Zukunft und Vergangenheit
„Vater, was soll ich nur tun?“Der alte, gramgebeugte Mann wandte sich seinem Sohn zu. Seine Augen waren seltsam. Wach, aber dennoch ruhig. Der Blick war starr, in die Ferne gerichtet. „Ensan no metsuke“ nennen es die Japaner. Die Amerikaner nennen es: Das tausend Yard-starren. Das bekommt man nur, wenn man die Hölle gesehen hat. Arthur hatte sie gesehen. Mehrfach. Aber wie sollte er das seinem Sohn erklären, der den Krieg nicht kennt? Er ist in der Welt danach aufgewachsen.
„Du musst einen Samurai suchen, Sohn.“
„Die sind ausgestorben, Vater. Das weißt du doch!“ Der letzte Satz war eher ein Tadel.
„Glaubst du das? Oder ist es bequemer, den Sender zu hören und es anzunehmen?“
Es gab nur noch einen Fernsehsender. Keinen Radiosender, keine Zeitung, Schulen nur noch für Gewaltenträger. Sehen heißt glauben. David interessierte das nicht, denn er wusste nicht, wie es war, wenn man den Sendersuchlauf startete und mehr als 2000 Stationen sortieren durfte, er wusste nicht, was ein Rocksender war, er wusste nicht, was „Playboy“ war. Aber das ist ungefähr derselbe Konflikt wie der, als Arthurs Vater ihm zu erklären versuchte, dass es nachts im TV ein Testbild gab. Alles vergangen, verloren, vergessen.
„Vater, ich bin in Schwierigkeiten, bitte…“, drängte David. Ein vollkommen durchschnittlicher Kaukasier. Einen Mieter siebzig hoch, schlaksige Figur, blond und Frisur Nummer sechs für Jungmänner, nördlicher Äquator ohne Migrationshintergrund, Single ohne Partnerschaftserlaubnis, k.g.v.Z.n.V. Die Abkürzungen würden Arthur eines Tages umbringen. kagevauzettenVau. Komplette Gliedmaßen, vollständige Zähne, keine Vorstrafen. Keinerlei Muskeln, so wie die jungen Leute in Arthurs Zeit. Kampfsport, Rugby, Fußball, Autorennen, was waren das für Zeiten. Heute war alles verboten. Es war keine politische Synkope, keine fixe Idee und kein übereifriger Beamter, der das veranlasst hatte. Es war das System. Und jetzt stellte sein Sohn, der Magerling, fest, dass er einen Nylonfetisch sein Eigen nannte. Nylonfetisch! Damals, in den Zeiten des freien Internets waren die Fetischisten gesellschaftlich akzeptiert, wie Schwule, Lesben, Swinger, Sadomasochisten. Weil durch das Netz jeder von allen zu jeder Zeit jeden Mist erfahren konnte und jeder mit jedem verbunden war. Der Tidenhub der Freiheit wurde aber allmählich gefährlich. Und dann kam der Wandel. Aber wie sollte er seinem Sohn das erklären? Er glaubte nur, was der staatliche Sender an Informationen verteilte. Sehen heißt glauben.
Jetzt saßen sie hier in der Standard-Wohnung, mit einer Standard-Küche. Mehr wurde ihnen nicht zugeteilt. Und solange David sich nicht mit Hochzeitsgedanken trug, würde es so bleiben. Früher, zu sportlicheren Zeiten, nannte man das Abseits. Aber auch das konnte er David nicht erklären. Für ihn gilt: Sehen ist glauben.
„David.“
„Vater.“
„Schließ die Augen.“
„Warum?“
„Tu es einfach.“ David schloss die Augen. Stirnrunzelnd und widerwillig. Arthur stand auf und löschte das Licht, nachdem er sich die alte Taschenlampe und ein Frühstücksmesser genommen hatte. Er tastete sich zurück zu seinem Stuhl, stellte sich aber daneben, so dass er hinter David stand. Er machte die Lampe an. Ein handtellergroßer Lichtfleck erschien auf der abgenutzten Küchentür.
„Jetzt mach die Augen auf.“, sagte Arthur ruhig. Er bewegte die Lampe in unregelmäßigen, kleinen Kreisen, so dass auf der Tür wirre Muster erschienen, beinahe wie eine Häkelei.
„Was siehst du, David?“
„Licht. Muster. Wolken.“
„Das siehst du?“
„Ja.“
Arthur bewegte die Lampe jetzt so, dass man die Form eines Herzens erahnen konnte.
