damals nicht gehört. Sie hatte sich fortgeschlichen und sich die Augen aus dem Kopf geweint. So also sah er sie! Als verzogene Prinzessin ohne eigene Persönlichkeit! Und sie hatte gedacht, dass er sie mochte. Dass er sie faszinierend fand. Sie hatte sich erträumt, dass...
Nunja. Ihr Vater hatte öfter mal angedeutet, dass sie ein tolles Paar abgeben würden. Alex war deutlich jünger als ihr Vater und war nur zu seinem Partner geworden, weil er die Firma seiner Eltern in frühen Jahren übernommen hatte. Für ihren Vater war dies die naheliegendste Lösung: Anne wäre "versorgt" und für seine Firma hätte er einen perfekten Nachfolger.
Doch so kam es nicht.
Nach dem Gespräch, das sie belauscht hatte, ging sie Alexander aus dem Weg. Aber sie beschloss auch, dass es Zeit war, etwas zu ändern. Sie rebellierte häufiger, bestand darauf, mehr mit ihrer Clique zu unternehmen. Es wurde leichter, da auch ihre Mutter der Ansicht war, dass Anne mehr Zeit mit Gleichaltrigen verbringen musste. Nach dem Abitur zog Anne dann aus und fing noch einmal ganz von vorne an. Freunde kennenlernen. Menschen begegnen. Oft stolperte sie, oft fiel sie hin. Aber sie biss sich durch, und nun, nach drei Jahren Unabhängigkeit, konnte sie mit Recht von sich behaupten, dass sie wusste, wer ein Freund war und wer ihr nur nach dem Mund redete.
Heute waren sie hier um zu feiern. Jonas hatte einen Werbevertrag für seinen Blog bekommen. Schon seit Jahren fasste er Tipps für Schüler und Studierende zusammen. Wie man leichter lernen konnte. Wo man günstig einkaufen konnte. Welche Prozesse unterschwellig in Klassenzimmern abliefen, wie man sich diese zunutze machen konnte. Nun sollte ein Buch daraus entstehen, und weil sich alle mit Jonas freuten, waren sie nach einem ausgiebigen Abendessen hier gelandet.
Natürlich hatte Anne etwas getrunken. Das hatten sie alle. Und sie hatte geflirtet, auf Teufel komm raus. Seit sie in der Bodega, Annes Lieblingsbar, eingetoffen waren, warf sie sich mit einem der Männer dort drüben heiße Blicke zu. Ein gutaussehender Mann, schätzungsweise Anfang 40. Sein Interesse an ihr, der jungen Studentin, hatte ihr geschmeichelt. Und ja, die Blicke, mit denen er versuchte, unter ihr Kleid zu gelangen, machten sie an.
Aber was ging das Alexander an? Er war... nichts! Nichts für sie. Ein arroganter, selbstherrlicher Kerl, der kein Interesse an ihr hatte. Und sie hatte nicht vor, ihm zu gestatten, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen.
"Ich wünsche dir noch einen... angenehmen Abend,
Al." Bewusst benutzte sie die Kurzform, die auch ihr Vater verwendete. Langsam blickte sie ihn an, ließ ihren Blick über ihn wandern. Von oben nach unten, dann wieder hoch in sein Gesicht. Sein Blick ruhte auf ihr, finster wie eine verlassene Straßenecke in einer NoGo-Area. Doch Anne hatte gelernt, ihre Emotionen unter Verschluss zu halten. Elegant rutschte sie von dem Barhocker herunter und schlenderte auf den gutaussehenden Fremden zu.
Sie hatte nicht mit Alexanders Reaktion gerechnet: Noch ehe sie zwei Schritte gehen konnte, schloss sich seine Hand um ihren Ellbogen und er zog sie mit sich, auf den Ausgang zu.
"Du benimmst dich nicht nur dezent daneben. Hast du denn immer noch nichts dazu gelernt, Prinzessin?" Nicht nur die Frechheit, mit der er sie wie selbstverständlich aus der Bar hinauskomplimentieren wollte, regte sie maßlos auf. Auch die Anrede brachte sie in Rage. Augenblicklich blieb sie stehen und schrie ihn an.
"Lass mich los, du Rüpel! Hilfe!"
Schnell standen die Securityguards der Bodega bei ihnen und zogen Alexander von Anne weg. "Was geht hier vor? Belästigt dieser Mann Sie?", wollte der größere der Beiden wissen. Augenscheinlich war er der Chef der Sicherheitsleute.
Bevor Anne noch ein Wort herausbringen konnte, lenkte Alexander die Aufmerksamkeit auf sich. "Die junge Dame ist die Tochter eines Geschäftspartners von mir und offensichtlich angetrunken. Ich wollte lediglich dafür sorgen, dass sie nach Hause kommt, bevor ihr etwas Unangenehmes passiert." Schnell zückte er seine Geldklammer und hielt dem Mann ein paar Geldscheine hin. "Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, aber es ist alles in Ordnung."
