Der Lego-Bagger
Der Lego-Bagger
Ja, der kleine Ben hatte mich kalt erwischt. Zwei Jahre ist das nun her. Ich hatte Kinderhütedienst inklusive Schulabholung. Bei Ben und mir artete das immer aus.
„Weißt du, Tom“, sagte er nachdenklich, „ich bin Vegetarier.“
„Weißt du“ war vor zwei Jahren der Standard-Satzbeginn der erstklässlerischen Klugscheißerfraktion.
„Du heroischer Held, du“, antwortete ich, „rettest pro Minute fünfzehn Tiere, was?“
Wenn der Ben, seine Eltern nannten ihn „Bär“, wenngleich er so rein garnichts bärisches an sich hatte, nicht recht wusste, was er antworten sollte, setzte er sein „Ich weiß nicht, was du von mir willst, aber ich lächle es weg“-Lächeln auf.
„Jaa…“, kam es zögerlich.
„Und jetzt Ben-Bär? Frittentempel?“
„Jaaaaaaaaaaaaaa!“, schon war Begeisterung. Wie gut, dass der Frittentempel (übrigens der Einzige im Ort) nur zwei Minuten entfernt war. Ich hasse die Bude. Es begann grundsätzlich mit dem Geruch. Odeur de Schabrack, gemixt mit Chanel Nummer: Altes Fett. Wohlgeruch geht anders. Dann die Fritten. Der talentfreie „Koch“, also auf Neudeutsch: Der „Pommesschubser“ könnte, wenn er denn wollte und seine Untat einsehen täterätäte, die Fritten nur zwei Sekunden länger abschütteln und so seinen Kunden 200% mehr Gesundheit bieten. So aber kam immer ein ganzer Schwall Frittenfett mit in die Salzkiste, so dass sich am Rande eine Melange aus Salz und Fett bildete, das gegen Abend immer beinahe kunstvolle Figuren bildete. Aber ich bin ja tolerant. Ben zuliebe. Der Burschi kann ja nichts dafür. Ben durfte, meine griesgrämigen Blicke auf die Fritte ignorierend, als erster bestellen.
„Eine Bratwurst, bitte“, hörte ich und konnte es nicht lassen.
„Vegetarier, he?“
„Ja!“
„Du weißt schon, dass Bratwurst vorher Oink Oink gemacht hat?“
„Ja klar.“
„Aber dann bist du kein Vegetarier.“
„Doch. Bratwurst esse ich ja nur zwei oder dreimal die Woche.“ Kinderlogik.
„Ach, Bär, du solltest dir überlegen, ob du lieber ein Gelegenheitsvegetarier oder ein Gelegenheitscarnivore sein möchtest.“
„Warum?“
„Hat mit Glaubwürdigkeit zu tun. Du kommst schon noch dahinter.“
„Was ist ein Karno… Carni…“
„…vore. Das Gegenteil eines Vegetariers. Isst Fleisch. Vorwiegend.“
„So wie du!“
„Genau“, lachte ich.
Derweil sah ich mir die „Speisekarte“ an, die ein bunt bemaltes Brett in Rot und Weiß mit von Fettdämpfen gelben Rändern über den Frittenbecken war. Nullachtfuffzehn-Standardkulinarik. Okay okay, ich gebe zu, manchmal nasche ich am Feigenbaum der Erkenntnis und hüpfe nackt und wissensdurstig am Flussufer der beginnenden Schizofrenie entlang und schreie: „Die Russen kommen, die Russen kommen!“, woraufhin Oma Klawitter von nebenan direkt alle Lichter löscht und die Jalousien herunter lässt. In diesem Zustand habe ich auch Lust auf Pommesbude. Sonst eher... nicht.
Das „Essen“ kam. Ich hasste es. Ein gewachstes Pappschälchen mit fettigen Fritten und einem dieser Plastikspicker, die, will man vor lauter Hunger gleich zwei der Kartoffelstäbchen aufspießen, grundsätzlich zerbrechen. Neben der Schale lagen wieder zwei Plastikdinger. Kleine Tütchen, eines Zartgelb, das andere Rot. Mayo aus der Tüte, unglaublich. Und die Wurst. Röstaromen sind bei Bratwurst Pflicht, aber das Ding sah aus, als hätte ein verblödeter amerikanischer Feuerwehrmann in Pennsylvania einen fetten Tausendfüßler aus den Flammen eines Waldbrandinfernos gezogen.