„Und jetzt?“
„Ein Herz?“
„Wofür steht das Herz, David?“
„Für Lebensrettung, Transplantation. Organspende.“
„Und früher?“
„Liebe?“
„Und das ist falsch. Schau!“, sagte Arthur und beleuchtete sich selbst mit der Lampe. David sah das drohende Messer dort, wo eben noch sein Genick war.
„Sehen heißt NICHT glauben, David. Je bunter und eindringlicher die Show, desto bedrohlicher das, das dahinter steckt.“
David war beeindruckt. Und recht blass geworden.
„Okay, erzähls mir.“, sagte er tonlos. Hätten Töne Farben, wären seine Worte eher gräulich gefärbt.
„Pass auf, Sohn, das war so. Es gab eine Zeit, die nannte man den „kalten Krieg“. Zwei Großmächte standen sich feindselig gegenüber und es war so manches Mal kurz davor, dass eine atomare Katastrophe geschehen würde. Gottseidank waren die Leute damals ängstlich genug vor einem Holocaust nuklearer Ausmaße. Dann kam ein Mann, ein Russe, Gorbatschow, und riss die Mauern nieder. Freiheit war ab sofort oberstes Gebot. Man konnte reisen, frei reden, frei glauben, in jede Kirche gehen, in die man wollte. Man konnte öffentlich lieben, frei seinen Partner wählen, aber ach, was sage ich? Mit Gorbatschow wurde die Welt heller, freier, besser. Ich hatte damals Hoffnung, Sohn, weißt du? Ich liebte das Leben.“
„Und was ist passiert?“, fragte David. Natürlich konnte er das nicht wissen, weil Geschichte in den Computerunterrichts-Zentren nicht mehr gelehrt wurde.
„Wie immer im Leben, wie seit Urzeiten, gibt es immer mehrere Lager. Die einen wollen dies, die anderen das und beide sind davon überzeugt, dass ihre Lehre die Richtige sei. Europa wurde vereint. Und sogar erweitert. Das geschah, wenn ich darüber nachdenke, zu schnell. Die östlichen Länder schlüpften, obschon für die europäische Idee noch nicht bereit, unter die finanzielle Decke des Kapitalismus. Und sehr lange geschah nicht viel. Die Grenzen wurden geöffnet, man konnte noch weiter reisen, noch mehr erfahren, noch freier sein. Aber diese Freiheit war trügerisch.“
„Weil?“, David war nun im Bann der Geschichte.
„Weil wir dummen Menschen dazu neigen, unseren aktuellen Habitus als Normalzustand anzusehen, nicht als Geschenk. Und wenn man etwas hat, egal ob etwas Materielles oder einen Wohlstands-Status, möchte man ihm anhaften und behalten. Käme jemand, dem man etwas davon abgeben müsste, wäre das automatisch ein Feind. Ein Feind des Zustandes, des Wohlstandes, des Habitus.“
„Aber Vater, zu teilen ist doch heute an der Tagesordnung.“
„Ja, das stimmt, Sohn. Aber wir haben ja nicht viel. Früher gab es freie Wahl der Wohnung. Wenn du sie bezahlen konntest. Du konntest dir Autos kaufen und…“
„Was?“
„Autos. Individualfahrzeuge. Manche hatten über 1000 PS und kosteten so viel wie 2 Häuser.“
„Was ist ein PS?“
Sinnlos. Arthur beschloss, auf den Punkt zu kommen.
„Egal. Die Freiheit der Leute war damals auf Sand gebaut. Europa, Amerika, alle „reichen“ Länder hatten die ärmeren Länder jahrelang ausgebeutet. Bekamen sie nicht freiwillig, was sie haben wollten, stifteten sie Unfrieden zwischen verschiedenen Gruppen, lieferten Waffen an beide Parteien und brauchten nur zu warten, bis sie sich gegenseitig ausgerottet hatten oder so geschwächt waren, dass sie jeden Mist unterschrieben haben, nur um nicht weiter Hunger zu leiden, während sich zuhause die Leute die Wänste vollschlugen. Aber nicht alle Menschen tolerierten das. Es erhob sich zaghaft, aber immer mehr Widerstand. Die Machenschaften der Politiker wurden immer offenbarer. Somit wurde die Freiheit für die da oben allmählich gefährlich. Merke dir eines, Sohn. Sehen heißt glauben ist falsch. Wissen ist Macht heißt die Parole. Jedenfalls wurde man sich in den obersten Etagen darüber klar, dass man in Zeiten des Informationsflusses und der Freiheit nicht einfach machen konnte, was man wollte und beschloss, etwas dagegen zu tun. Es war der Wille zur Macht 2018, irgendein vollkommen verblödetes Konsortium an Politikern in der deutschen Regionalzone ging eine Koalition ein. Nicht, dass wir uns falsch verstehen, Sohn, nicht weil sie gemeinsame politische Ziele hatten. Sie wollten nur ihre Macht nicht abgeben. Sie verkauften ihre Allianz als Einigkeit und wurden gewählt. Kurz darauf kam so ein Idiot auf die Idee, dass seine vor der Wahl postulierten Ziele die einzig wahren seien und er setzte nicht nur die eigene Regierung unter Druck, sondern gleich ganz Europa.“
„Aber das heißt ja, dass er gelogen hat!“
„Ja, Sohn. Lügen und betrügen war und ist eine Berufsvoraussetzung der Politiker.“
David machte ein prustendes Geräusch. Ganz offenbar glaubte er kein Wort.