Anne riss die Augen weit auf. "Das ist nicht Ihr Ernst! Ich bin weder betrunken noch möchte ich von diesem... ", sie machte absichtlich eine Pause, bevor sie abschätzig fortfuhr, "Gentleman nach Hause gebracht werden. Meine Freunde und ich feiern hier einen angenehmen Anlass und dieser Herr hier hat in keinster Weise die Kompetenz, sich in mein Leben einzumischen, weder öffentlich noch privat!"
Zweifelnd schaute der Mann vom Sicherheitsdienst von Alexander zu Anne. Das brachte sie noch mehr auf.
"Sollte ich nun auch meine Geldbörse öffnen um Ihnen deutlich zu machen, dass die Rechtslage eindeutig ist? Dieser Mann handelt gegen meinen Willen, und das ist, wie sie sicherlich wissen, gesetzeswidrig. Wieviel hat er ihnen gegeben, damit Ihnen das entfallen konnte?"
Inzwischen hatten sie die Aufmerksamkeit fast aller Barbesucher auf sich gezogen. Anne sah, wie Marc seiner Tanzpartnerin etwas zuflüsterte und sich auf den Weg zu ihr machte. Das hob ihr Selbstbewusstsein noch ein Stück weiter.
"Kann ich nun zurück an die Bar oder besteht hier noch weiterer
Klärungsbedarf?" Der spöttische Unterton sowie ihre souveräne Haltung bewies dem Securityguard scheinbar, dass sie nicht so betrunken war, wie Alexander ihm hatte vormachen wollen, denn er begann den Kopf zu schütteln und setzte gerade zu einer Entschuldigung an, als dieser miese Kerl noch einmal nachsetzte.
"Der jungen Dame sollte auch bewusst sein, dass Ihr Etablissement eine gewisse Fürsorgepflicht gegenüber seinen Besuchern hat. Volltrunkene Mädchen sollten doch sicherlich nicht in Ihrem Sinne sein, oder?"
"Was erlaubst du dir eigentlich!" Anne war entsetzt über die Art, wie er über sie sprach.
"Persönlichkeit wie ein Brötchen".... " Aufdringlich, wo Distanz gut wäre"... Während die Worte, die er seinerzeit schon über sie abgelassen hatte, in ihrem Kopf die Überhand nahmen, erhob sie die Hand. Sie wollte ihm eine saftige Ohrfeige geben, so, wie er sie ihrer Ansicht nach verdient hatte.
Eine andere Hand ergriff die ihre. Sanft, unerbittlich. Ein Kuss aus warmen Lippen berührte die Haut an ihrem Handgelenk. Ein warmer Hauch glitt über ihren Nacken, während seine Stimme ihr zuraunte: "Lass den alten Mann. Wir wollten uns doch hier vergnügen, oder?"
Marc. Ihre Wut fiel in sich zusammen, ihre Anspannung löste sich. Sein sanfter Kuss, der diese kleine Stelle hinter ihrem Ohr berührte, lenkte sie noch weiter ab und sie ließ sich von Marc zur Tanzfläche führen. Nur mit einem halben Ohr bekam sie mit, wie er noch zu den Guards sagte: "Ich denke, das hier ist ein Missverständnis. Meine Freundin ist weder volltrunken noch ohne Schutz oder Fürsorge. Können Sie nun dafür sorgen, dass dieser Mann hier sie nicht weiter belästigt?"
Und noch immer konnte dieser Kerl nicht aufgeben. "Den Schutz habe ich gesehen", grollte er. "Und wer fährt sie nachher nach Hause?"
"Das mache ich", erwiderte Marc bestimmt.
"Wer sind sie überhaupt? Einer von diesen kleinen, mittellosen Studenten, die sich noch die Hörner abstoßen wollen?" Die Security schien Alexander zum Ausgang zu drängen, denn seine Stimme klang wie ein Ruf, wurde aber leiser.
Anne drehte sich um.
"Ja, Alexander.", sagte sie. Laut, selbstbewusst. Völlig mit sich im Reinen. "Ich fahre lieber mit dem mittellosen Mark in seinem schäbigen kleinen Golf und stoße mir mit ihm die Hörner ab, als dass ich mich in deine spießige Limousine mit Fahrer verfrachten lasse. Und nun verschwinde endlich!"
Zu den Klängen von "The Cars" tanzten Marc und Anne engumschlungen, was allen deutlich machte, dass tatsächlich Marc sie heimfahren würde.
"Schäbiger, kleiner Golf, hm?" Er brummte amüsiert.
Sie kicherte. "Er muss ja nicht wissen, dass wir mit dem Fahrrad da sind..."