„Mit Senf?“, fragte der Starkoch.
„Ja, bitte.“ Man bleibt ja freundlich. Der nächste Schock. Nein, Doppelschock. Der Bocuse de Fett schnappte sich das ebenfalls auf einem Papp-Parafin-Dingsbums ruhende Würstchen und zwecks Transportsicherung bappte er seinen fettigen Daumen direkt auf die Wurst! Aua. Als ob es das Normalste der Welt wäre, drehte er sich zu einem grünlichen Eimer herum, auf dem „Kühne“ stand. Auf dem Eimer war eine Apparatur angebracht mit einer Art Hahn und einem Hebel, an dessen Ende eine große, tellerförmige Verbreiterung war. Schlau, wie ich war, dachte ich mir, dass das aus hygienischer Sicht bestimmt eine gute Idee wäre, das mit der Verbreiterung. Dann braucht man seine Drecksbratzen mit Abertrilliarden Bakterien nicht wieder und wieder impfen und kann den Hebel, wie bei OPs üblich, mit dem bakterienfreien Unterarm bedienen. Gute Sache, das. Aber letztendlich nützt es nichts. Bokühsenpaule hielt die Wurst unter den Hahn und drückte auf den Hebel, nachdem er seinen fetten Daumen von meiner Wurst nahm. Am Ende des Hahnes sollte sich nun ein dicker Spritzer Senf auf meine Wurst ergießen und ich hoffte auf eine gewisse desinfizierende Wirkung der ätherischen Öle, aber es kam nur ein wirrer, fast willkürlich scheinender „Pfffft“ heraus und verteilte sich nur zu 10% auf der Wurst. Der Rest ging woanders hin, Hauptsächlich auf das weiße Shirt von Bohküsenpaule.
„Scheiße“, war zu hören und bei dem Versuch, den Senf abzuwischen, verteilte er ihn kunstvoll von der Brustwarze bis zum Bauchnabel. Das mag wohl daran liegen, dass, wenn man Abends den Laden schließt, sich tunlichst um Hygiene bemühen sollte, was eine gründliche Reinigung des Senfauslaufes beinhaltet. Aber nicht bei Paule. Ich vermutete, er hielt sich für einen Künstler und Kunst darf bekanntlich alles. Und es war Kunst. Der seit vielen Tagen über Nacht verhärtete Senf am Auslauf verschloss ihn jede Nacht unter Ausbildung bizarrer Formen ein wenig mehr und vermutlich würde dieser Zustand erst aufhören, wenn der Eimer leer wäre.
Frustriert und ein wenig angeekelt trug ich die „Speisen“ an einen der freien Stehtische. Nachdem ich die Speisereste, bestehen aus Ketchupklecksen, Mayotropfen und den verbrannten Enden einiger weniger Fritten angeekelt mittels einer Serviette vom Tisch gewischt hatte, ging das auch. Ich musste mich ablenken.
„Bär, morgen hole ich dich wieder ab, stimmts?“
„Jaaa“, strahlte er.
„Wollen wir morgen etwas zusammen kochen? Ich meine, etwas gesundes, frisches, ehrliches, was meinste?“
„Klar! Darf ich mir was wünschen?“
„Logo.“
„Bolognese! Mein Lieblingsessen!“ Soviel zum Vegetarier.
„Du Tom…“, ohoh, den Ton kannte ich, „ich habe noch Nageltaler!“
„Was macht der Bengel im Puff!!!“, dachte ich. Aber „Nagel“ war der Name des örtlichen Spielwarenladens und die gaben so genannte Nageltaler aus. Ein beliebtes Geschenk zu allen möglichen Gelegenheiten. Und überaus schlau. Denn geldwerte Nageltaler kann man nur bei Nagel ausgeben und nicht zur Konkurrenz tragen. Diese Pfiffikusse!
Also ab zu Nagel. Es wurde: Na klar: Lego. Ein Schaufelbagger. Zuhause kam das obligatorische Zusammenbauen. Als der Bagger fertig war, sahen wir uns gleichzeitig an und schüttelten synchron den Kopf, die Augen gen Himmel verdrehend und sagten unisono: „Langweiliiiig!“
Das machen wir immer so. Also ratzfatz die Legokisten raus, den Bagger zerlegt und der Phantasie freien Lauf gelassen.
Bagger, pfffffft! Lächerlich! Dieser "Bagger" steht seit zwei Jahren in der Vitrine. DEN Stunt bekommen wir so schnell nicht wieder hin...