„Weißt du, es war längst zu spät. Weißt du, was Menschen machen, die Waffen bekommen?“
„Sie benutzen sie?“
„Ganz genau. Und das verursacht Tod, Verdammnis, Armut. In den Kriegsgebieten wurden die Leute zu Tode gehungert und das Ergebnis war, dass all diese armen Menschen keine andere Möglichkeit mehr sahen, ihr geliebtes Land zu verlassen. Aber Überleben war eben wichtiger. Und für so eine Entscheidung gehört eine verdammte Mischung aus Angst, Verzweiflung und Mut.“
„Und was ist passiert?“
„Sie sind geflohen, Sohn.“
„Und wohin?“
„Na frag dich das selbst. Du bist verzweifelt, auf dich und deine Kinder wird geschossen, wohin gehst du? Ins Nachbarland, in dem der alte Klassenfeind wohnt und der dich hasst, ins andere Nachbarland, das gerade zu einer Diktatur umgebaut wird, und wo es nicht wesentlich besser ist als zuhause oder willst du nach Shakaree? Oder Vuortafuor, oder ins gelobte Land?“
„Auf jeden Fall erst einmal dahin, wo nicht geschossen wird.“
„Genau. Die Menschen machten sich auf eine epische Reise. Erst über das Mittelmeer, auf Barkassen, die nur von Papier und Spucke zusammen gehalten wurden und viele kamen um. Dann marschierten sie mit ihren wenigen Habseligkeiten dreitausend Kilometer über Land. Sie überwanden den Hunger, die Verzweiflung, Flüsse, Berge. Und sie kamen zu uns. In das Land, wo damals jeder so viel hatte, selbst die Ärmsten, dass das in den Kriegsländern wahrer Luxus war. Wir hatten damals so viel, dass wir zwei Drittel hätten teilen können, ohne ärmer geworden zu sein. Und haben wir das getan?“
„Wohl kaum, Vater.“
„Richtig. Die, die am meisten hatten, wollten nicht teilen. Eine Gegenströmung setzte ein und die armen Menschen, die gerade noch Kriegsflüchtlinge waren, wurden beschimpft als Diebe, Gesindel und Verbrecher. Gut, ein paar von den Kollegen waren wilde Typen und ihr Frauenbild skurril bis unterirdisch, aber die meisten der Leute waren guten Herzens. Dennoch wurde die Stimmung schlechter und kippte schließlich um. Europa wurde zur Festung. Niemand kam herein und bewaffnete Kriegsschiffe sicherten die Grenzen zu Wasser, Panzer an Land. Alles wurde wieder härter, unmenschlicher. Und die Gegenstimmen standen auf, es kam zum Bürgerkrieg. Und heute ist alles kaputt. Der Staat kontrolliert alles, zugleich wurde alle Religionen abgeschafft und verboten. Weil es nie wieder passieren darf, dass denkende Menschen barmherzige Gefühle entwickeln. Und somit ist die Macht derer da oben auf Ewig zementiert. Nur die Samurai, die einen festen Kodex leben und vertreten haben Gnade vor dem Verbot gefunden. Verstehst du jetzt, Sohn?“
„Ja, Vater. Ich habe verstanden. Ich habe verstanden, dass es besser gewesen wäre, die Kriegsflüchtlinge wären zuhause geblieben, dann hätten wir alles noch so, wie es war.“
Arthur erstarrte. Sein Inneres gefror zu einem massiven Eisblock. Er hatte versagt. Seine Geschichte hatte genau das Gegenteil bewirkt. Innerlich tot stand Arthur auf und ging zu seinem Sohn, der ihn verständnislos ansah. Arthur legte seine alte Hand auf Davids Wange.
„Ich zitiere einen alten Freund, David. Merke es dir gut: Lebe lang und in Frieden.“
Arthur drehte sich um, öffnete das Fenster und sprang.